Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 32 (06. August 1900)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0095
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 32

. JUGEND

1800

rath ab, und wenn es auch der Bundesrath
nunimmt, dann werden unsere Richter und
Staatsanwälte und unsere Polizei dieses Ge-
setz schon so handhaben, daß den idealen Gütern
kein Schade erwächst, und wenn sie es auch
in einzelnen Fällen unvernünftig anwenden —
Kunst und Wissenschaft sind durch solche Mittel
nicht nmzubringen, und wenn gewisse Bilder
ivie die und die und solche Bücher wie das
und das verboten werden, dann ist es kein
Unglück" n. s. w. init Pomade ins Unendliche.
Die Deutschen thaten wieder einmal das, wo-
rüber sich ein Lothar Bücher nicht genug ver-
wundern und lustig machen konnte: sie machten
ein Gesetz wie ein schlechter Billardspieler einen
Ball macht: „nrit Vertrauen." Wann werden
wir endlich lernen, daß Gesetze und Verträge
Produkte dxs Mißtrauens sind und daß ein
Gesetz umso besser ist, je argwöhnischer das
Mißtrauen seine Grenzen absteckteI

Eine der Hauptaufgaben des Goethebundes
wird es sein, jene Vertrauensseligkeit des guten
deutschen Michels auf ein gesundes Maß zu
reduziren und die Freunde unserer Kultur an
den Gedanken zu gewöhnen, daß ihnen altbe-
währte, furchtbar starke rnrd nimmermüde Or-
ganisationen gegenüb erstehen und daß die
Männer der lex Heinze immer wiederkommen
werden, daß sie täglich mib stündlich auf dem
Plan sind, bald zum offenen, bald zum ge-
heimen, bald zum Massen-, bald zum Einzel-
kampf, in dem oft schlimmere Verheerungen
angerichtet werden als bei offener Gewalt. Das
ehrliche Volksschulerdrosselungsgesetz des Grafen
Zedlitz war ein Waisenkind gegen die Ver-
waltungspolitik des Dr. Bosse. Der Goethe-
bund wird ein Registrirapparat sein, der alle
Unbill, die Kunst und Wissenschaft und ihren
Vertretern zugefügt wird, anzeigt; der nicht die
bürgerliche Untugend der Deutschen besitzt, ein
schweres Unrecht bis zum nächsten zu vergessen
und der im entsprechenden Augenblick zu er-
kennen gibt: Das Maß ist voll; ein kräftiger
Schlag zur Abwehr thut wieder einmal nothl
Niemals kann dem Goethebunde eine größere
Mission winken als eben jetzt. Ich habe mich
in den letzten Jahren, wenn ich die Zustände
in Frankreich, in Spanien, in Oesterreich und
in gewissen Theilen des Deutschen Reiches be-
obachtete, oft gefragt: Wann wird endlich ein
Mann von weithin vernehmbarer Stelle Hin-
weisen auf die schwarze FI u t h, die ununter-
brochen steigt, die Belgien und Oesterreich
verwüstet, wie sie die romanischen Länder ver-
wüstet hat, und die schon weite Fläche» unseres
Vaterlandes bespült? Wann verkündet den
Deutschen ei» warnender Mund, auf den die
Massen hören, daß Europa mitten in einer
Reaktion des Mysticismns steht, die wahrschein-
lich heute ihren Höhepunkt noch keineswegs er-
reicht hat? Die Entwickelung des menschlichen
Geistes stellt sich mir als ein Emanzipations-
kampf der individuellen menschlichen Vernunft
gegen Gewalt und absolute Autorität dar. In
diesem Kriege gibt es, wie in jedem andern
ein Vordringen und ein Zurückweichen, ein
muthiges Anstürmen und ein muthloses Fliehen.
Auf Perioden der triumyhirenden Vernunft
folgen Reaktionen des blinden Autoritätsver-
langens; Mysticismns und Nationalismus
wechseln mit einander ab. Wir brauchen nicht
zu leugnen, daß hinter uns eine Periode

