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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 6.1901, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 27
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1901

- JUGEND -

Nr. 27

DER ZAHME

Kax Bernuth (München)

Lin aufregendes Buch

Von Maxim (Borjfij*)

ct) bin ja doch kein kleiner Junge, bin vierzig
Jahre alt und kenne das Leben wie die Fur-
chen in meiner Handfläche und wie meine Gesichts-
Züge; mich braucht Niemand zu belehren I Ich
kab' ein Weib und Kinder; um ihnen ei» sorgen-
freies Leben zu bereiten, mußte ich zwanzig Jahre
lang katzenbuckeln, — ja l — das ist gar nicht so
leicht und durchaus nicht angenehm I Aber damit
ist's nun aus und vorbei! Jetzt will ich aus-
ruhen von den Mühseligkeiten des Lebens — das
bitte ich zu beachten, mein Herr I

Während ich nun der Ruhe pflege, liebe ich
zu leien Für den Kulturmenschen ist das ein Be-
dürfniß und ein hoher Genuß. Ich schätze das Buch,
und das Lesen gehört zu meinen liebsten Gewohn-
heiten. Aber ich gehöre nicht zu den Sonderlingen,
die jedes Buch verschlingen, wie der Hungrige ein
ctiicf trockenes Brot, die in jeder Schrift eine Offen-
barmig, eine Lebensweisheit suchen.

Ich weiß selbst, wie man leben muß, weiß es
sehr gut!

Nur gute Bücher sind es, die ich mit wähle,
solche, die mich wohlkhuend anrege». Schildert
der Verfasser die lichten Seiten des Lebens und
versteht er es, auch das Schlechte angenehm^ dar-
zustellen, kann man sich an der schmackhaften Sauce
erfreuen, ohne sich viel um die Beschaffenheit des
Bratens zu kümmern, dann gefällt er mir. Uns,
die mir während des ganzen Lebens rastlos ge-
arbeitet haben, soll das Buch erquicken, es soll
uns einlullen! Das ist's, was ich Ihnen sagen
wollte, mein Herr! . . . Beschauliche Ruhe ist mein
heiligstes Recht, — wer darf behaupten, das; das
nicht wahr sei'?

Unlängst kaufte ich mir also ein Buch, eines
von den Büchern dieser modernen, vielgerühmlen
Schriftsteller.

vielen Verfasser mit dieser Skizze d

Helden und ilne cs^iJ! beantworten, bnfi seit

-"'f de» W heLWingm.'"" bcpnimm,bm «»dr»

Befriedigt trug ich es nach Hause, schnitt es
atu Abend sorgfältig auf' und fing nun an zu
lesen, aber ich muß gestehen — nicht ohne einige
Bedenken. Denn gegen diese jungen „sympath-
ischen" Talente habe ich ein gewisses Mißtrauen.
Ich liebe Turgenjew, er ist ein sanfter, ruhiger
Schriftsteller; man liest ihn, wie man geronnene
Milch trinkt und kann dabei denken: alles das
sind längst vergangene Geschichten. Auch Gont-
fcharow liebe ich, er schreibt so friedlich, solid und
überzeugend-

Ich fange also an zu lesen ... Teufel, was
ist denn das? Das ist ja ein ganz vortrefflicher,
korrekter, fließender Stil; sogar unparteiisch ist
das Buch; mit einem Worte — ausgezeichnet!..
Nachdem ich nun eine kleine Erzählung ausgclesen
hatte, klappte ich das Buch zu und dachte nach.
Einen trübseligen Eindruck hatte es auf mich aller-
dings hervorgebracht, aber dennoch ließ es sich
gefahrlos lesen. Schroffheiten, Zweideutigkeiten,
Anspielungen auf die wohlhabenden Gesellschafts-
klassen fand ich nicht darin, auch nichts von dem
Bestreben, die niederen und nothleidenden Volks-
schichten als Muster aller Tugenden und Voll-
kommenheiten zu schildern; alles war einfach und
nett. Ich lese also noch ein Geschichlchen — wirk-
lich recht gut! Bravo! Nur weiter... Man er-
zählt zwar, wenn dem Chinesen ein guter Freund
zuwider wird und er ihn gern vergiften niöchke,
so gibt er ihm Jngwercompott; das ist eine ex-
cclleute süße Speise, die man eine Zeit lang mit
unbeschreiblichem Hochgenuß verschluckt, bis plötz-
lich ein Moment eintrilt, wo der Mensch umsinkt
und hin ist Dann braucht er keine Speise mehr
und ist selbst eine Speise für die Würmer im
Grabe.

