Oben und unten
Von
Fritz Schott
?Hie Nachmittagssonne
streift seitwärts die
hohen Spiegelscheiben eines
vornehmen Eckhauses, das
stolz die einfachen Nachbar-
gebäude überragt. Die
Fenster im ersten Stock,
mit reichen Spitzengardi-
nen verhängt, wehren den
spärlichen Strahlen Ein-
laß, und die Leute hinter
ihnen scheinen sich nicht viel
um sie zu kümmern, denn
trotz der frühen Nachmit-
tagstunde flammt überall
in den Zimmern weiß
leuchtendes Glühlicht ans.
Nur an dem hohen Erker-
fenster, an dem zwei Kin-
der, ein kleines Mädchen
und ein etwas größerer,
derber Knabe auf der brei-
ten Fensterbank zusammen-
gekauert hocken, kommt die
Novembersonne zu ihrem
Recht. In tausend kleinen
Tröpfchen, die an den Fen-
stern hängen, spiegelt sie
sich in allen Regenbogen-
farben, und die Kinder
jauchzen bei diesem Anblick
voller Entzücken.
Drüben ist große Gesell-
schaft; die Mädchen laufen
mit leckeren Schüsseln über
den Flur, und leise dringt
der Duft dieser Herrlichkeiten in das Kinder-
zimmer. Der Knabe hebt die Nase und wendet
den Kopf zur Thür, dann kehrt er ihn rasch zurück
und blickt entzückt auf die kleine Gefährtin, welche
ihr kleines Näschen hart an die Scheiben drückt
und mit der Spitze in dem feuchtbeschlagenen
Fensterglas eine lange Furche zieht.
„Det kann ick ooch!" sagt er triumphierend,
und sofort drückt er seine himmelstürmende Stups-
nase energisch an's Fenster und durchzieht den
Fensterschweiß mit breiten Rinnen.
„Meine Rüllen sind ville dicker," wendet er
sich stolz zu der Kleinen.
„Du bist auch viel größer," erwidert das
Mädchen ziemlich geknickt.
„Und neu janzet Ende stärker," sagt er selbst-
bewußt.
Die Kleine sieht bewundernd zu ihm auf.
„Und Vater ist ooch ville stärker, als Deiner,
weeßte det?"
„Ja," erwidert sie kleinlaut, „er ist furcht-
bar stark! — Als Papa angereist kam, konnte
er blos die Reisetasche tragen, aber Dein Vater
nahm den großen Koffer auf den Rücken — und
gleich war er mit oben!"
„Na siehste? — Und ville mehr kann er
noch! Sonntags Abends, wenn er mal nich
schustert, dann spielt er Ball mit mir!"
„Das kann mein Papa auch," eiferte das
Mädchen.
„Ja, aber nich so wie Vater! Ihr habt'n
Ball — nich? — Na, siehste, wir aber nich, er
schmeißt mir hoch wie'n Jummiball."
„Fällst Du denn nicht auf die Erde?"
„Nee doch, er fängt mir allemal uff!"
Die Kleine seufzte. Ja, das war mehr, als
ihr Papa konnte.
Der Junge, sich seiner Ueberlegenheit bewußt,
sprang von seinem Platz auf und unterzog die
vielen Spielsachen, die umherstanden, einer ein-
gehenden Musterung.
1900
Wickele Rockmusik
„Schade det du nich Pferde oder Peitschen,
oder 'nen Wagen hast," sagte er nach einer Weile.
„Einen Wagen habe ich doch! Sieh mal,
meine große Puppe schläft drin!" Sie trat an
dies Lieblingsspielzeug, schlug die Spitzengar-
dinen zurück und zeigte glückstrahlend ihre Puppe.
„Sie kann wirklich die Augen zumachen, und
wenn ich sie drücke, sagt sie: Mama!"
Dem Jungen schien das nicht weiter zu im-
poniren, denn sofort antwortete er:
„Wir Hallen ooch mal so'n Wagen, aber ville
größer und schöner, und da war een wirklichtet
Kind drinne."
Der Kleinen Augen richteten sich groß auf
den Kameraden.
„Ein wirkliches Kind? — Habt Jhr's jetzt
nicht mehr?"
„Nee — schon lang' nich!"
„Wo habt Jhr's denn gelassen?"
„Dot is et — inngebuddelt!"
