Nr. 1
JUGEND
1900
Viel Scbwctn!
Gegeben in meiner dörflichen Zerien-Linjamkeit am Tage
vor dem heiligen Sylvester
Liebe Freunde in der Stadt!
wir haben heute ein Schwein geschlachtet, wißt Ihr auch,
was das heißt? Ihr labet Euch an saftigem Schinken, und
manch anderes Schweinerne ist Euch willkommener Schmaus —
aber Eure Seele fragt nicht, von wannen es kommt noch geht.
Gedankenlose Genüßlinge seid Ihr. Habt Ihr schon je mir fühlen-
dem Herzen das schmackhafte Schwein auf seines Lebens
letztem Gange begleitet? Ihr genießt und schweigt,
wir haben heute ein Schwein geschlachtet. An: frühen
Morgen schon spähte unser Hauswirt!) gen Osten.
Im Osten liegt unser Nachbardorf Dockenhuscn.
Und, Dockenhusen ist die Heimat des Schweines,
das da kommen soll.
Vor meinem Fenster steht ein
Trog. Auf der Lank
liegt ein
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J;
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J
%
V
reines, festlich reines Handtuch
und ein blankes Messer. Das Messer,
das wartet! Die drei Söhne unseres Hauses
umstehen die Lank. Es ist bitter kalt. Sie zittern.
Sie zittern und freuen sich. Jetzt versteh ich erst, wenn
der psalmist sagt: „Freuet Euch mit Leben!" So
laßt Nahida Nemy in einer Novelle ein elfjähriges
Mädchen sagen, warum sollte ich nicht auch so von
den Söhnen unseres Hauses sprechen? ' Es sind kluge
Knaben. Der älteste ist Jahre alt. Ich habe
ihn gestern gefragt: „was ist 2 und 2?" „Vier." „Und
zwei?" — Darauf hat er im Tone des Vorwurfs
gesagt: „Ich geh doch erst seit Ostern zur Schule!"
Endlich kam der wagen aus Dockenhusen.
Vorn auf dem wagen sitzt ein kräftiger Mann und
an seiner Seite eine kräftige junge Frau. Und hinter ihnen
sitzt behaglich im Stroh das dicke Schwein. Die Ohren hängen
ihm über die Augen. Es hat in seiner Miene etwas vor-
nehm Lässiges, etwas Gehcimräthlichcs. Es sagt sich : „Ich
becheilige mich jetzt an einer officiellen Feier, bei der ich die
Hauptperson bin. Ohne mich geht's nicht!"
Alle Leute begrüßen es freundlich. Ich winke mit
dem Taschentuch. Es antwortet mir: „O weh, Caesar,
moriturus te salutat.“ Oder moritura. Das werden wir
ja sehen.
Der Mann steigt mit steifem Lein über das Vorder-
brett des Wagens. Das Vorderbrett ist sehr hoch. Die
Frau steigt über das Vorderbrett des Wagens. Ich
sehe einen blauwollenen Strumpf, der sehr lang ist.
Oben, ganz oben leuchtet ein rothes Strumpfband.
Es ist merkwürdig, wie gern man Strümpfe
sieht. Sei es ein schwarzseidener Damenstrumpf,
sei es ein blauwollener Frauenstrumpf — es ist ein
Strumpf, und dies Menschliche sei mir nie allzu-
fern. wenn er nur immer die richtigen Dimen-
sionen hat, und zwar nicht über papier mache.
Nun tragen sechs Männer das Schwein auf
das Brett. Sechs gegen eins. Das Schwein
schreit. Und zwar gar nicht mehr offiziell.
Selige Heiterkeit ist ausgegossen über die
Mienen aller, die da tragen oder Zusehen. Zwei
Rindermädchen kommen mit den Kleinen auf
den 2lrmen. Starke und schöne Eindrücke müssen
wir von Jugend auf genießen, damit wir
ästhetische Menschen werden. So
denken die Kindermädchen. Ich l /Vf
kneife ihnen die Wangen für
<9jßr diesen Gedanken. Im Geiste,
V
Vater Cbronos mit der ?£lurstsprit?e
1 /^/
A. Schmidhammer (München)
JUGEND
1900
Viel Scbwctn!
