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1900

JUGEND

Nr. 10

Der Briefkasten

Fidus

ba; auch an die Innenseite der Taille näht inan
Streifen dieses Parfümleders. Außerdem par-
fümirt man neuestens das Paar, und zwar
nicht etwa wie seinerzeit mit den schrecklichen
paarölen, sondern mit wohlriechendem Puder,
hauptsächlich echter Iriswurzel. Nachdem dieser
Wohlgeruch fast der Einzige ist, der die Nerven
nicht angreift, so kann man das wirklich nicht
fo übel finden, umsoweniger, als nichts das
paar anmuthiger auseinanderfallen läßt, wie
leichter Puderstaub. Die Frisuren sind dabei
von erfreulicher Mannigfaltigkeit. —

) Der paarknoten oder wie die Wienerin sagt,
der Knödel, wenn das paar üppig, das Knö-
derl, wenn es dünn ist — hat eine Wanderung
über den ganzen Kopf gemacht. Vor ein paar
Jahren tief im Nacken, rutschte er allmählich
immer höher und jetzt balancirt er gar auf
der Stirn knapp über der Nase, wie etit Eere-
viskäppchen. Eine kühne Kleidsamkeit läßt
sich dieser vornübergeneigten Paarmasse nicht
absprechen, obschon sie vorerst nur von beson-
ders muthigen Damen getragen wird. Andere
tragen hingegen wieder geradewegs die Groß-
mutterfrisur aus dein Jahre 48 mit langen
Ohreuscheiteln, was fast noch mehr Eourage
zeigt; die Mehrzahl trägt den Knödel etwas
höher, als es die Griechinnen für schön fanden,
Schopf oder lose Scheitel immer selbstverständ-
lich. Das Paar dabei wenig oder gar nicht zu
brennen, gehört zur großen Neuheit, wahr-
scheinlich, weil man so besser zerrauft aussieht.

Das Mieder habeil die Allermoderirsten
zum Tailzen bei Seite gelegt, wo sollteil sie
auch dafür Platz findeil, bei deil geschilderten
Taillenrudimenteil? Das heißt man, aus der
Noth eine Tugend machen.

Unsere jüilgste Generatioil, die sich im Ball-
saal iloch mehr als anderswo als Perreil der
Welt fühlt, secessionirt überhaupt iit Allem
und Jedem. So macht die deutsche Jugend eut-
rüstet Strike, sowie Anderes als Walzer ge-
tanzt werden soll. Für die schönst^Tanzordnung
gilt heute jette, die nur Ouadrillen und Walzer
eilthält. weil nun aber die offizielleil uild
aristokratischen Kreise hierzillande bekanntlich
nicht ohne slavischem Einschlag sind, gibt es
plötzlich ettte Gegenströmung, welche die odiose
Polka, den böhmischen Nationaltanz für be-
sonders elegant, den Walzer für plebejisch er-
klärt. Mail darf auf deil Ausgang gespaililt
sein — jedenfalls hat der Walzer nicht ilur
die Deutscheil, soilderil die Frauen uild —
Johann Strauß als Bundesgenossen.

Dailil erfindeil sich die perrschaften iloch
allerlei Privattanzmoden. Fiildeil sie, daß sie zu
weilig Platz zum Tanzen habeil, oder sollst Feilte
Tust, so promeniren sie ruhig ringsum, mitten
durch die Tanzpaare — eine Idee der letzteil
Jahre. Ouadrille nicht engagirt zu habeil, ist ein
nationales Unglück; sie nicht mitzutanzen, ein
Feinschmeckervergnügen; die Gallerien und
Saalecken sind über und über voll von Doppel-
paaren, ja mail stellt sich Stühle initten ttt die
Kolonnen, um die Tour mit Eelat zu versitzen.
Mindestens ist es höchst unfesch, sie anstäildig

