Nr. 4
JUGEND
1900
Das große
Unglück des Scheich Abdullah
Line türkische Geschichte
Die Einwohner der Stadt Aleppo erfreuen
sich des Rufes, die besterzogenen Türken zu
sein, und sie legen so großen Werth darauf,
vermeiden so ängstlich alles Anstößige, daß
man von ihnen sagen kann, sie hätten diesen
ehrenvollen Namen wohl verdient. „Halebi
tschelebi“, der Aleppiner ist ein vornehmer
Herr — ist ein geflügeltes Wort in der Türkei.
Eines Tages hatten die Stadtverordneten
von Aleppo eine feierliche Sitzung. Wichtige
Fragen, das Gemeinwohl betreffend, standen
auf der Tagesordnung, und weise, gute Worte
wurden bei der Gelegenheit gewechselt. Der
Scheich Abdullah hatte besonders schön und
salbungsvoll gesprochen, und die Notablen, sich
langsam in ihren breiten Hiiften wiegend und
sich die wohlgepflegten Bärte streichend, wechselten
verständnißvolle Blicke untereinander, die sagen
wollten: „Was für wohlerzogene Leute sind
wir doch, wir Aleppiner! Sicherlich, auch die
Herren von Stambul, die sich so vornehin
dünken, könnten manches von uns lernen!" —
Und da, inmitten dieser würdevollen Pause,
in den: Augenblick, als der Scheich Abdullah
sich selbstgefällig, milde lächelnd verbengte und
den Tschibnk ergreifen wollte, — da wurde er
von dem großen Unglück cheimgesucht.
Er zuckte zusammen, als hätte ihn der
Schlag gerührt. Sein bleiches, edles Antlitz
überzog sich mit glühender Röthe. — Die ver-
sammelten Weißbärte wandten ihre Gesichter,
auf denen unbeschreibliche, erstaunte Entrüstung
zu lesen war, dem unglücklichen Sünder zu,
und dieser erhob sich, schlich gesenkten Hauptes,
niedergeschlagenen Blickes der Thüre zu — und
war verschwunden.
Der Vorsitzende athmete tief ans. Ein jeder
der Anwesenden griff stumm nach seinem
Tschibnk. Erst nach langer Pause unterbrach
der Präsident das peinlichste Schweigen, das
je in der Versammlung der Stadtverordneten
geherrscht hat. „Sprechen wir von etwas
Anderem," sagte er. —
Als Abdullah in seiner Wohnung angelangt
war, rief er seinen ältesten Sohn, betraute ihn
mit der Verwahrung seiner Habe, steckte eine be-
trächtliche Summe baaren Geldes in seinen Gür-
tel und nahm zärtlich Abschied von seinen: Kinde.
„Vielleicht sehen wir uns noch
einmal wieder — Jinschallah,
lebe wohl! Allah szelamet
werosin!"
„Aber Vater, Vater, warum
wollt Ihr uns verlassen?"
„Frage nicht, mein Sohn!
Ein großes Unglück ist mir wider-
fahren. Es ist mein Schicksal.
Ich muß es tragen. Du wirst
von mir hören. Gehab' Dich
wohl!"
Viele Tage lang irrte der
Scheich, von Gewissensbissen ge-
plagt, auf einsamen Wegen um-
her. Endlich gelangte er in ein
kleines Dorf. Dort ließ er sich
nieder. Eine Woche darauf setzte
n sich mit seinem Sohne in Ver-
bindung, damit ihm dieser im Geheimen die
zun: Leben nothwendigen Geldmittel zukommen
lasse, und dann tauchte er in dem stillen Lebe::
des weltfremden syrischen Dorfes unter und
verschwand für alle, die ihn gekannt hatten,
als wäre er gestorben.
* «i
-r-
So lebte er lange Jahre — zwanzig Jahre.
Da überkam ihn unwiderstehliche Sehnsucht
nach seiner Heimat und er brach dahin auf.
Gegen Sonnenuntergang des fünften Tages
erblickte er endlich sein geliebtes Aleppo. Er
begrüßte den Strom, auf dem er als Kind
und als Mann glückliche Stnnden verlebt hatte,
und seine Augen weideten sich mit unbeschreib-
licher Wehmuth an der Schönheit der Moschee
Dschami ed Adliseh. — Unter schattigen Bäumen
an einem Brunnen in der Nähe der Vorstadt,
die er bewohnt hatte, — dort ließ er sich nieder.
