Nr. 1
JUGEND
O
1900
ZubeUesr der Ilrrebse
Von Hermann v. Lingg
Flüchtig zieh'n zurück seit Stunden
Sich die Schnecken in ihr Haus,
weil wir he im kerngesunden
Rückwärtsgehen überwunden,
Krebse, kommt zum Siegesschmausl
Fortschritt ist uns ungelegen,
Denn wofür auch vorwärts geh'n?
Hinterher erst kommt der Segen.
Anstoß wird man nicht erregen,
Hat man rückwärts erst geseh'n.
vor uns liegt des Ungewisse,
Hinter uns das stch're Glück,
vor uns sind die Hindernisse,
Droh'n der Reue Schlangenbisse.
Darum, Freunde, nur zurück!
Aus den Höh'n mit Zlammenspuren
Fiel zerschmettert der Titan,
wir mit unfern sichern Fuhren
Bei den paradiesessiuren
Kommen wir noch endlich an.
wenn die Ströme rückwärts flößen,
Würden sie zum reinen ClueU,
Statt daß sich in sie ergößen
Allerhand fatale Größen,
Und sie blieben klar und hell.
Resseln her, bekränzt die Pforte!
Schwingt die Scheeren zum Applaus!
Fort mit jedem freien Worte!
Auf den Rückschritt jeder Sorte
Bringt ein Hoch nach rückwärts aus!
^00
Die guten Vorsätze
Drei Lustspielscenen aus der Lylvesternacht
von Raoul Auernheimer
I.
Das (Norzenroth
Arbeitszimmer des Grafen Gallenbrück.
^ Die Vorhänge neben dem Schreibtisch sind
zusammengezogen. Die Studierlampe ist ange-
zündet und gießt ihr mildes Licht über den
eleganten Schreibtisch des Parlamentariers. Es
ist der letzte Abend des scheidenden Jahrhun-
derts. Der Graf, ein biegsamer vierziger, hat
soeben seine Toilette beendet. Nun sitzt er im
Frack, weiß cravatirt, im Lehnstuhl vor seinem
Schreibtisch, um sich von den Gästen, die er
erwartet, bei der Arbeit überraschen zu lassen.
Er sitzt, in seinem Stuhl zurück-
gelehnt , das fein rasirte und
zart gepuderte Rinn in der Luft,
eine Zeitung in der Hand, in .. -d
der ungezwungenen und vor- _
nehmen Haltung des Mannes
von guter Abkunft, der gewohnt
ist, photographirt zu werden.
Der Graf (kokettirt über den
Rand der Zeitung hinweg mit
seinem Ebenbild in dem großen
Wandspiegel gegenüber): welch'
ein Bild l Der Graf von Gallen-
brück, den „vorwärts" lesend!
warum ist er jetzt nicht zur
Stelle, jener sozialistische Schnellphotograxh,
der mich neulich so behend aufnahm, als ich
im Parlament dem Nuntius die Hand küßte?
wo ist er, dieser Photograph? welch ein Bild
wäre das! welch eine packende Illustration
der Jahrhundertwende. „Der sozialistische
Graf." Ist das nicht fin de siede? Nein, es ist
commencement de siede. Tempora mutantur,
ein neues Jahrhundert beginnt. Und weil \d}
gescheidt bin, so sehe ich das ein (er legt die
Zeitung nieder). Ah! was für lange Gesichter
werden sie ziehen meine Freunde vom Groß-
grundbesitz, sobald sie meine Schwenkung be-
merken werden was für große Glotzaugen
wird er machen, mein Freund, der kleine Fürst
von Kaltenbach, der so gerne Unterrichts-
minister wäre. Man sagt, der Erzbischof prote-
giere ihn! Eh dien! Mich wird der „vor-
wärts" xrotegiren. wir wollen sehen, wer bett
Sieg davonträgt, der Erzbischof oder der „vor-
wärts"! Favorit oder Mutsider. Ich stütze mich
auf's Volk! Volk! .. . wie das klingt? Ich
sehe wahrhaftig nicht ein, warum man std?
nicht der Abwechslung halber auch einmal
auf's Volk stützen soll! — (Er schlägt mit der
Faust auf den „vorwärts".) Id) werde alle
überraschen. Ich werde mtd? nicht interwiewen
lassen, wie es die Anfänger machen, bevor
sie ihre Gesinnung verändern. Nein, mitten in:
Eentrum werde ich stehen und werde eine
sozialistische Rede halten! Der Reichstag wird
nach den Weihnachtsferien wieder zusammen-
treten und ich werde kommen, wie wenn nichts
geschehen wäre: Ich werde meine Klub-
kollegen begrüßen, den Fürsten Kaltenbach ein
bischen hänseln, wie immer, dann werde ich
meinen winterrock ablegen und ihn dem Diener
übergeben. Aber in der inneren Rocktasche
meines Mantels wird der „vorwärts" stecken.
