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1901

JUGEND

Nr. 46

HeTtbetiTche Kultur

/As wird leer und frostig in den Bädern. Dunkle
HLi Fenster, wenn die Dämmerung hereinbricht.
L>tille Konzertgärten, ungedeckte Tische, von denen
der Kellner nicht einmal die welken Kastanienblätter
mehr abfegt. Eintönig schlagen die Wellen an den
verlassenen Strand. Und des sterbenden Buchen-
waldes lodernde Farbenpracht muß ungeschaut ver-
glühen. Ein paar Geheimräte, von der Universität,
von der Justiz, ein paar ältere Offiziere, ein paar
Hochzeitsreisende... Weitsichtige und Kurzsichtige,
vor denen die Erde ihre feurigste Pracht enthüllt.
Das junge Volk sitzt schon in der Großstadt. Die
Theater beginnen, die Konzerte, die Soupers, die
Debatten. Es wird geschrieben, gelesen, geredet.
Die intellektuelle Saison ist gekommen. Man harrt
gespannt ihrer Ereignisse. Wer wird die Parole
ansgeben — Berlin, Hamburg, München, Wien?
Oder ist die alte noch zugkräftig?

Die größte Idee, soll sie zeugend wirken, bedarf
des Schlagworts, das sie trägt. Das ist ihre tiefe
Tragik. Denn als Schlagwort stirbt sie rettungs-
los. Wie die Sitte als Gesetz stirbt. Wie die
Melodie als Gassenhauer. Wie der Glaube als
Bekenntniß. Und wieviele Ideen sind, seit die
Menschheit Ideen hat, als Schlagworte gestorben?

Tie Spirale des geschichtlichen Werdens dreht sich
zum vorletzten Jahrhundert zurück. Erziehung ist
das alte, neue Zauberwort, das die Geister und
die Lippen beherrscht. Die Bescheideneren streiten
über die Schulreform. Die Anspruchsvolleren setzen
sich größere Ziele. Ihnen ist das ganze Volk
gerade groß genug. Das wollen sie erziehen. Die
einen zurück zu Glauben und Autorität, zu patri-
archalischer Zufriedenheit und demüthigem Gehor-
sam. Tie andern vorwärts zum Denken und
Kämpfen. Die dritten, und die sind jetzt am meisten
Mode, zur Kultur. Zur ästhetischen Kultur. ..

Zwei schöne Worte voller Klang. Und wie
ihre Herolde uns versichern: längst keine bloßen
Worte mehr; längst ans dem Wege, sich in lebendige
Wirklichkeit umzusetzen. Der häßliche Plunder, den
wir so lange um uns herum gelitten haben, fliegt
in die Winkel. Wir fangen an, uns einzurichten.
In Schönheit sterben — eine große Sache; eine
größere — in Schönheit leben. Unsere Zimmer
werden stilvoll und stimmungsvoll. Langgestcngelte
Lilien winden sich durch unsere Teppiche. Steif-
halsige Schwäne segeln über die Chaiselongue. Die
kleinsten Möbelhändler müssen mit. Es wird nicht
lange währen, und unsere Häuser sind stimmungs-
voll, innen und außen, oben und unten, vorn und
hinten. Wiedergeburt, Renaissance, Umwerthung.
Kultus der Schönheit...

Es ist viel Gutes daran. Zurück zum breiten
Fenster, das allein lichtspendend sein kann in einer
Zone, wo die Sonne zumeist schräg und flach über
den Himmel wandert. Fort mit dem Unsinn der
drei Flügelthüren in einem Gemache, dem behagliche
Abgeschlossenheit eignen soll. Weg mit dem protzigen
Pomp der breiten Treppen, auf denen wir nicht
leben, die uns nur den Raum für Unentbehrliches
rauben. Her mit der frischen, frechen Farbe in
die gedämpften Töne unserer Natur mit ihrem
grauen Regenhimmel, ihren braunen Stoppel-
feldern. ihrem weißen Winter.

Ach, das sind ja alles Dinge, die uns nur
das selbstverständliche Maß von Freudigkeit im
Alltagsgrau geben sollen, llnd wenn dieses Maßes
Selbstverständlichkeit von einer, zwei, drei Genera-
tionen vergessen worden ist: gut, daß der Sinn
dafür in uns wieder lebendig ward; aber soll das
ein Grund sein, vom Morgendämmern einer neuen,

Jos. Wackerle

unerhörten Kultur zu träumen? Eine Lust ist es
heute wieder einmal, zu leben; aber hüten wir uns
davor, es für ein Verdienst zu halten. Schon
drängt sich vor's Erwecken zur Freudigkeit eine
gefährlich werbende Nebenbuhle ein: Die Erziehung
zur Stimmung.

Alle Stimmung ist Hingabe, und über aller
Hingabe liegt ein religiöser Hauch. Denn das
Unendliche, dem wir in der Religion uns hingeben,
ist doch immer nur das Größte, das unsere Sinne
zu fassen verniögen; und ach, wie klein bleibt dieses
Größte für viele Erdenkinderl Aber die Hingabe
drängt nach zwei Seiten hin sich fortzusetzen: sei
es in Auflösung, sei es in Bethätigung. Buddha
hat die erste, und alle andern Glaubcnsstifter haben
die andere Folgerung gezogen. In Stimmung
sterben, ist eine Möglichkeit; in Stimmung leben —
keine. Alle Stimmung kann nur ein Ende sein,
ein Ausruhen, und damit ein Anfang wieder zu
neuem Thun. Erschöpfung und Erholung zugleich.