Seine Augen suchten sein altes Haus und
fanden es, und sein Blick verdunkelte sich bei
den: Anblick der Stätte seines verlorenen
Glückes. Er ließ das Haupt sinke:: und bittere
stille Thränen rannen über seine gefurchten
Wangen in den milchweißen Bart. — Plötzlich
vernahm er eine sanfte Stimme.
„Seid Ihr krank, :nein Vater, labungs-
bedürftig? Könnte ich Euch helfen?"
Abdullah hob langsan: das ehrwürdige
Haupt. Vor ihm stand ein junges schlankes
Mädchen, fast noch ein Kind, das einen Wasser-
krug auf der rechten Schulter trug und dessen
dunkle, milde Augen mit einem Ausdruck innigen
Mitleids auf ihn: ruhten.
„Ich danke Dir, n:eine Tochter," sagte
Abdullah. „Gieb mir von den: Wasser dieses
Brunnens zu trinken."
Das Mädchen beugte sich schnell über den
Brunnen, füllte ihren Krug und hielt ihn den:
Durstigen entgegen, der in tiefen Zügen daraus
trank.
„O, des köstlichen Wassers! — Ich danke
Dir, meine Tochter. — Wie soll ich Dich
nennen?"
„Mein Name ist Naimeh, die Tochter
Ibrahims."
„Sprichst Du von Ibrahim, einem Sohne
Edhems?"
„Ihr sagt es."
Der alte Mann wiederholte langsam, nach-
denklich: „Ibrahim, Sohn Edhen:s."
„Ihr kennt ihn?"
„Er war in alten Zeiten mein guter
Freund."
„O, dann laßt mich Euch zu ihm führen,
damit auch ich mich seiner Freude, Euch wieder-
zusehen, freuen kann."
„Nicht heute, meine Tochter, aber bald, so
hoffe ich, werde ich ihn begrüßen können. Wie
ist seine Gesundheit?"
„Allah sei gelobt: er ist stark und guten
Muthes."
„Er ist so alt wie ich. — Und ich bin
schwach und traurig."
„Ihr erscheint mir älter als er. Das ist
ein kleines Unglück. Möge Allah Euch vor
größerem bewahren. Die Reise wird Euch
ermüdet haben. Kommt und ruht unter dem
Dache eines alten Freundes. Das wird Euch
stärken und verjüngen."
„Ich hoffe es. Ich will Allah und dem
Propheten inbrünstig danken, wenn es mir ver-
gönnt sein wird, in meiner Heimath von den
langen Wanderungen meines Lebens zu ruhen."
„Darf ich Euch bitten, mir Euren ehren-
werthen Namen zu sagen, damit ich den Vater au!
die Freude Eures Besuches vorbereiten kann?"
„Ich wünsche, ihn zu überraschen. Sage
ihm nur, wenn Du mit ibm von unserer
Begegnung sprichst, ein alter Freund von ihn:
sei nach langer Abwesenheit wieder heinrgekehrt
und würde ihn morgen aufsuchen."
„Es soll geschehen, wie Ihr befehlt."
Naimeh füllte ihren Krug von neuem,
dann trat sie wieder vor den Scheich, im: sich
ehrerbietig grüßend von ihm zu verabschieden.
Tie Augen des alten Mannes ruhten wohl-
gefällig auf der schlanken Gestalt des Mädchens.
„Wie alt bist Tu, Naimeh binti Ibrahim ?"
Wie alt?.Das kann ich Euch
nicht genau sagen. Ich wurde
geboren fünfJahre, nachden: des
Vaters Nachbar, dem Scheich
Abdullah, das große Unglück zu-
gestoßen war.Allah schenke
Euch Frieden." Damit entfernte
sich Naimeh.
Abdullahs weitgcöffnete Au-
gen folgten der verschwindenden
Gestalt, ohne sie zu sehen. Ein
leises Zittern durchrieselte seinen
Körper. Dann raffte er sich schwer-
fällig auf, ergriff den langen
Wanderstab und schleppte seine
müden, alten Glieder zurück nach
den: syrischen Dorfe, wo nien:n?:d
sein schweres Schicksal ahnte.
Dort ist er wohl längst ge-
storben. Niemand weiß es. Nie-
mand hat je wieder von ihm
gehört. Er ist vergessen; aber die
Erinnerung an sein großes Un-
glück lebt in Aleppo, und es giebt
dort noch uralte Greise, die sich
des Unglücklichen aus ihrer frühe-
sten Jugend erinnern.
