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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 3 (15. Januar)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3886#0052

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Nr. 3

JUGEND

1900

«

Extraurlaub

Von Jeanne Marni

In einer Strasse von Auteuil, sechs Uhr
Abends, im Winter. Es regnet sehr stark.

Georgette, sechs Jahre alt.

Victoire, vierzig Jahre alt.

Der Kutscher, alt, übel gelaunt, das Gesicht
begraben in einem dicken Halstuch von vio-
letter Wolle. Er wartet seit einer halben Stunde
vor einem hohen Thor, über dem in grossen
Lettern die Inschrift angebracht ist:
Erziehungsanstalt für höhere Töchter.

Endlich öffnet sich die Thür; als Erste
kommt, fröhlich hüpfend, Georgette heraus,
sie trägt das Anstaltskleid. Victoire folgt ihr;
unter dem Arm ein ziemlich dickes Packet.
Victoire hat ergrauendes Haar, ein sanftes Ge-
sicht, kluge und gute Augen. Ihr Auftreten ist
das eines Zimmermädchens aus gutem Hause.

Victoire (zum Kutscher): Kutscher! Rue
Cassini 27.

Der Kutscher: Wieder dahin zurück?

Victoire (indem sie Georgette einsteigen
lässt): Ja, und ein wenig schnell, bitte!

Der Kutscher: Wieder zurück? Ne, det
jibt’s niclT. Ick kann nich' wieder — ick muss
umspannen.

Victoire: Aber ich habe Sie doch auf Zeit
genommen !

Der Kutscher: Da hab' ick nischt jejen;
aber die Stunde is um, und ick muss um-
spannen. Weiter sag’ ick nischt. Ick muss
in La Villette umspannen.

Victoire: Aber mein Gott, das ist ja schreck-
lich. Was soll ich denn mit einem Kinde und
dem Packet hier in Auteuil bei solchem Wetter
anfangen ?

Der Kutscher: Ach, det biseken Rejen... da
werden Se ooch nich' jleich von entzwei jeh’n.

Victoire (bittend): Hören Sie, Kutscher!
Man erwartet uns zu Hause, und wir haben
uns schon verspätet!... Fahren Sie uns nach
der Rue Cassini, und ich gebe Ihnen zwei
Francs Trinkgeld!

Der Kutscher (schwankend): Ick kann nich'.

Victoire: Drei Francs! Wollen Sie? Drei
Francs!

Der Kutscher (wüthend): Vorwärts, einje-
stiegen! (Sie steigt ein) Himmelkreuzschock-
schwerenoth noch 'mal! Det is 'ne verfluchte
Zucht. — (Er stösst noch einen gröblichen
Fluch aus und haut auf sein Pferd ein; dieses
kommt in’s Gleiten und kann nicht gleich an-
ziehen.)

Georgette (sich an Victoire anklammernd):
O, wir werden umwerfen.

Victoire: Nein! Nein! Habe keine Furcht!

Georgette: Der Kutscher ist ein schlechter
Mensch. Er schlägt das arme Pferd. Wenn
ihn das Pferd nun wieder schlagen könnte?
Das wäre ihm recht, dann würde er 'mal
sehen, wie weh das thut! Nicht wahr, Vica?

Victoire: Gewiss!

Georgette: Aber die Thiere können nicht
hauen; dazu sind sie zu dumm. Angelique
Cönivou hat eine Schildkröte in ihrem Kasten.
Wie unglücklich die arme Schildkröte ist! Eine
Märtyrerin! Alles muss sie tragen. Eine
Grammatik, einen Atlas, ein Wörterbuch . . .
alles, alles schleppt sie auf ihrem Rücken . . .
und dabei schreit sie nicht einmal. Ich an ihrer
Stelle würde schreien.

Victoire: Du bist ja auch so ein verwöhntes
kleines Mädel.