liegt, in welcher von der Vernünftigkeit zn-
weilen ein übertriebener Gebrauch gemacht
wurde, tu der mau vermeinte, mit dem Büchner
in der Hand alle räthselhaften Erscheinungen,
die aus der geheimnisvollen Tiefe der leblosen
und der lebendigen Natur emporstiegeu, zu
Boden schlagen zu können. Mau will in solchen
Zeiten den Geist des Weltalls mit dem Meu-
schengeiste ausschöpfen. Solche Versuche müssen
unbefriedigend ausfallen; ein Gefühl der Rüch-
ternheit und Unzulänglichkeit bemächtigt sich
der voreiligen Köpfe, und nun erfolgt der Rück-
schlag: die Ueberkühnheit schlägt um in Ver-
zagtheit; inan sagt sich: unsere Vernunft ist
doch nur Vernünfteln; die Masse des Unbe-
kannten ist riesengroß gegen die des Bekannten,
das Unerforschte ist nnerforschlich; statt mit
ihm zu ringen, wollen wir uns lieber den un-
heimlicheu dunklen Mächten auf Gnade und
Ungnade ergeben. Orthodoxie und Autoritäten-
dieust werden nun bis zuur Unsinn überspannt,
lind heute, wie's scheint, schliiumer denn je.
Selbst bei dem strammgläubigen Luther hieß
cs noch: „Es sei denn, daß man mich wider-
legt aus der heil. Schrift oder aus klaren
Gründen der Vernunft, sonst werde ich
nicht widerrufen." Heute wird die Vernunft
entthront, ihr freier Gebrauch als eine teuf-
lische Anmaßung des Menschen verdammt, und
die 10 Gebote werden suspeudirt durch die
Autoritär eines hannöverschen Konsistorialraths.
Bigotterie und Moralmuckerthum, Gewisscus-
zwang und Dozentenverfolguug, Fanatismus
und Aberglaube erheben sich wie ebensoviele
Köpfe der mystischen Hydra, und in unserem
ruhigen Deutschland steht der schrecklichste Wahn-
witz auf gegen das Leben, das.Eigeutbum, den
Frieden rnrd das Glück unbescholtener Menschen.
Ich würde es für einen unschätzbaren Gewinn
halten, wenn die Deutschen durch den Goethe-
bund gewöhnt würden, das Steigen der
schwarzen Fluth auf allen Gebieten des geist-
igen Lebens sowohl im Auslande wie im
Jnlande mit argwöhnischer Aufmerksamkeit
zu beobachten. Am Rande dieser Fluth schäumt
der schmutzige Gischt des bornirten Nationalis-
mus.

In Zeiten, wie der jetzigru, taucht natür-
lich auch die beliebte Behauptung auf — und
die Erfolge der Reaktion gründen sich zum
großen Theile auf die Verbreitung dieser Be-
hauptung, daß nämlich unter der Herrschaft der
„Intellektuellen" und der Vernunft die Säfte
des Herzens eintrockneten und die übersinnlichen
Bedürfnisse der Menschenbrnst nicht zu ihrem
Rechte kämen. Gewöhnlich wird dabei Verstand
mit Vernunft verwechselt; aber auch auf den
Verstand bezogen, ist es falsch. Auch eine aus-
gedehnte Kütnr des Verstandes läßt eine eben-
so ausgedehnte cultura animi, läßt die liebe-
vollste Pflege des Gemüthes zu, und die Ver-
nunft fordert sie sogar gebieterisch. Sie fordert
daß endlich im ganzen Volke neben
die int ellektuetle und moralische Er-
ziehung gleichberechtigt die ästhetische
Erziehung trete, daß diese uns zu ganzen
Menschen mache, d. h. alle Organe nus-
bilde, die uns für eine gehobene und
geläuterte Anschauung der Welt in
ihrer ganzen Fülle, für den heiteren
Genuß ihrer Größe und Schönheit
gegeben sind.