zu tanzen; aller mögliche Unsinn, Pospitiren,
perreilwechseln, Walzer uild rasender Ringel-
reihen wird eiilgeflochten, und zwar auch auf
großeil Bällen. Der Kotillon wird als rück-
sichtslose „Auswurzerei" der Tänzerinnen be-
zeichnet uild dürfte ilächsteils nur die ganz
Naiven nlehr als Schaustücke gewiililen könilen;
die jugendkräftigsteil Ballcomites laffen ihn
daher schon ganz weg. Dagegen liebt Alles
den Sir Koger; doch hat inail den smarteil
amerikanischen Matrosenlanz um die tolle letzte
Tour verkürzt, weil bei dem wilden Moulinet,
wobei alle Paare an einer zusammengeknüpften
Serviette hängen, wiederholt böse Stürze vor-
gekommeil sind.

Das Novum dieses wiener Earnevals war:
anstatt mit der Ehoxin'schen ^-äur-Polo-
naise mit dem vornehineil Lancier zu eröffnen.
Sind irgendwo genügend Polen, so wird eine
Großmazur eingeschobeil, findet sich eine An-
zahl Magyareil, gibt es einen feurigen Esärdas.
vielzüngiges Oesterreich, so machst du deine
inileren Ausgleiche. Auf den Kostümbälleil
fühlt man sich neuzeitlicher denn je. Die Damen
fasten die weiblich-costümliche Seite der heut-
igeil Kunst init so viel Geschick uild Anmuth
auf, daß die gewohilteil geographischeil und
geschichtlichen Trachten daneben ganz unbe-
deutend erscheiilen. Bei diesem Geschnracks-
wechsel ist nur schade um das berühmte, be-
währte Ballgespräch: „Mein Fräulein, was
sind Sie eigentlich?" — will der perr ilicht
ganz mit Brettern vernagelt erscheinen, so
bleibt ihm nichts übrig zu sagen als: „Aeh,
Secession, famos!"

Aatalie Bruck-Auffenberg (Wien)

Oer Orietkasten

£auernd stebt ein Ungetbüm
Millen auf der Gasse.

Hab Dieb nie verwegen ibm,

Dass es Dieb nicht fasse.

Hur wer rein ist, trete bin
Zu dem Ungeheuer,

Mer ibm nabt mit argem Sinn,

Der bezahlt es tbeuer.

Schnappt es mal zur Unzeit zu,

Ist die Reu vergebens,

Und dabin vielleicht die Ruh
Sin es ganzen Gebens.

Bist Du je im Zweifel drum,

Mas Dir förderlicher:

Kehre lieber wieder um —

Sicher, freund, ist sicher.

Servus

Sprüche

(Iloch immer gibt es mackere Männer,

Die für der Menschheit Mohl sich selbstlos

plagen,

Mur suche man sie nicht öei Jenen,

Die es mit (Pathos von sich selber sagen.

Das ist die wahre Mannesgröße,

Die sieh nicht nach der Decke streckt.

Der Feigling gibt sich keine Klöße
(Und lebt aus lauter Ängst korrekt.

Ob jung. 06 alt, oß arm, 06 reich,

Die Menschen bleiben stets sich gleich:

(Vor Seiten trug man Ach eklen Kappen,
(Kehangte sich mit ßunten Lappen.

Heut' tragt man das Monokel

Stolz wie ein rechter Gockel. «e.

Literarische Makro- uncl
Mikrobiolik

Ein guter Witz, ein Gassenhauer —
Die haben wohl ein Lust rum Dauer.

Ein kunstgelehrtes Feuilleton
Vergißt am zweiten Tag man schon.

Ein Bändchen lyrischer Gedichte
Wird, ach, noch halber fast zunichte!

Und den Roman im Tageblatt
.Kriegt man nach drei, vier Wochen satt.

Doch ist ein Werk unsterblich gar,

So lebt es wohl — ein halbes Jahr!

II. Ei—ff.

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Fidus: Der Briefkasten
Ei-g.: Literarische Makro- und Mikrobiotik
Re.: Sprüche
Arthur Hirth: Zeichnung ohne Titel
 
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