Man wird es für einen schlechten Witz halten
... haha!... aber dann, wenn meine Freunde,
die Elerikalen, ihre Gesetzesvorlage über den
obligatorischen Religionsunterricht an den Hoch-
schulen einbringen werden, da werde td? auf-
stehen (er steht auf), und da wird man sehen,
daß es mir Ernst ist. Ich werde reden, nein,
td? werde donnern, ich werde blitzen. (Er stützt
sich auf die Stuhllehne.) wie, meine Herren,
man wagt es, einem Parlamente freier Männer
eine derartige Zumuthung zu stellen? wie?
Glaubt man am Ende, wir seien noch im
vorigen Jahrhundert? Ah! Meine Herren, ver-
gessen Sie nicht, daß ein neuer Tag der Welt-
geschichte angebrochen ist! Das Morgenroth —
(er steigert sich) das Morgenroth der Moderne
wirft seine freien Schimmer durch diese hohen
Fenster, wir arbeiten im Lichte der Geschichte
meine Herren! (Er ruft Bravo und klatscht in
die Hände, dann wartet er, bis der Beifall
verhallt ist.) Das wird nur die Einleitung sein.
Hierauf werde ich in das Sachliche des Regier-
ungsantrages eingehen. wie? Ein obligator-
ischer Religionsunterricht an den Universitäten?
Ah, meine Herren Bischöfe und Prälaten, dem-
nächst werden Sie einen Gesetzentwurf ein-
bringen, der es dein Parlamente zur Pflicht
macht, zweimal wöchentlich zu gemeinsamen
Andachtsübungen zusammenzutreten. (Er bricht
hi Lachen aus, um sich die Illusion der schal-
lenden Heiterkeit zu erwecken.) Lachen Sie nicht
meine Herren! Hier ziemt nicht Lachen, hier
ziemt Entrüstung. Jawohl, Entrüstung gegen-
über einein hinterlistigen Angriff auf das
Heiligste, was eine Nation hat, auf ihre
Jugend. Die Jugend wollen wir schützen vor
geistiger Bevormuirdung, vor ungesuilder Be-
täubung ihres frischen Sinnes. So treten wir
Ihnen entgegen, meine Herren Bischöfe und
Prälaten, hinter uns die Jugend, hinter uns
die Freiheit, im Schimmer des Morgenlichtes
des zwanzigsten Jahrhunderts und schleudern
ihnen als Antwort auf Ihre Gesetzesvorlage
das Wort Gambettas entgegen: Le derica-
lisme .... (er unterbricht sich jäh). Ist es and}
von Gambetta, dieses Wort? Gder ist es von
Thiers? Le d — Ich will Nachsehen. (Er-
sucht im Eonversationslexikon, das frische Roth
der Entrüstung noch auf den Wangen.)
Dev Diener (meldet): Seine erzbischöfliche
Gnaden, Herr Graf.
Der Graf: wie? was? Der Herr Erz-
bischof in Person? (Er faßt sich): Ich lasse
bitten. (Er wirft einen Blick in das Lexikon.)
Jawohl, es ist von Gambetta, dieses Wort. (Er
vollendet die vorhin begonnene große Geberde,
während er dem Erzbischof entgegengeht:) Le
dericalisrne voilä l'ennemi! (Mit einer tiefen
Verbeugung vor dem eintretenden Erzbischof):
Eure erzbischöfliche Gnaden .....
Der Erzbischof (eine hohe, ehrwürdige Er-
scheinung. Seine Augen scheinen tu (Del zu
schwimmen. Er hat den beweglichen Mund des
alternden Elerikers): Guten Abend, mein Sohn.
Ich komme im Vorbeigehen.
Der Graf: Ich bin glücklich, Herr Erz-
bischof. (Er schiebt den „vorwärts" unter die
Schreibmappe.)
Der Erzbischof (setzt sich): Einen Augen-
blick . . . Ich bin auf der Fahrt zum Fürsten
Kaltenbach.
Der Graf: Zum Fürsten .... (wüthend
für sich): Dieses Protektionskind! . . . (laut:)
werden Eure erzbischöfliche Gnaden bei dein
Fürsten speisen?
Der Erzbischof: Ich habe die Absicht.
warum lächelst Du, mein Sohn?
Der Graf: Es geht ein Sprich-
wort im adeligen Easino: wen
der Erzbischof zn Sylvester be-
sucht, der wird zu Mstern Unter-
richtsminister.
Der Erzbischof: Ah! Geht
das Sprichwort? (Gut ge-
launt:) Nun wohl, mein Sobn,
ich besuche Dich. Und es ijt
Sylvester.
Der Graf: Aber Eure erz-
bischöfliche Gnaden speisen beim
Fürsten.
