1900
Nr. 1
liebe Freunde, Lin Geiste natürlich. — Das Schwein schreit
VTim wird's gestreckt. Di er Männer beschweren seinen Rücken
mit dem Gewicht ihrer Persönlichkeit. Zwei binden die Beine.
Der Erstgeborene unseres Hauses halt den Schwanz. Und doch
besucht er erst seit Estern die Schule.
Das Schwein schreit. Man steckt ihm ein rundes Holz in
den Hals, wohl damit es seine Stimme schone. Edel sei der
Mensch, hilfreich und gut.
Der Mann mit dem Dolch am Gewände rasiert ihm am
Hals eine Stelle. Nicht unrasiert soll cs von hinnen scheiden.
Es soll wohl in Schönheit sterben. Die Frau halt jetzt einen
Ressel unter. Ich trete einen Augenblick sinnend zurück. —
Das Schwein schreit und röchelt. — wie ich wieder aus dem
Fenster sehe, bemerke ich etwas Rührendes. Nämlich die junge
Frau mit dem blauen Strumpf und dem rothcn Strumpfband
ganz oben. Sie rührt im Ressel das frische Blut.
Und nach einigen Minuten hat das Schwein ausgelitten.
Es war einmal.
wir haben ein Schwein geschlachtet. Es ist todt. Mir
hat cs nichts gebracht. Nicht die kleinste Wurst. Aber über
uns alle, liebe Freunde, konrme ein großes Schwein im nächsten
Jahr — nämlich in allen Dingen des Geistes und der Wahrheit!
Dies wünscht vom Herzen Euer Agricola
A
Zwiegespräch
Don friedricb Spielbagen
Ls höhnt die Lphinr: Rühmt eures Geistes Helle —
Auf starrem Fels, wie in der alteir Lage,
Ein Graucudild für eure Erdeutage,
So sitze ich au des Jahrhunderts Schwelle.
Ob auch im Jeitstrom Welte folgt der Welle —
Im feine Ufer hallt die alte Klage,
Schallt immerfort die ungelöste Frage —
Er rast dahin;, ihr Kommt nicht von der Stelle.
Es spricht der Menfch: Wohlan, mutz ich verachten,
Die Löfuug Deines Räthfels zu erkunden,
Vleidt es beim starren: Ignorabimus —
Die Götterlust, zu denken und zu dichten.
Du heilen eines Nächsten Schmerzensmunden —
Hier ist Dein Lieger! Hier Dein Oedipus!
Doch ane SMmmrmgK Max Ha^en
's Jahrhundert geht — er sitzt beidl Glas —
's empfiehlt uf ewig sich!
Ihm macht die ^ache geenen ^paß,
Sc ärgert eit ooch nich.
Er bleest, wie stets den weißen Gischt
Don seinen braunen Bier:
„De Zeit, die macht aus mir sich nischt,
Un ich mir nischt aus ihr."
Löwin Bormann
Antiseptische Plaudereien
Was ist Kunst? —
Was ist schön? — Was ist Kritik?
Was ist Kunst? Böckliu hat gesagt, Kunst
sei etwas, was nicht für Alle ist. Aber damit
ist nur die negatioe Seite der Konsumpliou
berührt; außerdem interessiren uns die Leute
nicht, für welche die Kunst — nicht ist. Ich
erlaube mir, den Spieß umzudrehen und zu
sagen: „Kunst ist das, was nicht Alle
können." Wenn nur ein paar Menschen
sprechen könnten, daun wäre das Sprechen
eine Kunst; und wenn Alle so schön singen
könnten, wie die Patti, oder so gut malen,
wie Lenbach, daun wäre das Können dieser
beiden keine Kunst. Wäre auf dem Forum
romanum plötzlich ein Nadler, ein ganz ge-
wöhnlicher Strampelfritze, aufgetaucht, so würde
ihn Cicero für einen großen Künstler erklärt
haben. Heute wissen wir, daß Nadeln an sich
keine Kunst ist, weil es Alle lernen können;
nur die „Kunstfahrer" und-die Champignons
(oder Champions?) werden von der Sippe
noch als Künstler angesehen. Und so ist's
beim Malen und Dichten, in der Mimik und
bei allen möglichen Verrenkungen der Zunge,
der Finger und Beine. Das außergewöhnliche
Können, das nur mit außergewöhnlicher Be-
gabung und außergewöhnlichem Willen erreicht
werden kann, — das ist „Kunst." Das Recht,
sich Künstler zu nennen, haben daher auch die
Gehirnturner, Chirurgen und Bauchtänzerinnen,
vorausgesetzt, daß sie Außergewöhnliches leisten,
„was nicht Alle können." Cs wäre ein Ge-
winn, wenn die Aesthetik sich zu dieser rein
menschlich-aristokratischen Anschauung — herab-
lassen wollte, sintemal und alldieweil bei allen
anderen Behandlungen der alten Seeschlange
tzu'est 06 que l’Art nur uferloser Quatsch her-
auskommt. Die Annahme dieses Antrags hin-
dert ja gar nicht, daß die Ritter vom Geiste
und von noch höheren Orden sich einige Grad
Reaumur mehr einbilden, als die anderen Herr-
schaften.