156

Ein Muster solcher Bildung steht groß und
herrlich vor den Augen der Deutschen: Goethe.
Wenn nufere Feinde wieder einmal das Mono-
pol der rechten Gemüthsbildung in Anspruch
nehmen und falschen Sinnes behaupten, daß
die Kräfte des Herzens nur von ihnen in'S
Gleichgewicht gebracht werden, unsere Kinder
daher nur unter kirchlicher Herrschaft recht er-
zogen werden könnten, daun wollen wir ihnen
ein Wort entgegnen: Goethe. Hier ist souve-
räne Freiheit und Herrschaft der Vernunft, hier
ist vollkommene Schärfe des Verstandes, und ist
zugleich ein unerschöpflich guelleuder Reichthum
des Gemüths, eine so überwältigende Fülle der
Ahnungen und Gesichte, wie sie niemals größer
zu finden war. So gewaltig ist gerade der
Herzensreichthum dieses Mannes, daß das Volk,
das ihn beerbte, noch lange nicht die Größe
seiner Erbschaft begriffen hat. Der Einwurf,
daß es sich hier um einen Ausnahmemensche»
handle, kann gegen dieses Bildungsideal nicht
verwerthet werden. Das Ausnehmende bestand
darin, daß bei ihm die mannigfache» Kräfte
der Seele in riesenhaften Blaßen ausgebildet
erschienen mit de» üblichen Maßen ist ihre
harmonische Vereinigung jeder gesunden Men-
schennatur erreichbar. Der Goethebund ist nicht
gegründet um der Erschließung Goethes willen;
vielmehr haben wir den Namen „Goethe" auf
unsere Fahne geschrieben um des Bundes willen;
aber es würde eine der schönsten erzieherischen
Theilaufgaben des Goethebundes sein, die
Deutschen mit ihrem größten Genius bekannter
uud endlich vertraut zu machen. Sein Werk soll
unser Palladium sein, das uns unüberwindlich
macht, solange wir es hüten und hegen. Keiner
unserer Großen, das ist gewiß, ist unseren Fein-
den unbequemer und verhaßter als dieser „In-
tellektuelle," dessen Lebenswerk die Keime einer
ganzen neuen Kultur in sich birgt, und zwar
einer Kultur, die bestehen wird ohne Gewissens-
zwang und Pfaffcngewalt.

D i e Anerkennung müssen wir unseren Fein-
den wiedcrfahrcn lassen, daß sie zu handeln, daß
sie zu wirken wissen. Sind wir lässig, so ist
Knechtschaft unser verdientes Loos. Ich deuke
aber, mir fordern zwar Freiheit für jedes red-
liche Denken rmd Wollen, Freiheit für jede red-
liche Ueberzenguug und ihren wahrhaftigen
Ausdruck, Freiheit namentlich auch für jeden
ehrlichen religiösen Glauben, er sei, welcher er
sei; aber nun und nimmer will das deutsche
Volk beherrscht oder auch nur regiert sein von
Rom und seinen Helfern und Helfershelfern,
nun und nimmer will es sich seine heiligsten
Güter entwinden lassen, weder durch List noch
durch Gewalt. Von dieser Zeit an soll es heißen:
Schlag um Schlag, Auge um Auge, Zahn um
Zahn.

Hie Schwert des Lichts und Wolfgang Goethe!
Mit diesem Wahlspruch läßt sich siegen.

Splitter

leb habe den Taust viermal gelesen, und
allemal anders. Jlls Hnabe interessirte mich
Taust’s üerhältniss zum Ceufel, als Jüngling
Taust’s üerhältniss zu örethehen, als mann
Taust’s üerhältniss zur Ulelt und als «reis
Taust’s üerhältniss zu «ott.

Peter Rosegger
Register
Peter Rosegger: Splitter
 
Annotationen