E. L. Hoess (München)
JUGEND
O
1900
ZubeUesr der Ilrrebse
Von Hermann v. Lingg
Flüchtig zieh'n zurück seit Stunden
Sich die Schnecken in ihr Haus,
weil wir he im kerngesunden
Rückwärtsgehen überwunden,
Krebse, kommt zum Siegesschmausl
Fortschritt ist uns ungelegen,
Denn wofür auch vorwärts geh'n?
Hinterher erst kommt der Segen.
Anstoß wird man nicht erregen,
Hat man rückwärts erst geseh'n.
vor uns liegt des Ungewisse,
Hinter uns das stch're Glück,
vor uns sind die Hindernisse,
Droh'n der Reue Schlangenbisse.
Darum, Freunde, nur zurück!
Aus den Höh'n mit Zlammenspuren
Fiel zerschmettert der Titan,
wir mit unfern sichern Fuhren
Bei den paradiesessiuren
Kommen wir noch endlich an.
wenn die Ströme rückwärts flößen,
Würden sie zum reinen ClueU,
Statt daß sich in sie ergößen
Allerhand fatale Größen,
Und sie blieben klar und hell.
Resseln her, bekränzt die Pforte!
Schwingt die Scheeren zum Applaus!
Fort mit jedem freien Worte!
Auf den Rückschritt jeder Sorte
Bringt ein Hoch nach rückwärts aus!
^00
Die guten Vorsätze
Drei Lustspielscenen aus der Lylvesternacht
von Raoul Auernheimer
I.
Das (Norzenroth
Arbeitszimmer des Grafen Gallenbrück.
^ Die Vorhänge neben dem Schreibtisch sind
zusammengezogen. Die Studierlampe ist ange-
zündet und gießt ihr mildes Licht über den
eleganten Schreibtisch des Parlamentariers. Es
ist der letzte Abend des scheidenden Jahrhun-
derts. Der Graf, ein biegsamer vierziger, hat
soeben seine Toilette beendet. Nun sitzt er im
Frack, weiß cravatirt, im Lehnstuhl vor seinem
Schreibtisch, um sich von den Gästen, die er
erwartet, bei der Arbeit überraschen zu lassen.
Er sitzt, in seinem Stuhl zurück-
gelehnt , das fein rasirte und
zart gepuderte Rinn in der Luft,
eine Zeitung in der Hand, in .. -d
der ungezwungenen und vor- _
nehmen Haltung des Mannes
von guter Abkunft, der gewohnt
ist, photographirt zu werden.
Der Graf (kokettirt über den
Rand der Zeitung hinweg mit
seinem Ebenbild in dem großen
Wandspiegel gegenüber): welch'
ein Bild l Der Graf von Gallen-
brück, den „vorwärts" lesend!
warum ist er jetzt nicht zur
Stelle, jener sozialistische Schnellphotograxh,
der mich neulich so behend aufnahm, als ich
im Parlament dem Nuntius die Hand küßte?
wo ist er, dieser Photograph? welch ein Bild
wäre das! welch eine packende Illustration
der Jahrhundertwende. „Der sozialistische
Graf." Ist das nicht fin de siede? Nein, es ist
commencement de siede. Tempora mutantur,
ein neues Jahrhundert beginnt. Und weil \d}
gescheidt bin, so sehe ich das ein (er legt die
Zeitung nieder). Ah! was für lange Gesichter
werden sie ziehen meine Freunde vom Groß-
grundbesitz, sobald sie meine Schwenkung be-
merken werden was für große Glotzaugen
wird er machen, mein Freund, der kleine Fürst
von Kaltenbach, der so gerne Unterrichts-
minister wäre. Man sagt, der Erzbischof prote-
giere ihn! Eh dien! Mich wird der „vor-
wärts" xrotegiren. wir wollen sehen, wer bett
Sieg davonträgt, der Erzbischof oder der „vor-
wärts"! Favorit oder Mutsider. Ich stütze mich
auf's Volk! Volk! .. . wie das klingt? Ich
sehe wahrhaftig nicht ein, warum man std?
nicht der Abwechslung halber auch einmal
auf's Volk stützen soll! — (Er schlägt mit der
Faust auf den „vorwärts".) Id) werde alle
überraschen. Ich werde mtd? nicht interwiewen
lassen, wie es die Anfänger machen, bevor
sie ihre Gesinnung verändern. Nein, mitten in:
Eentrum werde ich stehen und werde eine
sozialistische Rede halten! Der Reichstag wird
nach den Weihnachtsferien wieder zusammen-
treten und ich werde kommen, wie wenn nichts
geschehen wäre: Ich werde meine Klub-
kollegen begrüßen, den Fürsten Kaltenbach ein
bischen hänseln, wie immer, dann werde ich
meinen winterrock ablegen und ihn dem Diener
übergeben. Aber in der inneren Rocktasche
meines Mantels wird der „vorwärts" stecken.
