1900
JUGEND
Nr. 24
Traurigkeit
Weinet, sanfte Mädchen--!
Solange Ihr weinet, tragt Ihr im traurigen Herzen
die Welt!
Weinet, sanfte Mädchen-.
Haltet oor das bebende Antlitz die Hände--
Wenn Ihr sie tächelnd senkt,
Ist es zu Ende!
Braut
Wie ein ewig strandendes Meer war Deine Seele, Vraut, einstens!
Nun, da Du liestst und geliestt wirst?! Im Glase Wasser ein Sturm!
Dich, liestlich Verwirrte, umstanden einst rathlos die Tanten-
Nester die Grenzen des All stlicktest Du sinnend hinaus!
Alles gehörte noch Dir, weil noch nichts Dir gehörte-
Und des Genügens Gift lähmte die Seele Dir nicht!
Dich, liestlich Verwirrte, umstanden einst rathlos die Tanten-
Ungenügsamste, der nun Monsieur Charles genügt!?!
Peter Jlltenberg
minnte de plus dans ce lieu indecentl Et si
une de vous a la hardiesse de regarder la-bas,
eile sera punie d’une maniere exemplaire!“
Die Furcht vor der Strafe ist doch noch
größer als die Furcht vor dem Gewitter. Das
Blitzen hat etwas nachgelassen. Es regnet. Die
Mädchen folgen der aufgeregt dahinstürzenden
Lehrerin und spannen die Sonnenschirme auf.
Dabei stecken sie die Köpfe zusammen und
flüstern und deuten zurück. Ein hochinteressanter
Klatsch beschäftigt sie.
Als man an das klosterähnliche Gebäude
mit der hohen Gartenmauer und den vergitterten
Fenstern der Klassenzimmer gelangt, hat sich auch
die Anklägerin gefunden, die Mlle Angele mir
sittlicher Entrüstung offenbart, was man sich
bisher leise in die Ohren tuschelte:
„Else Müller hat dem Herrn im Schwimm-
Anzug Kußhände zugeworfen."
Else Müller ist eine der Größten, der Keck-
sten. Bon ihr sind in dem letzten Jahre die
schwärzesten Unthaten in den Notizbüchern der
Aufsichtsdamen verzeichnet worden. Ihre Noten
in Anstand und Ordnung wechseln zwischen drei
auf vier und vier mit einem Strich. Aber ein
solches Benehmen übertrifft doch jede Erwartung.
Nile Angele nimmt die Sünderin
denn auch mit einem vernichtenden
Blick bei der Hand und schleppt sie,
ohne auf die Frage: Was sie denn
gethan habe? nur zu antworten, in
das Zimmer der Direktrice.
Else wird es höchst unbehaglich.
Sie erforscht ihr schlechtes Gewissen.
Was mag denn nur aufgekommen
sein? Daß sie im Bett einen Baud
von Busch versteckt hat? Daß sie neu-
lich eine Baisertorte von zu Hause
mitnahm uui> dann in ihrer Tasche
zerdrückte? Man wird doch um Gotteswillen
ihre Carikaturen von Nile Angele und Miß
Hamilton nicht gestruden haben?
Das Gesicht der Jnstitutsvorsteherin läßt
das Schlimmste befürchten. „Plissirt wie ein
Appenzeller-Rock!" denkt der junge Unband in
frivoler Spottlust bei dem Anblick der finster ge-
runzelten Stirne.
Madame spricht von bedauerlichen Vorkomm-
nissen, von einer Strafe, die über die große
Klasse verhängt werden wird, wegen seiger Ge-
witterfurcht, und fragt dann, mit einer zu un-
heimlichem Geflüster herabsinkenden Stinune, ob
es wirklich möglich sei, daß ein in ihrem Hause
erzogenes junges Mädchen sich so weit habe ver-
gessen können, einem Herrn im Schwimmanzug
Kußhände zuzuwerfen, statt sich in keuschem Ent-
setzen abzuwenden?*
Die Angeklagte wagt wieder aufzublicken.
Sie muß sich bezwingen, um nicht herauszu-
platzen vor Lachen, so leicht ist es ihr zu Muthe.
„Der Herr im Schwimmanzug war ja mein
Papa!" sagt sie sehr reuelos.
