Nr. 24 .JUGEND- 1900
Zlötenspielerin
Von der Last des Gedankens und der Seele befreit, Mädchen,
Singt Deine Jugend in Dir sich ein Lied!
Süßes, einfältiges Tönen der Hirtenflöte, oh Wunder--
Gebunden wieder trägst Du in Dir alles Sehnen
und Denken der Spielerin!
Lrhebung
Alles ist unterworfen der ewig wirkenden Crd-Kraft!
Selbst der Thnrmfpitze Kreuz drängt gewichtig herab!
Eines nur erlöst Dich von unentrinnbarer Schwere — —
Deine Seele, die Dich in die Sterne entführt!
Mademoiselle Angele
von JP. Merk
JßSie eine große graue Raupe mit weißen
Tupfen windet sich der Zug der Instituts-
Zöglinge — mit ihren mausfarbenen Kleidern und
waschbaren Sonnenschirmen — durch die Wiesen,
die sich am Fluß-Ufer entlang ziehen. Voran
die Kleinen mit pausbackigen Kindergesichtern,
dann die Längergestreckten, die eckigen Backfische
und endlich die Sechzehnjährigen, die in ihrer
blühenden Reife nicht mehr in die knappe Jn-
stitutstracht Hineinpassen und die sich je nach
ihrer Gemütsbeschaffenheit trotzig oder schmachtend
aus dem Zwang heraussehnen. Hinter darein,
spitznasig und würdevoll, Mlle Angele, die fran-
zösische Lehrerin und Aufsichtsdame.
'Das züchtige schwarze Krügelchen verhüllt in
strengen Falten ihre Brust. Der haubenartige
Hut läßt an ehrbarer Geschmacklosigkeit nichts zu
wünschen übrig. Ohne Zierrath und Schwung
stießt der dunkle Rock zu den flachen Zeugstiefeln
mit Gummizug herab. Aber manchmal, wenn
sie den Saum des Kleides emporhebt, wenn sie
nach einem Blick auf den düsteren Himmel rascher
schreitet, liegt dennoch in ihren Bewegungen etwas
Neckisches — eine gewisse welke Grazie, eine un-
bewußte verjährte Coquetterie.
Keine leichte Aufgabe, eiue Schaar halb-
erwachsener Mädchen hüten und sie zum Anstand
ermahnen! Im pleinair sind sie noch ungezogener
als in den Klassenzimmern. Die übermüthige
rothhaarige Carla hat einen Käfer gefangen, den
sie einer Gefährtin an den Hals krabbeln läßt;
Toni der Wildfang kitzelt die voranschreitende
brave Helene — das Muster aller Tugenden —
mit einem Grashalm. Die allzeit hungrige dicke
Frieda hascht nach am Baum hängenden Kirschen
und der Zweig, den sie rasch wieder losläßt,
schnellt den hinter ihr Gehenden in das Gesicht.
Und immer lautes, unpassendes Aufkreischen,
Kichern, Gelächter! Eine Kleine, — o Entsetzen!
— hebt gar den Rock in die Höhe und rückt das
lose gewordene Strumpfband zurecht.
„01i! mais! N’avez-vous pas honte? Quelles
manieres pour une jeune fille!“ klingt es hinter
ihr in höchster Entrüstung.
Aber trotz all? des mühsam gezügelten Muth-
willens, bisher herrschte doch noch Disziplin und
vorschriftsmäßige paarweise Ordnung.
Da fährt plötzlich aus einer rasch empor-
gezogenen Wolke ein greller Blitzstrahl nieder.
Ein lauter Donnerschlag folgt. Wilde Flucht
bemächtigt sich der Kinder. Nun ist kein Halten
mehr. Die Französin vermag mit ihren trippeln-
den Schritten der verstört dahinjagenden Schaar
nicht zu folgen.
Sie drängen sich wie ein Häuflein furcht-
samer Hühner in die nächstbeste offenstehende
Thüre. Eine lange, nach vorne offene Holz-
gallerie bietet hier einen gewissen Schutz.