Gegeben in meiner dörflichen Zerien-Linjamkeit am Tage
vor dem heiligen Sylvester
Liebe Freunde in der Stadt!
wir haben heute ein Schwein geschlachtet, wißt Ihr auch,
was das heißt? Ihr labet Euch an saftigem Schinken, und
manch anderes Schweinerne ist Euch willkommener Schmaus —
aber Eure Seele fragt nicht, von wannen es kommt noch geht.
Gedankenlose Genüßlinge seid Ihr. Habt Ihr schon je mir fühlen-
dem Herzen das schmackhafte Schwein auf seines Lebens
letztem Gange begleitet? Ihr genießt und schweigt,
wir haben heute ein Schwein geschlachtet. An: frühen
Morgen schon spähte unser Hauswirt!) gen Osten.
Im Osten liegt unser Nachbardorf Dockenhuscn.
Und, Dockenhusen ist die Heimat des Schweines,
das da kommen soll.
Vor meinem Fenster steht ein
Trog. Auf der Lank
liegt ein
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V
reines, festlich reines Handtuch
und ein blankes Messer. Das Messer,
das wartet! Die drei Söhne unseres Hauses
umstehen die Lank. Es ist bitter kalt. Sie zittern.
Sie zittern und freuen sich. Jetzt versteh ich erst, wenn
der psalmist sagt: „Freuet Euch mit Leben!" So
laßt Nahida Nemy in einer Novelle ein elfjähriges
Mädchen sagen, warum sollte ich nicht auch so von
den Söhnen unseres Hauses sprechen? ' Es sind kluge
Knaben. Der älteste ist Jahre alt. Ich habe
ihn gestern gefragt: „was ist 2 und 2?" „Vier." „Und
zwei?" — Darauf hat er im Tone des Vorwurfs
gesagt: „Ich geh doch erst seit Ostern zur Schule!"
Endlich kam der wagen aus Dockenhusen.
Vorn auf dem wagen sitzt ein kräftiger Mann und
an seiner Seite eine kräftige junge Frau. Und hinter ihnen
sitzt behaglich im Stroh das dicke Schwein. Die Ohren hängen
ihm über die Augen. Es hat in seiner Miene etwas vor-
nehm Lässiges, etwas Gehcimräthlichcs. Es sagt sich : „Ich
becheilige mich jetzt an einer officiellen Feier, bei der ich die
Hauptperson bin. Ohne mich geht's nicht!"
Alle Leute begrüßen es freundlich. Ich winke mit
dem Taschentuch. Es antwortet mir: „O weh, Caesar,
moriturus te salutat.“ Oder moritura. Das werden wir
ja sehen.
Der Mann steigt mit steifem Lein über das Vorder-
brett des Wagens. Das Vorderbrett ist sehr hoch. Die
Frau steigt über das Vorderbrett des Wagens. Ich
sehe einen blauwollenen Strumpf, der sehr lang ist.
Oben, ganz oben leuchtet ein rothes Strumpfband.
Es ist merkwürdig, wie gern man Strümpfe
sieht. Sei es ein schwarzseidener Damenstrumpf,
sei es ein blauwollener Frauenstrumpf — es ist ein
Strumpf, und dies Menschliche sei mir nie allzu-
fern. wenn er nur immer die richtigen Dimen-
sionen hat, und zwar nicht über papier mache.
Nun tragen sechs Männer das Schwein auf
das Brett. Sechs gegen eins. Das Schwein
schreit. Und zwar gar nicht mehr offiziell.
Selige Heiterkeit ist ausgegossen über die
Mienen aller, die da tragen oder Zusehen. Zwei
Rindermädchen kommen mit den Kleinen auf
den 2lrmen. Starke und schöne Eindrücke müssen
wir von Jugend auf genießen, damit wir
ästhetische Menschen werden. So
denken die Kindermädchen. Ich l /Vf
kneife ihnen die Wangen für
<9jßr diesen Gedanken. Im Geiste,
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Vater Cbronos mit der ?£lurstsprit?e
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A. Schmidhammer (München)