Man wird es für einen schlechten Witz halten
... haha!... aber dann, wenn meine Freunde,
die Elerikalen, ihre Gesetzesvorlage über den
obligatorischen Religionsunterricht an den Hoch-
schulen einbringen werden, da werde td? auf-
stehen (er steht auf), und da wird man sehen,
daß es mir Ernst ist. Ich werde reden, nein,
td? werde donnern, ich werde blitzen. (Er stützt
sich auf die Stuhllehne.) wie, meine Herren,
man wagt es, einem Parlamente freier Männer
eine derartige Zumuthung zu stellen? wie?
Glaubt man am Ende, wir seien noch im
vorigen Jahrhundert? Ah! Meine Herren, ver-
gessen Sie nicht, daß ein neuer Tag der Welt-
geschichte angebrochen ist! Das Morgenroth —
(er steigert sich) das Morgenroth der Moderne
wirft seine freien Schimmer durch diese hohen
Fenster, wir arbeiten im Lichte der Geschichte
meine Herren! (Er ruft Bravo und klatscht in
die Hände, dann wartet er, bis der Beifall
verhallt ist.) Das wird nur die Einleitung sein.
Hierauf werde ich in das Sachliche des Regier-
ungsantrages eingehen. wie? Ein obligator-
ischer Religionsunterricht an den Universitäten?
Ah, meine Herren Bischöfe und Prälaten, dem-
nächst werden Sie einen Gesetzentwurf ein-
bringen, der es dein Parlamente zur Pflicht
macht, zweimal wöchentlich zu gemeinsamen
Andachtsübungen zusammenzutreten. (Er bricht
hi Lachen aus, um sich die Illusion der schal-
lenden Heiterkeit zu erwecken.) Lachen Sie nicht
meine Herren! Hier ziemt nicht Lachen, hier
ziemt Entrüstung. Jawohl, Entrüstung gegen-
über einein hinterlistigen Angriff auf das
Heiligste, was eine Nation hat, auf ihre
Jugend. Die Jugend wollen wir schützen vor
geistiger Bevormuirdung, vor ungesuilder Be-
täubung ihres frischen Sinnes. So treten wir
Ihnen entgegen, meine Herren Bischöfe und
Prälaten, hinter uns die Jugend, hinter uns
die Freiheit, im Schimmer des Morgenlichtes
des zwanzigsten Jahrhunderts und schleudern
ihnen als Antwort auf Ihre Gesetzesvorlage
das Wort Gambettas entgegen: Le derica-
lisme .... (er unterbricht sich jäh). Ist es and}
von Gambetta, dieses Wort? Gder ist es von
Thiers? Le d — Ich will Nachsehen. (Er-
sucht im Eonversationslexikon, das frische Roth
der Entrüstung noch auf den Wangen.)
Dev Diener (meldet): Seine erzbischöfliche
Gnaden, Herr Graf.
Der Graf: wie? was? Der Herr Erz-
bischof in Person? (Er faßt sich): Ich lasse
bitten. (Er wirft einen Blick in das Lexikon.)
Jawohl, es ist von Gambetta, dieses Wort. (Er
vollendet die vorhin begonnene große Geberde,
während er dem Erzbischof entgegengeht:) Le
dericalisrne voilä l'ennemi! (Mit einer tiefen
Verbeugung vor dem eintretenden Erzbischof):
Eure erzbischöfliche Gnaden .....
Der Erzbischof (eine hohe, ehrwürdige Er-
scheinung. Seine Augen scheinen tu (Del zu
schwimmen. Er hat den beweglichen Mund des
alternden Elerikers): Guten Abend, mein Sohn.
Ich komme im Vorbeigehen.
Der Graf: Ich bin glücklich, Herr Erz-
bischof. (Er schiebt den „vorwärts" unter die
Schreibmappe.)
Der Erzbischof (setzt sich): Einen Augen-
blick . . . Ich bin auf der Fahrt zum Fürsten
Kaltenbach.
Der Graf: Zum Fürsten .... (wüthend
für sich): Dieses Protektionskind! . . . (laut:)
werden Eure erzbischöfliche Gnaden bei dein
Fürsten speisen?
Der Erzbischof: Ich habe die Absicht.
warum lächelst Du, mein Sohn?
Der Graf: Es geht ein Sprich-
wort im adeligen Easino: wen
der Erzbischof zn Sylvester be-
sucht, der wird zu Mstern Unter-
richtsminister.
Der Erzbischof: Ah! Geht
das Sprichwort? (Gut ge-
launt:) Nun wohl, mein Sobn,
ich besuche Dich. Und es ijt
Sylvester.
Der Graf: Aber Eure erz-
bischöfliche Gnaden speisen beim
Fürsten.
E. L. Hoess (München)