Nile kommt athemlos und aufgeregt nach
und zankt in ihrem reizenden Französisch, mit
hoher schriller Stimme. Sie muß erst die Lorg-
nette hervorholen, um sich umzusehen. Ihre
Augen werden starr vor Entsetzen. Die Nase
scheint sich noch spitzer über den eingefallenen
Mund emporzustrecken.
0h! Quelle horreur!
In den Eingang zu einem Männer-Schwimm-
bad Haben sich die tollen Kinder in ihrer Gewitter-
furcht geflüchtet. An der langen Holzgallerie
sind Reihen von Thüren — die Ankleidekabinen.
Eben kommen ein Paar nackte Herren, ein dicker
Kahlkopf und ein großer, hagerer Jüngling mit
rosa Schwimmhosen, die Stufen heraufgeklettert.
„Tournez vos tetes, Madmoiselles! Nicht
anschnuen, diese nackte Mann! — Sortez, sortez
vite," ruft Mlle Angele in Verzweiflung.
Aber ihre Kraft erlahmt, ihre Stimme er-
stickt mit einem Male; nur ein Angstschrei ent-
fährt noch ihren blassen Lippen. Gerade ihr
gegenüber hebt sich ein Mann aus dem Wasser
empor, — ein hübscher, schon etwas ergrauter
Kopf über einem kraftvollen Körper. Wie von
den französischen Lauten gelockt, lauscht er neu-
gierig und schaut sich venvundert, lächelnd
um, schaut hr forschend in das fahlgewordene
Gesicht.
Mlle Angele muß sich an die Holzwand
anklammern. Sie wischt sich mit dem Tuch den
Angstschweiß von der Stirne. Sie ist einer Ohn-
macht nahe.
Der Herr im Wasser trällert ein französisches
Lied und platscht dann wieder zurück in die
Flußwellen.
Mlle Angele schüttelt das Haupt, wie um
ihre Schwäche abzuwehren. Sie rafft sich auf
und schwingt mit zitternder Hand den Sonnen-
schirm wie einen Commandostab.
„Sortez, sortez vite, Madmoiselles! Vite,
vite! Nous partons ! Je ne resterai pas une
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Zlötenspielerin
Von der Last des Gedankens und der Seele befreit, Mädchen,
Singt Deine Jugend in Dir sich ein Lied!
Süßes, einfältiges Tönen der Hirtenflöte, oh Wunder--
Gebunden wieder trägst Du in Dir alles Sehnen
und Denken der Spielerin!
Lrhebung
Alles ist unterworfen der ewig wirkenden Crd-Kraft!
Selbst der Thnrmfpitze Kreuz drängt gewichtig herab!
Eines nur erlöst Dich von unentrinnbarer Schwere — —
Deine Seele, die Dich in die Sterne entführt!
Mademoiselle Angele
von JP. Merk
JßSie eine große graue Raupe mit weißen
Tupfen windet sich der Zug der Instituts-
Zöglinge — mit ihren mausfarbenen Kleidern und
waschbaren Sonnenschirmen — durch die Wiesen,
die sich am Fluß-Ufer entlang ziehen. Voran
die Kleinen mit pausbackigen Kindergesichtern,
dann die Längergestreckten, die eckigen Backfische
und endlich die Sechzehnjährigen, die in ihrer
blühenden Reife nicht mehr in die knappe Jn-
stitutstracht Hineinpassen und die sich je nach
ihrer Gemütsbeschaffenheit trotzig oder schmachtend
aus dem Zwang heraussehnen. Hinter darein,
spitznasig und würdevoll, Mlle Angele, die fran-
zösische Lehrerin und Aufsichtsdame.
'Das züchtige schwarze Krügelchen verhüllt in
strengen Falten ihre Brust. Der haubenartige
Hut läßt an ehrbarer Geschmacklosigkeit nichts zu
wünschen übrig. Ohne Zierrath und Schwung
stießt der dunkle Rock zu den flachen Zeugstiefeln
mit Gummizug herab. Aber manchmal, wenn
sie den Saum des Kleides emporhebt, wenn sie
nach einem Blick auf den düsteren Himmel rascher
schreitet, liegt dennoch in ihren Bewegungen etwas
Neckisches — eine gewisse welke Grazie, eine un-
bewußte verjährte Coquetterie.