Instinktiv haben die Menschen ans den Räumen
der Arbeit die Stimmung verbannt. Der Plebe-
jerin Bequemlichkeit mußte die Blaublütigc weichen.
Daß die neu Begünstigte maßlos ward, und überall
sich eindrängte: in die Stätten der Kunst und der
Andacht, wen kann es wundern? Willkommen
jeder, der sie von da vertreiben hilft. Aber fort
mit dem, der unsere Arbeit mit Stimmung morden
möchte. Denn das ist der Sinn nicht weniger
Forderungen, die unter der Flagge ästhetischer
Kultur segeln: Stimmung uns einzuimpfen auf
Schritt und Tritt.

Wir leben in einer technischen Kultur. Die
Lateinlehrer sagen: Amerikanismus. Das Band
ist zerrissen, das in grauer Vorzeit Arbeit und
Kunst verknüpfte. Die Kunst ist nicht niehr die
Begleiterin der Arbeit und selten nur noch ihr
Ziel- Schade vielleicht; aber wer von Neuem
flicken wollte, was die Entwicklung zertrat, der
hätte zu vergebener Mühe den Spott zu ertragen.
Eine neue Schönheit liegt, noch ganz verborgen,
in unserer Arbeit; Henry van de Velde ahnt


sie, wenn er als Schönstes der Pariser Ausstellung
die Dynamomaschine von Siemens preist, und
solches Empfinden zu wecken, ist eine Aufgabe für
uns, nicht aber die Arbeit und ihre Werkzeuge
äußerlich zu ästhetisieren. Das Zweckmäßige ist
nicht des Schönen Feind, wird es nur bis zu Ende
durchgedacht; blos die Oberflächlichkeit, die an
einem Theilzweck kleben bleibt, wird allemal häß-
lich. Die häßliche Miethskaserne heiligte der Theil-
zweck, viele Menschen nahe beim Arbeitsplatz zu
haben. Das Fahrrad führt darüber hinaus, es
schafft die Situation für's Einzelhäuschen, indem
es die Entfernungen aushcbt- Wieviel alte Schön-
heit unser technisches Zeitalter auch zerstört hat —
in seiner kindlichen Unbeholfenheit hat es das
gethan, und je mehr es zur Reife fortschreitet, desto
mehr neuen Schönheiten führt es uns entgegen.

Daß sie erkannt, gefördert, gepflegt werden,
das heißt im modernen Geiste ästhetische Kultur
vorbereiten. Stimmung in dem, was ist und
lebt, au'fzufinden — nicht aber Stimmung hinein
zu erfinden, gilt es. Schwer genug wird es unfern
Nerven, die Arbeit zu ertragen; und nun noch
neben aller Arbeit eine besondere Stimmung?
Es geht nicht an. Aus dem vollen Leben und
Leisten wird geboren werden, was wir an neuen,
großen Schönheiten noch erhoffen, nicht aber aus
dem krampfhaften Vibrieren müder Nervenzellen,
die zur Stimmung gestachelt werden sollen. Unsere
lärmende, rußende, hastende, geldhaschende Arbeit
ist die Grundlage auch aller ästhetischen Kultur.
Mit diesem Geständniß sind wir in guter Gesell-
schaft; oder ist es heute schon vergessen, daß auch
von Weimar aus einst Verse in die Welt gingen
zum Preise — Amerikas?

Ernst Systrorv

N

Gedanken

Wie leicht verzeihen wir Sünden, wie
schwer — Eigenschaften.

Wenn es einen Zug gibt, der mehr als jeder
andere in sich allein vollkommen den Zustand
der Unordnung, Barbarei und Glücklosigkcir
der menschlichen Gesellschasr ausdrückt. so ist
cs der bald mehr bald weniger tiefe und kühle
Schatten, der auf die Geburt eines Mädchens
im Gegensatz zu der eines Anabcn fällt, wen»
d iesc schlechte Dertheilung des Lebensglückcs.
das doch offenbar nur als eine gemeinsame
G-ucllc wie die eine Sonne über dem einen
und ganzen Menschen leuchten und wärmen
muß. wenn diese Disharmonie zwischen lllann
und wcib keine aus der menschlichen Thorhcit
entspringende und daher durch Rulturarbcit
hinwegzuschaffcnde. sondern eine kosmisch un-
abänderliche und göttlich d. h. teuflisch prästa-
bilirte wäre, so verdiente diese Welt eher heute
als Morgen in Stücke geschlagen zu werden.
Aber so unharmonisch ist sic nicht; nur wir
Menschen sind zur Zeit noch so schlechte lllusi
kanten.

^sch wette, daß schon Tausende dadurch
vo,«^Selbstmorde abgehaltcn worden sind, daß
das Wasser, in welches sic sich stürzen wollten,
— schmutzig war! Man möchte wohl ster-
ben, aber doch noch appetitlich! z
Index
Ernst Gystrow: Ästhetische Kultur
Joseph Wackerle: Harfenspiel
Zeno: Gedanken
 
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