„Son pere!“ ruft Mlle Angele unwillkürlich
mit einem Tone, als fände sie diese Wendung
ganz haarsträubend.
Aber die Sünderin wird mit einer salbungs-
vollen Mahnpredigt entlassen. Vor der Thüre
streckt sie das rosige Zünglein heraus und hält
die Hand mit einer sehr ungezogenen Bewegung
an die Nase. In ein Paar Wochen ist ja die
ganze Schinderei vorbei Erwachsen! Frei!
Neue Kleider! Herrjeh! Wird das lustig sein!
* * *
Der ersehnte Tag ist endlich gekommen.
Else hat der Direktrice zum letzten Mal die Hand
geküßt, unter lachenden Thränen die Freundinnen
umarmt und stellt nun bei dem Papa das Haus
auf den Kopf. Direktor Müller ist seit Jahren
Wittwer; er war an seine Junggesellenwirthschaft
gewöhnt und muß sich erst allmählich darein
finden, eine große Tochter bei sich zu haben.
Aber das ausgelassene junge Ding versteht es
vortrefflich, von ihrem neuen Heim Besitz zu er-
greifen und ihren Willen durchzusetzen. Sie hat
sich ein hübsches Zimmer ausgesucht und Papa
allerlei reizende Möbel abgeschmeichelt, auch den
schon als Känd bewunderten Empire-Schreibtisch
mit den vielen kleinen Schubfächern. Nun sitzt
sie in ihrem Bereich und kramt und ordnet,
während Papa nach Tisch nrit einem Freunde
bei einem guten Glase Wein eine Ci-
garre raucht.
Plötzlich kommt Else mit heißen
Backen und übermüthigen Augen
hereingestürmt.
„Papa! Papa! Schau, was ich
in dem Schreibtisch, in dem hinter-
sten Fach gefunden habe! Ein Packet
Photographien! Lauter schöne Da-
men! Einige sehr dekolletirt!"
„Donnerwetter, Mädel! Gib her!
Das ist nichts für Dich! Was brauchst
Du da herumzuschnüsfeln, wenn Du
40z
JUGEND
Nr. 24
Traurigkeit
Weinet, sanfte Mädchen--!
Solange Ihr weinet, tragt Ihr im traurigen Herzen
die Welt!
Weinet, sanfte Mädchen-.
Haltet oor das bebende Antlitz die Hände--
Wenn Ihr sie tächelnd senkt,
Ist es zu Ende!
Braut
Wie ein ewig strandendes Meer war Deine Seele, Vraut, einstens!
Nun, da Du liestst und geliestt wirst?! Im Glase Wasser ein Sturm!
Dich, liestlich Verwirrte, umstanden einst rathlos die Tanten-
Nester die Grenzen des All stlicktest Du sinnend hinaus!
Alles gehörte noch Dir, weil noch nichts Dir gehörte-
Und des Genügens Gift lähmte die Seele Dir nicht!
Dich, liestlich Verwirrte, umstanden einst rathlos die Tanten-
Ungenügsamste, der nun Monsieur Charles genügt!?!
Peter Jlltenberg
minnte de plus dans ce lieu indecentl Et si
une de vous a la hardiesse de regarder la-bas,
eile sera punie d’une maniere exemplaire!“
Die Furcht vor der Strafe ist doch noch
größer als die Furcht vor dem Gewitter. Das
Blitzen hat etwas nachgelassen. Es regnet. Die
Mädchen folgen der aufgeregt dahinstürzenden
Lehrerin und spannen die Sonnenschirme auf.
Dabei stecken sie die Köpfe zusammen und
flüstern und deuten zurück. Ein hochinteressanter
Klatsch beschäftigt sie.
Als man an das klosterähnliche Gebäude
mit der hohen Gartenmauer und den vergitterten
Fenstern der Klassenzimmer gelangt, hat sich auch
die Anklägerin gefunden, die Mlle Angele mir
sittlicher Entrüstung offenbart, was man sich
bisher leise in die Ohren tuschelte:
„Else Müller hat dem Herrn im Schwimm-
Anzug Kußhände zugeworfen."