Keine leichte Aufgabe, eiue Schaar halb-
erwachsener Mädchen hüten und sie zum Anstand
ermahnen! Im pleinair sind sie noch ungezogener
als in den Klassenzimmern. Die übermüthige
rothhaarige Carla hat einen Käfer gefangen, den
sie einer Gefährtin an den Hals krabbeln läßt;
Toni der Wildfang kitzelt die voranschreitende
brave Helene — das Muster aller Tugenden —
mit einem Grashalm. Die allzeit hungrige dicke
Frieda hascht nach am Baum hängenden Kirschen
und der Zweig, den sie rasch wieder losläßt,
schnellt den hinter ihr Gehenden in das Gesicht.
Und immer lautes, unpassendes Aufkreischen,
Kichern, Gelächter! Eine Kleine, — o Entsetzen!
— hebt gar den Rock in die Höhe und rückt das
lose gewordene Strumpfband zurecht.
„01i! mais! N’avez-vous pas honte? Quelles
manieres pour une jeune fille!“ klingt es hinter
ihr in höchster Entrüstung.
Aber trotz all? des mühsam gezügelten Muth-
willens, bisher herrschte doch noch Disziplin und
vorschriftsmäßige paarweise Ordnung.
Da fährt plötzlich aus einer rasch empor-
gezogenen Wolke ein greller Blitzstrahl nieder.
Ein lauter Donnerschlag folgt. Wilde Flucht
bemächtigt sich der Kinder. Nun ist kein Halten
mehr. Die Französin vermag mit ihren trippeln-
den Schritten der verstört dahinjagenden Schaar
nicht zu folgen.
Sie drängen sich wie ein Häuflein furcht-
samer Hühner in die nächstbeste offenstehende
Thüre. Eine lange, nach vorne offene Holz-
gallerie bietet hier einen gewissen Schutz.
Nile kommt athemlos und aufgeregt nach
und zankt in ihrem reizenden Französisch, mit
hoher schriller Stimme. Sie muß erst die Lorg-
nette hervorholen, um sich umzusehen. Ihre
Augen werden starr vor Entsetzen. Die Nase
scheint sich noch spitzer über den eingefallenen
Mund emporzustrecken.
0h! Quelle horreur!
In den Eingang zu einem Männer-Schwimm-
bad Haben sich die tollen Kinder in ihrer Gewitter-
furcht geflüchtet. An der langen Holzgallerie
sind Reihen von Thüren — die Ankleidekabinen.
Eben kommen ein Paar nackte Herren, ein dicker
Kahlkopf und ein großer, hagerer Jüngling mit
rosa Schwimmhosen, die Stufen heraufgeklettert.
„Tournez vos tetes, Madmoiselles! Nicht
anschnuen, diese nackte Mann! — Sortez, sortez
vite," ruft Mlle Angele in Verzweiflung.
Aber ihre Kraft erlahmt, ihre Stimme er-
stickt mit einem Male; nur ein Angstschrei ent-
fährt noch ihren blassen Lippen. Gerade ihr
gegenüber hebt sich ein Mann aus dem Wasser
empor, — ein hübscher, schon etwas ergrauter
Kopf über einem kraftvollen Körper. Wie von
den französischen Lauten gelockt, lauscht er neu-
gierig und schaut sich venvundert, lächelnd
um, schaut hr forschend in das fahlgewordene
Gesicht.
Mlle Angele muß sich an die Holzwand
anklammern. Sie wischt sich mit dem Tuch den
Angstschweiß von der Stirne. Sie ist einer Ohn-
macht nahe.
Der Herr im Wasser trällert ein französisches
Lied und platscht dann wieder zurück in die
Flußwellen.
Mlle Angele schüttelt das Haupt, wie um
ihre Schwäche abzuwehren. Sie rafft sich auf
und schwingt mit zitternder Hand den Sonnen-
schirm wie einen Commandostab.
„Sortez, sortez vite, Madmoiselles! Vite,
vite! Nous partons ! Je ne resterai pas une
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