W a s i st s ch ö n ? Eine mehr oder weniger
subjektive Geschichte. Ob Einer etwas „kann"
und das besser kann als zehn oder tausend
Andere, oder ob er es von Allen am besten
kann, — das läßt sich immerhin in Maaß-
verhältnissen ausdrücken, wenn auch nicht im-
mer mit den Werkzeugen des Aichamtes. Manch-
mal wird man sich dazu sogenannter Sach-
verständiger oder Preisrichter bedienen müssen,
wie z. B. bei Sportkümpfen, Stiergefechten,
Kunstausstellungen u. dgl., und es ist nicht
mehr als billig, wenn dann die Jury aus
„Könnern" zusammengesetzt wird, weil die
eben am Besten wissen, was zum Können ge-
hört. Aus ähnlichen Gründen läßt man Juristen
durch Juristen, Aerzte durch Aerzte u. s. w.
examiniren. Bis zu einem gewissen Grade
ist die Kunstkönnerschaft sogar eine internatio-
nale Sache. Wenn ich Schuster wäre und die
Wahl hätte, meine Kunstprodukte von einem
unverständigen deutschen Schneider oder einem
tüchtigen chinesischen Schuster taxiren zu lassen,
so nähme ich den letzteren; er würde meine
Stiefel nicht chinesisch finden, aber sofort sehen,
ob ich als Schuster etwas „kann." Er würde
es auch dann sehen, wenn der Stiefel für
einen europäischen Damenfuß und nicht für
einen niedlichen Klumpfuß gemacht wäre, an
welchem wir Europäer nichts Schönes finden
können. Mit anderen Worten, der chinesische
Schuster würde, so er nur ein tüchtiger Schu-
ster und ein ehrlicher Kerl wäre, den gut ge-
*
Nr. 1
liebe Freunde, Lin Geiste natürlich. — Das Schwein schreit
VTim wird's gestreckt. Di er Männer beschweren seinen Rücken
mit dem Gewicht ihrer Persönlichkeit. Zwei binden die Beine.
Der Erstgeborene unseres Hauses halt den Schwanz. Und doch
besucht er erst seit Estern die Schule.
Das Schwein schreit. Man steckt ihm ein rundes Holz in
den Hals, wohl damit es seine Stimme schone. Edel sei der
Mensch, hilfreich und gut.
Der Mann mit dem Dolch am Gewände rasiert ihm am
Hals eine Stelle. Nicht unrasiert soll cs von hinnen scheiden.
Es soll wohl in Schönheit sterben. Die Frau halt jetzt einen
Ressel unter. Ich trete einen Augenblick sinnend zurück. —
Das Schwein schreit und röchelt. — wie ich wieder aus dem
Fenster sehe, bemerke ich etwas Rührendes. Nämlich die junge
Frau mit dem blauen Strumpf und dem rothcn Strumpfband
ganz oben. Sie rührt im Ressel das frische Blut.
Und nach einigen Minuten hat das Schwein ausgelitten.
Es war einmal.
wir haben ein Schwein geschlachtet. Es ist todt. Mir
hat cs nichts gebracht. Nicht die kleinste Wurst. Aber über
uns alle, liebe Freunde, konrme ein großes Schwein im nächsten
Jahr — nämlich in allen Dingen des Geistes und der Wahrheit!
Dies wünscht vom Herzen Euer Agricola
A
Zwiegespräch
Don friedricb Spielbagen
Ls höhnt die Lphinr: Rühmt eures Geistes Helle —
Auf starrem Fels, wie in der alteir Lage,
Ein Graucudild für eure Erdeutage,
So sitze ich au des Jahrhunderts Schwelle.
Ob auch im Jeitstrom Welte folgt der Welle —
Im feine Ufer hallt die alte Klage,
Schallt immerfort die ungelöste Frage —
Er rast dahin;, ihr Kommt nicht von der Stelle.
Es spricht der Menfch: Wohlan, mutz ich verachten,
Die Löfuug Deines Räthfels zu erkunden,
Vleidt es beim starren: Ignorabimus —
Die Götterlust, zu denken und zu dichten.