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1900
Das große
Unglück des Scheich Abdullah
Line türkische Geschichte
Die Einwohner der Stadt Aleppo erfreuen
sich des Rufes, die besterzogenen Türken zu
sein, und sie legen so großen Werth darauf,
vermeiden so ängstlich alles Anstößige, daß
man von ihnen sagen kann, sie hätten diesen
ehrenvollen Namen wohl verdient. „Halebi
tschelebi“, der Aleppiner ist ein vornehmer
Herr — ist ein geflügeltes Wort in der Türkei.
Eines Tages hatten die Stadtverordneten
von Aleppo eine feierliche Sitzung. Wichtige
Fragen, das Gemeinwohl betreffend, standen
auf der Tagesordnung, und weise, gute Worte
wurden bei der Gelegenheit gewechselt. Der
Scheich Abdullah hatte besonders schön und
salbungsvoll gesprochen, und die Notablen, sich
langsam in ihren breiten Hiiften wiegend und
sich die wohlgepflegten Bärte streichend, wechselten
verständnißvolle Blicke untereinander, die sagen
wollten: „Was für wohlerzogene Leute sind
wir doch, wir Aleppiner! Sicherlich, auch die
Herren von Stambul, die sich so vornehin
dünken, könnten manches von uns lernen!" —
Und da, inmitten dieser würdevollen Pause,
in den: Augenblick, als der Scheich Abdullah
sich selbstgefällig, milde lächelnd verbengte und
den Tschibnk ergreifen wollte, — da wurde er
von dem großen Unglück cheimgesucht.
Er zuckte zusammen, als hätte ihn der
Schlag gerührt. Sein bleiches, edles Antlitz
überzog sich mit glühender Röthe. — Die ver-
sammelten Weißbärte wandten ihre Gesichter,
auf denen unbeschreibliche, erstaunte Entrüstung
zu lesen war, dem unglücklichen Sünder zu,
und dieser erhob sich, schlich gesenkten Hauptes,
niedergeschlagenen Blickes der Thüre zu — und
war verschwunden.
Der Vorsitzende athmete tief ans. Ein jeder
der Anwesenden griff stumm nach seinem
Tschibnk. Erst nach langer Pause unterbrach
der Präsident das peinlichste Schweigen, das
je in der Versammlung der Stadtverordneten
geherrscht hat. „Sprechen wir von etwas
Anderem," sagte er. —
Als Abdullah in seiner Wohnung angelangt
war, rief er seinen ältesten Sohn, betraute ihn
mit der Verwahrung seiner Habe, steckte eine be-
trächtliche Summe baaren Geldes in seinen Gür-
tel und nahm zärtlich Abschied von seinen: Kinde.
„Vielleicht sehen wir uns noch
einmal wieder — Jinschallah,
lebe wohl! Allah szelamet
werosin!"
„Aber Vater, Vater, warum
wollt Ihr uns verlassen?"
„Frage nicht, mein Sohn!
Ein großes Unglück ist mir wider-
fahren. Es ist mein Schicksal.
Ich muß es tragen. Du wirst
von mir hören. Gehab' Dich
wohl!"
Viele Tage lang irrte der
Scheich, von Gewissensbissen ge-
plagt, auf einsamen Wegen um-
her. Endlich gelangte er in ein
kleines Dorf. Dort ließ er sich
nieder. Eine Woche darauf setzte
n sich mit seinem Sohne in Ver-
bindung, damit ihm dieser im Geheimen die
zun: Leben nothwendigen Geldmittel zukommen
lasse, und dann tauchte er in dem stillen Lebe::
des weltfremden syrischen Dorfes unter und
verschwand für alle, die ihn gekannt hatten,
als wäre er gestorben.
* «i
-r-
So lebte er lange Jahre — zwanzig Jahre.
Da überkam ihn unwiderstehliche Sehnsucht
nach seiner Heimat und er brach dahin auf.
Gegen Sonnenuntergang des fünften Tages
erblickte er endlich sein geliebtes Aleppo. Er
begrüßte den Strom, auf dem er als Kind
und als Mann glückliche Stnnden verlebt hatte,
und seine Augen weideten sich mit unbeschreib-
licher Wehmuth an der Schönheit der Moschee
Dschami ed Adliseh. — Unter schattigen Bäumen
an einem Brunnen in der Nähe der Vorstadt,
die er bewohnt hatte, — dort ließ er sich nieder.
