Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
JUGEND

Pom Singen und Schauen

HAsihts wird in der deutschen Erziehung so
sträflich vernachlässigt wie das Schauen.

Farben und Formen bleiben unfern Kindern
böhmische Dörfer. Ja, was an Eigenem von
diesen Dingen in ihnen steckt, wird oft genug,
so wie es sproßt, zertreten. Achtlos oder rück-
sichtslos. Darum ist es bei den Erwachsenen
noch ärger. Weil die nieisten Deutschen nie
schauen gelcmt haben, kam die Sintflut der
Düsseldorfer Schule über sie; weil sie nie
schauen gelernt haben, zweifelten sie am läng-
sten von allen Kulturvölkern am Oelblatte der
modernen Kunst. Sie gingen vorüber, als
Hans Thoma ihnen ihre deutschen Wiesen
und Thäler malte, als Walter Leistikow ihrer
deutschen Kiefern gewaltige Schönheit entdeckte.

Warum?

Vielleicht ist es eine Grundeigenschaft
des Germanen, die sich zum Fehler poten-
zierte. Der Germane hört viel mehr, als
er sieht. Nicht die Farbenpracht und Farben-
anmuth einer Muschel entzückt ihn, sondern
ihr eintöniges Raunen vor dem Ohre; nicht
das Bild sturmgepeitschter Bäume packt ihn,
aber die gewaltige Melodie des Sturmes selber.

Es ist die Romantik, die unausrottbar in ihm
steckt. Der Romantiker hört mehr, als er sieht.

Der romantische Dichter, der am tiefsten aus
der deutschen Volksseele heraus gesungen hat,

Eichendorff, wovon redet er denn? Vom Hörner-
klang, Lerchenschlag, von Brunnen, die ver-
schlafen rauschen, verworrenem Weltgesanse, von
plätschernden Quellen und all dem Gewebe und
Geranne des deutschen Waldes. An Töne und
Geräusche ketten sich des Germanen schönste Mär-
chen und Mythen. Nicht ihr prächtiges Bild,
sondern ihren wehen Glockengesang sendet die ver-
sunkene Vincta aus der Ostseeticfe nach oben; Frey-
tag schildert uns, wie Glockcngelänte den starren
Heiden Ingram bezwang, und als die Reformation
aus den Gotteshäusern alles Sinnenbestrickende ver-
bannte, als Auge und Nase nicht mehr gekitzelt wurden
— zwei Pfeiler der Schönheit richtete sie stolzer als
je auf: das Läuten und den Choral. Tenn der Deutsche
will nicht bloß hören, sondern mitthun: er will singen.

Ja, singen auf Weg und Steg. Im Singen liegen
seine sieben Himmel. Nicht zum Anhören, wie die Messe,
»ein, zum Mitsingen ist das deutsche Kirchenlied bestimmt.
Und ani andern Ende, draußen auf der Gasse, hat seine
leichte Sangbarkeit dem deutschen Gassenhauer das Gepräge
gegeben. Zwischen Choral und Gassenhauer aber liegen
tausenderlei Möglichkeiten, zu singen. Und für den Deutschen
werden sic Wirklichkeiten. Bor allem die eine: das Wandern.

Es ist gar nicht abzuschätzen, wieviel Prozent aller
deutschen Poesie und gereimten Prosa durch Wanderlieder
gedeckt werden. Von Eichendorff und Scheffel, die den
Höhen angehören, über Wilhelm Müller und Baumbach hin-
unter in die Niederungen, wo die Volksschullehrer von
Krähwinkel und Buxtehude ihr begeistertes Handwerk
treiben. Ter Deutsche wandert zu allermeist in Ver-
einen, und während er wandert, singt er. Ein-,
zwei- oder vierstimmig, wie's trifft. Er singt die
wunderbare Stille eines Herbstmorgens, das
Vogelgezwitscher eines Junitages, das zit-
ternde Surren eines Hochsommermittags,
die blüthcnweiße Jungfräulichkeit einer
Frühlingsfrühe unentwegt in Grund
und Boden. Er streift nicht durch die
Welt, er marschirt hindurch, nach dem
Marschtempo seiner Wanderlieder. Er

1901

betritt den heiligen Tannenwald — man
meinte, mit stillem Schauer müßte es ihn
umwehen; weit gefehlt! schon tönt es znm
Preis und Lob dieses Waldes, und die
Andacht ist vorbei. So macht die Romantik
sich selber tobt; denn sie ist gegen Laut-
heiten so empfindsam, wie der rothe Mohn
gegen den Luftzug, und nichts ist so roman-
tisch, wie das Lauschen, nichts so un-
romantisch wie das Mitbellen.