Else Müller ist eine der Größten, der Keck-
sten. Bon ihr sind in dem letzten Jahre die
schwärzesten Unthaten in den Notizbüchern der
Aufsichtsdamen verzeichnet worden. Ihre Noten
in Anstand und Ordnung wechseln zwischen drei
auf vier und vier mit einem Strich. Aber ein
solches Benehmen übertrifft doch jede Erwartung.
Nile Angele nimmt die Sünderin
denn auch mit einem vernichtenden
Blick bei der Hand und schleppt sie,
ohne auf die Frage: Was sie denn
gethan habe? nur zu antworten, in
das Zimmer der Direktrice.
Else wird es höchst unbehaglich.
Sie erforscht ihr schlechtes Gewissen.
Was mag denn nur aufgekommen
sein? Daß sie im Bett einen Baud
von Busch versteckt hat? Daß sie neu-
lich eine Baisertorte von zu Hause
mitnahm uui> dann in ihrer Tasche
zerdrückte? Man wird doch um Gotteswillen
ihre Carikaturen von Nile Angele und Miß
Hamilton nicht gestruden haben?
Das Gesicht der Jnstitutsvorsteherin läßt
das Schlimmste befürchten. „Plissirt wie ein
Appenzeller-Rock!" denkt der junge Unband in
frivoler Spottlust bei dem Anblick der finster ge-
runzelten Stirne.
Madame spricht von bedauerlichen Vorkomm-
nissen, von einer Strafe, die über die große
Klasse verhängt werden wird, wegen seiger Ge-
witterfurcht, und fragt dann, mit einer zu un-
heimlichem Geflüster herabsinkenden Stinune, ob
es wirklich möglich sei, daß ein in ihrem Hause
erzogenes junges Mädchen sich so weit habe ver-
gessen können, einem Herrn im Schwimmanzug
Kußhände zuzuwerfen, statt sich in keuschem Ent-
setzen abzuwenden?*
Die Angeklagte wagt wieder aufzublicken.
Sie muß sich bezwingen, um nicht herauszu-
platzen vor Lachen, so leicht ist es ihr zu Muthe.
„Der Herr im Schwimmanzug war ja mein
Papa!" sagt sie sehr reuelos.
„Son pere!“ ruft Mlle Angele unwillkürlich
mit einem Tone, als fände sie diese Wendung
ganz haarsträubend.
Aber die Sünderin wird mit einer salbungs-
vollen Mahnpredigt entlassen. Vor der Thüre
streckt sie das rosige Zünglein heraus und hält
die Hand mit einer sehr ungezogenen Bewegung
an die Nase. In ein Paar Wochen ist ja die
ganze Schinderei vorbei Erwachsen! Frei!
Neue Kleider! Herrjeh! Wird das lustig sein!
* * *
Der ersehnte Tag ist endlich gekommen.
Else hat der Direktrice zum letzten Mal die Hand
geküßt, unter lachenden Thränen die Freundinnen
umarmt und stellt nun bei dem Papa das Haus
auf den Kopf. Direktor Müller ist seit Jahren
Wittwer; er war an seine Junggesellenwirthschaft
gewöhnt und muß sich erst allmählich darein
finden, eine große Tochter bei sich zu haben.
Aber das ausgelassene junge Ding versteht es
vortrefflich, von ihrem neuen Heim Besitz zu er-
greifen und ihren Willen durchzusetzen. Sie hat
sich ein hübsches Zimmer ausgesucht und Papa
allerlei reizende Möbel abgeschmeichelt, auch den
schon als Känd bewunderten Empire-Schreibtisch
mit den vielen kleinen Schubfächern. Nun sitzt
sie in ihrem Bereich und kramt und ordnet,
während Papa nach Tisch nrit einem Freunde
bei einem guten Glase Wein eine Ci-
garre raucht.
Plötzlich kommt Else mit heißen
Backen und übermüthigen Augen
hereingestürmt.
„Papa! Papa! Schau, was ich
in dem Schreibtisch, in dem hinter-
sten Fach gefunden habe! Ein Packet
Photographien! Lauter schöne Da-
men! Einige sehr dekolletirt!"
„Donnerwetter, Mädel! Gib her!
Das ist nichts für Dich! Was brauchst
Du da herumzuschnüsfeln, wenn Du
40z