So scheint es mir auch mit diesem Buche zu
gehen; ich las es ohne Unterbrechung zu Ende,
zuletzt noch im Bette, und als ich damit fertig
war, löschte ich das Licht aus und wollte eiu-
fchlasen. Da lag ich nun ruhig ausgestreckt: im
Schlafzimmer war cs dunkel und still.

Plötzlich fühlte ich etwas Ungewöhnliches . . .
mir war, als ob Herbstfliegen, solche aufdringliche
Schmeißfliegen mich umkreisten und leise summten;

als ob sie auf meiner Nase, den Ohren und dem
Kinn heruinkrnbbelten und mich mit ihren Füßchen
empfindlich kitzelten.

Ich öffnete die Augen, sah aber nichts, war
jedoch mürrisch und verstimmt. Unwillkürlich
mußte ick immer wieder an das Gelesene denken;
düstere Gestalten tauchten vor meinem geistigen
Auge ans, — es waren häßliche, stumme, blut-
lose Wesen, . ihr Leben ist hoffnungslos und
miserabel.

Ich kann nicht einschlafen.

Gedanken schwirren mir im Kopfe umher. Ich
habe nun vierzig Jahre gelebt, vierzig Jahre,
vierzig! Mein Magen will nicht mehr recht ver-
dauen. Meine Frau sagt — hm! — ich liebe
sie nicht mehr so feurig, wie vor fünf Jahren...
Mein Sohn ... ist ein Idiot: seine Schulzeugnisse
sind abscheulich, er ist faul, treibt sich überall um-
her und liest einfältiges Zeug; man muß nur
staunen, was es für nichtsnutzige Bücher gibt!..
Die Schule ist eine Marteranstalt, sie richtet die
Kinder zu Grunde... Meine Fratt fängt au run-
zelig zu werden, will aber immer noch geliebt sein ..
Mein Dienst war, genau betrachtet, das Dümmste,
was es geben kann und mein ganzes Leben, —
was hatte es eigentlich für einen Ziveck?

Jetzt aber muß ich nieincr Phantasie Zügel
anlegcn. Ich öffne die Augen . ., was ist nun
das wieder für ein Teufelsspuk I?

Das Buch steht vor meinem Bette. Es ist
ein dünnes, vertrocknetes Wesen auf langen, fleisch-
losen Beinen; es nickt mir sarkastisch zu und flü-
stert mit seinen Blättern:

„Nur zu, raisonnire nur immer zu!"

Es hat ein langes, wüthend-melancholisches
Antlitz, seine Augen funkeln so gualvoll-grell und
seine Blicke bohren sich tief in meine Seele hinein.

„Ucberlege doch nur, denke doch mal nach,
wozu lebtest Du denn eigentlich vierzig Jahre'?
Was hast Du denn während dieser ganzen Zeit
geleistet und was für einen Nutzen brachte wohl
Dein Leben? Kein einziger neuer Gedanke ist aus
Deinein Gehirn hervorgegangen; in allen den
vierzig Jahren hast Du nicht ein einziges selbst-
ständiges, vernünftiges Wort gesprochen; in Deiner

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Maxim Gorki: Ein aufregendes Buch
Max Bernuth: Der Zahme
 
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