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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 40 (01. Oktober 1900)
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. JUGEND -

Nr. 40

Lithographie

Jm {Bondlicht

Meyer-Cassel (Starnberg)

Bestandthcil der ganzen Natur zu erblicken, wo-
durch zugleich die stumme Natur beseelt und be-
redt wird. Paracelsus sagt irgendwo, die Haupt-
sache sei „der Schluß von der großen Natur ans
die kleine Natur," nämlich vom Außermenschlichen
auf das Menschliche; damit, meinte er, seien die
Näthsel des Menschenwesens und zugleich die Rüth-
sel der Natur gelöst. Aehnliches gilt hier, nur
„schließt" der Künstler nicht, sondern — wenn er
gottbegnadet ist — erschaut er; und indem er das,
ivas er erschaute, vor uns hinstellt, bewirkt er, was
Herder von einem Kunstwerk als das Höchste for-
derte, „gleichsam das Verschmelzen des menschlichen
Herzens mit der Natur"; was aber — wie Herder
hinzufügt — nur durch die Mitwirkung der Musik
vollkommen gelingen kann. Und wenn er so schaut
wie Homer und Wagner, besitzt jeder dargestellte
Vorgang und jede dargestellte Gestalt einen solchen
unerschöpflichen Reichthum an Anschauungsstofs,
daß das Auge auf immer davon Besitz er-
greift und sich nie daran satt sieht. „Bloß um
da? Denken anzuregen, dienen die Sinne", hatte
Bruno gemeint; ja! aber welche Macht des Auges
und des Denkens gehört dazu, um die Sinne
Anderer so anzuregen wie diese vereinzelten Poeten
es vermögen! Ihre Dichtungsart ist die eigent-
lich schöpferische, diejenige, welche auf Jahrhunderte
und Jahrtausende hinaus die Welt mit Poesie er-
füllt und verklärt, allen anderen Künstlern einen
Boden gewährend, auf dem sie stehen können.

Wagner's Werk — vom „Fliegenden Holländer"
bis zu „Parsifal" — bedeutet die Erschaffung einer
Mythologie im Sinne des alten Wortes Mythos,
nämlich einer echten „Dichtung", welche — un-
historisch, „von allen künstlichen Verhältnissen be-
freit" lwie Schiller es ersehnte) — Himmel und
Erde, Tag und Nacht, die Jahreszeiten und die
Elemente mit dem Menschenherzen verschmilzt, so
daß sich Kreis um Kreis schlingt und wir das
Vergängliche sub specie aeternitatis erblicken.
Mit Shakespeare hatte die germanische dramatische
Schaffenskraft einen Gipfel erklommen; Wagner,
der tongewaltige Seher, der Verwandte Homer's
und Beethoven'-;, hat sie auf einen anderen geführt.

Hiemit will ich, wie gesagt, nicht Antworten
auf die zwei großen Fragen, was ist Wagner?
und wer ist Wagner? gegeben haben, sondern
lediglich Andeutungen, nach welcher Richtung man
suchen müsse, um die Antworten zu finden. Noch
flüchtiger muß ich die dritte Frage — wo steht
Wagner in der Geschichte der Kunst? — behan-
deln; denn dieses „wo" erfordert mehrfache Ant-
worten, je nachdem wir die Stellung Wagner's
in der deutschen, in der germanischen oder in der
indoeuropäischen Kunst ins Auge fassen.

Jedenfalls ist ein wahres Verständniß von
Richard Wagner's weltgeschichtlicher Bedeutung
nicht denkbar, wenn nicht vorerst die innerste Frage
— die deutsche — eine zutreffende Antwort er-
halten hat, und dafür ist bis heute — trotz der

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Anregungen die von Nietzsche, Stein und Hans
von Wolzogen nusgingen — wenig geschehen.
Wir reden von Wagner's „unbestrittenem Erfolg"
und bleiben gänzlich apathisch gegen seine Kunst,
— ebenso apathisch, wie, nach Plato's Bericht,
die Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger
Homer's gegen diesen sich verhielten. Erst vor
wenigen Tagen unterbrach mich — als ich den
Namen Wagner's ins Gespräch einflocht — ein
Mann von umfassender Bildung und vielseitige»
Interessen: „Bitte, bitte, zu einem Tauben redet
man nicht von Musiki" Ich konnte die boshafte
Replik nicht unterdrücken: „Ja, verehrtester Herr, sind
Sie denn zugleich blind?" Doch der Bildnngskrüppel
verstand die Ironie gar nicht, lächelte und redete
vergnügt weiter. In Wahrheit ist ein derartiger,
künstlich erzeugter „Tauber" ebenso unfähig Schiller
und Goethe wie Wagner zu verstehen, und was
er sich bei Lessing's und Herder's Bemerkungen
über den untrennbaren Zusammenhang zwischen
Dichtkunst und Tonkunst denkt, möchte man wissen.
Wie soll man die Stellung Wagner's innerhalb
der deutschen Poesie je zu begreifen hoffen, wenn
man einerseits jene Kunst völlig unberücksichtigt
läßt, von der Goethe uns belehrte, sie sei „das
Element, woher alle Dichtungen entspringen, und
wohin sie zurückkehren", das heißt also, in diesem
Falle, wenn man die mit gar nichts zu verglei-
chende, grundlegende Bedeutung der deutschen
Musik seit Bach übersieht, und wenn man andrer-
Register
Hans Meyer-Cassel: Im Mondlicht
 
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