Niemand vermag so viel zu sehen, wie
der Wandernde, und im Durchschnitt sieht
thatsächlich keiner so wenig. Das Singen
trägt die Schuld. Wer durch die Welt mit
Gesang marschirt, der geht blind hindurch.
Er preist unausgesetzt Bächlein, Lerchen,
Wald und Feld, aber er sieht sie nicht.
Er marschirt an den Milliarden Wundern,
die ihn umgeben, vorbei. „Schön ist es
auch anderswo, und hier bin ich sowieso."
Wilhelm Busch's köstlicher Vers trifft auf
Tausende von denen zu, die alljährlich bei
uns wandern.

Mit dem Singen schließt sich dann die
zweite deutsche Sitte, das Trinken, zum un-
heilvollen Kreise. Der Alkohol steigert die Sanges-
lnst, schraubt das Niveau des Liederinhaltes tiefer
und legt über das schauende Auge eine dicke Spinn-
webe. Er vernichtet das Sehen. Die Eindrücke
verlieren ihre Ruhe und Klarheit, sie werden ge-
fälscht, und die Fälschungen jagen sich in dclirien-
hafter Raserei. Die „Stimmung" wird animirter,
der Gesang lauter, und weil der Hals dabei trocknet,
so steigert sich die Alkoholmenge. Man schreit der
Mutter Erde immer begeisterter ihre Herrlichkeit ins
Gesicht, und denkt immer weniger daran, ihr ins Auge
zu blicken . . .

Wandern und Singen haben nllerneuestens einen
furchtbaren Feind erhalten: das Fahrrad. Aber mit
Wandern und Singen begräbt dieses Instrument auch
alles Schauen bis auf den letzten Rest. Wir marschiren
nun nicht mehr durch die Natur, wir rasen hindurch Un-
ästhetisch, wie sein Aussehen, sind seine Wirkungen. Das
Ideal des Wanderweges wird die ebene, wohlgepflegte
Chaussee. Man sieht die Landschaft nicht, die Menschen
nicht, denn wo man auf sie trifft, nöthigt man sie auszu-
weichen. Der Kilometerrekord beherrscht die Sehnsucht. Oft
hörte ich Freude äußern, daß das Rad den Skat zu ver-
drängen anfange. Für die Gesundheit und die Muskeln
mag das etwas bedeuten. Für die ästhetische Erziehung ist
es egal, ob die Leute am Skattisch oder im Radsattel sitzen.

Wenn Alfred Lichtwark Kinder in Galerieen führt,
so mag er ein gutes Werk thun: er erzieht sehende Menschen,
oder er will es wenigstens versuchen. Aber die Axt ist
damit noch nicht an das Nebels Wurzel gelegt. Die
Kunst ist immer doch nur ein Stück Natur — vu par un
temperament. Auf dem vu liege der Accent. Sehen,
schauen ist das Geheimniß der bildenden Kunst. Wenn's
durch die Natur geht: Mund zu! Laßt die Lieder
drinnen, und den Alkohol draußen. Und dann:

Augen auf! Badet sie in den Fluchen des Lichtes —
sie sind uns zum Sehen geworden und werden sehen
lernen.

Laßt unsere Kinder Feldblumen pflücken und
Heuschrecken fangen, anstatt daß sie im Kindergarten
Ringeltänze aufführen und Liedlein dazu leiern.
Wir sollten jeder ein Thürmer sein in dem Reiche,
das wir durchschreiten: „zum Sehen geboren, zum
Schauen bestellt."

Weniger Lärm — mehr Licht!

Ernst Gpstrow
Register
Ernst Gystrow: Vom Singen und Schauen
Heinrich Nisle: Zierleiste
 
Annotationen