Verwundert horchte die Kleine auf, sie be-
griff nicht, was sie eben gehört.
„Was ist das?" fragte sie.
„Na, in de Erde gebuddelt — bejraben!"
„Euer lebendiges Kind?"
„Ja doch! Als et dot war!"
„So todt wie unser Kanarienvogel?"
„Na jewiß doch! Blos det wir't nich in'
Jarten bejraben konnten, wie Ihr Euren Bvgel!"
„Wo denn?"
„Na draußen, ufs'n Kirchhof, itffn Jesund-
brunnen!"
„Liegt es da nun ganz allein?"
„I wo — da sind ville andere mit bei, von
uns all vier Kinder—un der olle Großvater ooch!"
Das Mädchen konnte das Alles nicht fassen,
nach einer Pause fing es wieder an:
„So viel Kinder sind bei Euch?"
„Nu nich' mehr. Nu bin ick doch blos un'Maxe,
aber wir kriejen wieder welche. Wir kriejen immer-
zu Kinder, een Winterkind un een Sommerkind!"
J. Daschner f
„Vielleicht bekommen wir
auch noch eins," sagte die
Kleine schüchtern.
„Nee, Mutter sagt, so wat
trefft blos bei uns, weil wir-
se nich wollen!"
„Du willst keinen kleinen
Bruder?"
„N—nee!"
„Ich wollte wohl einen,"
sagte sie mit glänzenden Augen.
„Ja, Ihr Habt ooch ville
Stub'n und Platz un Betten!
Maxe und ick hab'n man blos
een Bette — da woll'n wir nich
noch eenen zu haben! Nu
woll'n wer aber was spielen,
Hörste?"
„Erzähl' mir lieber noch
was," bat das Kind, dem eine
fremde Welt aufging.
„Na, wat denn?"
„Wo Eure Kinder nun sind
— und der Großvater!"
Der Junge wandte den Kops
zur Thür und zog die Nase.
„Still mal! Hör blos, wie's
nach Braten riecht!"
„Marie sagt, wenn der
Braten vorbei ist, und das
Süße kommt, holt sie mich in
den Eßsaal."
„Nimmste mir denn mit?"
Das Mädchen betrachtete er-
staunt ihren Gesellschafter. „Hast
Du denn feines Zeug an?"
„Moll!"
„Auch 'n Taschentuch?"
„Nee."
„Da, nimm meines! Und artig mußt Du
sein, hörst Du?"
„Ja doch! — Kriejen wir noch wat zu essen?"
Sie lachte hell auf. „Möchtest Du was?"
„Sehr jerne!"
„Hast Du denn nicht Mittag gegessen?"
„Feste! Aber ick kann noch mal essen!"
Bewundernd blickte sie den Freund an.
„Ich sag's Marie! — Aber nun erzähl mir
noch weiter von vorhin!"
Der Knabe gähnte. Als das Dienstmädchen
den Portiersjungen, der in dem Ruf eines eben-
so verständigen wie amüsanten kleinen Burschen
stand, zur Unterhaltung für das kleine Fräulein
heraufholte, waren ihm Kuchen und andere Herr-
lichkeiten versprochen worden, und gerade jetzt
schien es dem Jungen eine Ewigkeit, bis er in
den Besitz dieser verlockenden Dinge kommen sollte.
Das Mädchen strich sich die Falten seines
weißen Kleidchens glatt und begann wieder auf
den Jungen einzureden.
„Wenn Du mir jetzt noch was erzählst, geb
ich Dir nachher all das Schöne, was ich be-
komme!"
„Wat kriechste denn?"
„Chocolade und so was!"
Als der Knabe noch immer schwieg, fragte
die Kleine dringend : „Wo Eure Kinder sind und
der Großvater will ich wissen."
„Weeß ick et denn? Jestorben sind se un
denn in 'nen feinen Wagen nach'n Kirchhof.
Haste so wat noch nich jesehn?"
Die Kleine schüttelte den Kopf.
„Noch keenen Leichenwagen?"
„Nein!"
„Mit die schöne, schwarze Pferde und schwarze
Kutscher mit so ne Hüte?"
„Nein!"
„Det is sauber! Un wenn Ihr sterbt, kriegt
Ihr noch 'n ville seinem Wagen, 's jiebt noch
feinern, sagt Mutter."
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