Georgette: O, das bin ich nicht mehr. Das
war, wie ich klein war. . . Jetzt, wo ich gross
bin, bin ich nicht mehr verwöhnt. Siehst Du,
gestern in der Zwischenstunde bin ich auf dem
Hof gefallen. Auf mein Knie bin ich gefallen.
Es hat so geblutet, aber geweint habe ich nicht.
Es hat aber sehr geblutet, sage ich Dir, und
mein Beinkleid war ganz zerrissen.

Victoire: Eins von den neuen ?

Georgette: Weiss ich nicht. Aber sag’

'mal (sie zeigt auf das Packet, das Victoire hält),
warum nimmst Du denn diesmal Wäsche mit
nach Hause?

Victoire: Weil Du vielleicht morgen nicht
in’s Kloster zurückkehren wirst.

Georgette (in die Hände klatschend): O,
das ist hübsch! Das ist 'mal hübsch! Also

wirkliche Ferien ... ein langer Urlaub! Nein!
Wie froh ich bin! — Wie froh ich bin! Weisst
Du, alle anderen Mädchen waren ganz eifer-
süchtig heut’ Abend. „Seht Euch 'mal die
kleine Georgette Rayou an! Die hat’s gut.
Extraurlaub! Das werde ich aber meiner
Mutter sagen, dass man ihr Extraurlaub gibt,
der kleinen Krabbe. Das ist eine Ungerechtig-
keit!“ — Und sie wollten mir keinen Kuss
geben. Nur Angölique Cönivou war nett zu
mir und hat mir einen lieben Kuss gegeben . ..
Angölique C6nivou ist es ganz gleichgiltig, ob
man ausgeht oder nicht — sie geht nie aus.

Victoire: Warum denn nicht?

Georgette: Sie hat keine Mama mehr und
auch keinen Papa. Ich glaube sogar, einen
Papa hat sie nie gehabt.

Victoire: Arme Kleine!

Georgette: Ja! (geheimnisvoll) Sie hat nur
einen Notar mit einer grossen Nase und einer
goldenen Brille obendrauf. Der hat ihr auch
die Schildkröte geschenkt. Einmal monatlich
kommt er zu Besuch in’s Sprechzimmer. Wenn
er kommt, hat er immer alle Hände voll. Spiel-
zeug, Bonbons, eine blaue Taschenuhr mit
ihren Anfangsbuchstaben, — o viel, sehr viel!
Aber er riecht so komisch, und seine Backen
pieken wie Nadeln. Angelique Gsnivou hat
ihn auch nicht lieb.

Victoire: Ach, wirklich?

Georgette: Sie liebt ihn nicht als Verwand-
ten, weisst Du, Vica . . . nur ein klein wenig
liebt sie ihn . . Als ihren Nebenmenschen,

weisst Du, — mehr nicht. Sie sagt immer:
„Eine Mama kann nichts ersetzen.“

Victoire: Das ist sehr wahr. (Verlegen)
Uebrigens, wir wollen nicht zu viel Lärm
machen, wenn wir nach Hause kommen. Papa
hat mir aufgetragen, ich soll Dir das sagen.

Georgette: Warum? Hat Mamachen Mi-
gräne?

Victoire (zögernd): Sie ist . . . sie ist ein
wenig krank... ernstlich krank sogar!

Georgette: Was hat sie denn? (Unruhig)
Warum sagst Du mir das in solchem Ton?

Victoire: Was denn? Ich sage ja gar nichts.

Knieenb tm Staube
Lieg ich vor Dir,

Du bist mein Glaube
Und mein Brevier,

Du bist mein Lieben,
Du bist mein Hort.
Mein Hoffen Hüben,
Mein Fimmel dort.

Bist meine Wahrheit,
Und bist mein Traum,
Bist die Erkenntnis
In Zeit und Raum,

H. Anetsberger (München)

T)\i bist das Gute,

Das Ding an sich,

Du bist die Schönheit —

Ich liebe Dich! K T
Register
K. T.: Liebeslied
Paul Bornstein: Extraurlaub
Hans Anetsberger: Zeichnung zum Gedicht "Liebeslied"
Jeanne Marni: Extraurlaub
 
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