Du heilen eines Nächsten Schmerzensmunden —
Hier ist Dein Lieger! Hier Dein Oedipus!
Doch ane SMmmrmgK Max Ha^en
's Jahrhundert geht — er sitzt beidl Glas —
's empfiehlt uf ewig sich!
Ihm macht die ^ache geenen ^paß,
Sc ärgert eit ooch nich.
Er bleest, wie stets den weißen Gischt
Don seinen braunen Bier:
„De Zeit, die macht aus mir sich nischt,
Un ich mir nischt aus ihr."
Löwin Bormann
Antiseptische Plaudereien
Was ist Kunst? —
Was ist schön? — Was ist Kritik?
Was ist Kunst? Böckliu hat gesagt, Kunst
sei etwas, was nicht für Alle ist. Aber damit
ist nur die negatioe Seite der Konsumpliou
berührt; außerdem interessiren uns die Leute
nicht, für welche die Kunst — nicht ist. Ich
erlaube mir, den Spieß umzudrehen und zu
sagen: „Kunst ist das, was nicht Alle
können." Wenn nur ein paar Menschen
sprechen könnten, daun wäre das Sprechen
eine Kunst; und wenn Alle so schön singen
könnten, wie die Patti, oder so gut malen,
wie Lenbach, daun wäre das Können dieser
beiden keine Kunst. Wäre auf dem Forum
romanum plötzlich ein Nadler, ein ganz ge-
wöhnlicher Strampelfritze, aufgetaucht, so würde
ihn Cicero für einen großen Künstler erklärt
haben. Heute wissen wir, daß Nadeln an sich
keine Kunst ist, weil es Alle lernen können;
nur die „Kunstfahrer" und-die Champignons
(oder Champions?) werden von der Sippe
noch als Künstler angesehen. Und so ist's
beim Malen und Dichten, in der Mimik und
bei allen möglichen Verrenkungen der Zunge,
der Finger und Beine. Das außergewöhnliche
Können, das nur mit außergewöhnlicher Be-
gabung und außergewöhnlichem Willen erreicht
werden kann, — das ist „Kunst." Das Recht,
sich Künstler zu nennen, haben daher auch die
Gehirnturner, Chirurgen und Bauchtänzerinnen,
vorausgesetzt, daß sie Außergewöhnliches leisten,
„was nicht Alle können." Cs wäre ein Ge-
winn, wenn die Aesthetik sich zu dieser rein
menschlich-aristokratischen Anschauung — herab-
lassen wollte, sintemal und alldieweil bei allen
anderen Behandlungen der alten Seeschlange
tzu'est 06 que l’Art nur uferloser Quatsch her-
auskommt. Die Annahme dieses Antrags hin-
dert ja gar nicht, daß die Ritter vom Geiste
und von noch höheren Orden sich einige Grad
Reaumur mehr einbilden, als die anderen Herr-
schaften.
W a s i st s ch ö n ? Eine mehr oder weniger
subjektive Geschichte. Ob Einer etwas „kann"
und das besser kann als zehn oder tausend
Andere, oder ob er es von Allen am besten
kann, — das läßt sich immerhin in Maaß-
verhältnissen ausdrücken, wenn auch nicht im-
mer mit den Werkzeugen des Aichamtes. Manch-
mal wird man sich dazu sogenannter Sach-
verständiger oder Preisrichter bedienen müssen,
wie z. B. bei Sportkümpfen, Stiergefechten,
Kunstausstellungen u. dgl., und es ist nicht
mehr als billig, wenn dann die Jury aus
„Könnern" zusammengesetzt wird, weil die
eben am Besten wissen, was zum Können ge-
hört. Aus ähnlichen Gründen läßt man Juristen
durch Juristen, Aerzte durch Aerzte u. s. w.
examiniren. Bis zu einem gewissen Grade
ist die Kunstkönnerschaft sogar eine internatio-
nale Sache. Wenn ich Schuster wäre und die
Wahl hätte, meine Kunstprodukte von einem
unverständigen deutschen Schneider oder einem
tüchtigen chinesischen Schuster taxiren zu lassen,
so nähme ich den letzteren; er würde meine
Stiefel nicht chinesisch finden, aber sofort sehen,
ob ich als Schuster etwas „kann." Er würde
es auch dann sehen, wenn der Stiefel für
einen europäischen Damenfuß und nicht für
einen niedlichen Klumpfuß gemacht wäre, an
welchem wir Europäer nichts Schönes finden
können. Mit anderen Worten, der chinesische
Schuster würde, so er nur ein tüchtiger Schu-
ster und ein ehrlicher Kerl wäre, den gut ge-
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