Seine Augen suchten sein altes Haus und
fanden es, und sein Blick verdunkelte sich bei
den: Anblick der Stätte seines verlorenen
Glückes. Er ließ das Haupt sinke:: und bittere
stille Thränen rannen über seine gefurchten
Wangen in den milchweißen Bart. — Plötzlich
vernahm er eine sanfte Stimme.
„Seid Ihr krank, :nein Vater, labungs-
bedürftig? Könnte ich Euch helfen?"
Abdullah hob langsan: das ehrwürdige
Haupt. Vor ihm stand ein junges schlankes
Mädchen, fast noch ein Kind, das einen Wasser-
krug auf der rechten Schulter trug und dessen
dunkle, milde Augen mit einem Ausdruck innigen
Mitleids auf ihn: ruhten.
„Ich danke Dir, n:eine Tochter," sagte
Abdullah. „Gieb mir von den: Wasser dieses
Brunnens zu trinken."
Das Mädchen beugte sich schnell über den
Brunnen, füllte ihren Krug und hielt ihn den:
Durstigen entgegen, der in tiefen Zügen daraus
trank.
„O, des köstlichen Wassers! — Ich danke
Dir, meine Tochter. — Wie soll ich Dich
nennen?"
„Mein Name ist Naimeh, die Tochter
Ibrahims."
„Sprichst Du von Ibrahim, einem Sohne
Edhems?"
„Ihr sagt es."
Der alte Mann wiederholte langsam, nach-
denklich: „Ibrahim, Sohn Edhen:s."
„Ihr kennt ihn?"
„Er war in alten Zeiten mein guter
Freund."
„O, dann laßt mich Euch zu ihm führen,
damit auch ich mich seiner Freude, Euch wieder-
zusehen, freuen kann."
„Nicht heute, meine Tochter, aber bald, so
hoffe ich, werde ich ihn begrüßen können. Wie
ist seine Gesundheit?"
„Allah sei gelobt: er ist stark und guten
Muthes."
„Er ist so alt wie ich. — Und ich bin
schwach und traurig."
„Ihr erscheint mir älter als er. Das ist
ein kleines Unglück. Möge Allah Euch vor
größerem bewahren. Die Reise wird Euch
ermüdet haben. Kommt und ruht unter dem
Dache eines alten Freundes. Das wird Euch
stärken und verjüngen."
„Ich hoffe es. Ich will Allah und dem
Propheten inbrünstig danken, wenn es mir ver-
gönnt sein wird, in meiner Heimath von den
langen Wanderungen meines Lebens zu ruhen."
„Darf ich Euch bitten, mir Euren ehren-
werthen Namen zu sagen, damit ich den Vater au!
die Freude Eures Besuches vorbereiten kann?"
„Ich wünsche, ihn zu überraschen. Sage
ihm nur, wenn Du mit ibm von unserer
Begegnung sprichst, ein alter Freund von ihn:
sei nach langer Abwesenheit wieder heinrgekehrt
und würde ihn morgen aufsuchen."
„Es soll geschehen, wie Ihr befehlt."
Naimeh füllte ihren Krug von neuem,
dann trat sie wieder vor den Scheich, im: sich
ehrerbietig grüßend von ihm zu verabschieden.
Tie Augen des alten Mannes ruhten wohl-
gefällig auf der schlanken Gestalt des Mädchens.
„Wie alt bist Tu, Naimeh binti Ibrahim ?"
Wie alt?.Das kann ich Euch
nicht genau sagen. Ich wurde
geboren fünfJahre, nachden: des
Vaters Nachbar, dem Scheich
Abdullah, das große Unglück zu-
gestoßen war.Allah schenke
Euch Frieden." Damit entfernte
sich Naimeh.
Abdullahs weitgcöffnete Au-
gen folgten der verschwindenden
Gestalt, ohne sie zu sehen. Ein
leises Zittern durchrieselte seinen
Körper. Dann raffte er sich schwer-
fällig auf, ergriff den langen
Wanderstab und schleppte seine
müden, alten Glieder zurück nach
den: syrischen Dorfe, wo nien:n?:d
sein schweres Schicksal ahnte.
Dort ist er wohl längst ge-
storben. Niemand weiß es. Nie-
mand hat je wieder von ihm
gehört. Er ist vergessen; aber die
Erinnerung an sein großes Un-
glück lebt in Aleppo, und es giebt
dort noch uralte Greise, die sich
des Unglücklichen aus ihrer frühe-
sten Jugend erinnern.
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