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Nr. 14

Liebe. Gerade war noch Zeit, zum Kaffee den frischgcbackeuen
Kuchen zu probieren; dann an der Hausthür den Postboten
abzufangen, der ihr schmunzelnd vier Briefe überreichte, und
nun ging's eilends zur Schule. In der ersten Stunde „Rech-
nen" hatte man die beste Zeit zum Briefelesen, die beiden
ersten wurden für später beiseite gelegt, die waren von zwei
Tanten, der dritte war sehr schnell überstogen, trotzdem er acht
Seiten lang war, aber Emma, die Busenfreundin schrieb zwei
Wörter in jeder Reihe und acht Reihen auf jeder Seite. Und
nun der viertel Der wurde mit Herzklopfen und Borsicht ge-
öffnet, denn der war von einem „Jungen", von Else's Ver-
ehrer aus der Tanzstunde, einem schlanken, hübschen Primaner.
Aber um Himmelswillen, was fiel denn dem Alfred heute nur
ein! Wenn er ihr sonst mal ein Briefchen geschrieben hatte,
waren es zivei Reihen gewesen, die vor Ehrerbietung Überflossen
und die jeder hätte lesen können. Auch heute übersandte er auf
seiner Visitenkarte „dem gnädigen, hochgeehrten Fräulein seine
aufrichtigsten Wünsche" — aber außerdem war noch ein kleiner,
versiegelter Zettel in den: Briefcouwert mit dem beunruhigenden
Vermerk: Vorsicht!!! Und auf diesem Zettel „sichte er sie aus
der Tiefe seines Herzens an, ihm zu erlauben, ihr seine Glück-
wünsche mündlich überbringen zu dürfen, heute Abend -1/» 7 an
der Bank hinterm Siegesdenkmal." — Während der übrigen
Schulstunden gingen ihr diese Worte nicht aus dem Sinn, immer
wieder mußte sie daran denken. Sollte sie's mal Ihn»? Pah,
ihre Freundinnen hatten alle schon Rendezvous gehabt, ihre
Intimste. Bertha, erzählte ihr alles haarklein, auch, daß sie sich
küßte mit ihrem Karl. — „Else, ich sage Dir, das ist zu himm-
lisch !" Ein Schauer ging bei dieser Vorstellung durch des
Mädchens Körper — ob Alfred sie auch küssen würde? Er
hatte schon einen kleinen, schwarzen Schnurrbart, und sie schwärmte
„rasend" für ihn. — Aber nein — ihr Papa! wie könnte sie
ibm dann wieder vor die Augen treten, und gerade heute, wo
er gesagt hatte: „Else, bleib so brav und gut wie bisher." Nein,
nie könnte sie es thunl Und dann wieder: die andern Mädchen
haben auch liebe Papas und gute Mamas und thun es doch,
warum soll ich nicht wenigstens mal hingehen — küssen lassen
thue ich mich natürlich nicht.-

Ganz zerstreut und träumerisch war sie bei Tisch, trotz der
selbstgewählten Lieblingsspeisen, und der Vater sagte: „Na,
Elschen, so einen melancholischen Geburtstag wollen wir aber
heute nicht verleben, ich will Dir was sagen, heute Abend
machen wir uns eine Psirsichbowle, ich lade mir den Onlel
Fritz ein, und Du — na, Du kannst Dir jemand wählen, den
Du gern haben möchtest, und ich müßte doch recht irren, wenn
ich nicht wüßte, wohin Dein Sinn steht, was? Na, soll ich
nachher mit Vorgehen in die Bnrgstraße, ja?"

Nun sprang sie wieder dem Papa an den Hals, er war
doch zu gut und lieb, ihre geheimsten Wünsche errieth er, in
der Burgstraße wohnte nämlich Fräulein Lotte Moser, eine „ent-
zückende" junge Dame, die hier Malstunden gab, eine jüngere
Freundin der Mama und Else's weiblicher „Schwarm." „Nun
gut, wenn ich nachher zum Kontor gehe, werde ich mit Vor-
gehen, und ihr sagen lassen, sie möchte um sieben komnicn,
Du hast doch heute Klavierstunde bis sieben, nicht wahr?"

„Ja Papa, ich glaube," klang es etwas zaghaft. Else log
ein wenig, denn sie glaubte durchaus nicht, daß die Klavier-
stunde bis sieben dauerte, mußte vielmehr ganz genau, daß sie
um sechs aus war. Aber — „um ’/* 7 an der Bank hinterm
Siegesdenkmal" — das ging ihr nicht aus dem Sinn, sie war
noch nicht mit sich einig, ob sie hingehen würde oder nicht,
aber so hatte sie sich doch eine kleine Chance gelassen, sie konnte
immer noch thun, was sie wollte.

Und nun war die Klavierstunde zu Ende, es schlug gerade
sechs von der alten Stadtkirche, also eine halbe Stunde halte
sie noch Zeit bis zum Rendez-vous, so lange mußte sie noch
bummeln in der Hauptstraße, wo jetzt sicher auch die Schul-
freundinnen zu finden waren. Dann würde sie ein wenig mit
ihnen plaudern, und wenn cs '/* 7 schlug, unter dem Vorwände,
daß sie heute pünktlich zu Hause sein müsse, sich von ihnen trennen,
und in zwei Minuten würde sic dann durch ein Scitengäßchen
durch die öffentlichen Anlagen gelangen an die bewußte Bank.
Kein' Mensch würde sie erkennen, denn es war schon ganz
schummerig um diese Tageszeit und die Beleuchtung in den

Erich Kuithan (Schlicrsee)

Nr. 14
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