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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 7.1902, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 26
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https://doi.org/10.11588/diglit.3897#0434
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Nr. 26

JUGEND

1902

Arthur Hirth

Der Mist als factmann

Zum Lhef wird stets erkoren
Zn Deutschland ein Zurist,

Lr ist dazu geboren,

Weil er kein Fachmann ift:

Zn Landwirthschaftsvereinen
Zst stets er Präsident,
weil er die Mutterschweine
Nicht von den Lbern kennt.

Auch Bahnen zu tracieren
versteht nur der Zurist,
weil er im Nivellieren
Durchaus nicht Fachmann ist.

willst Du drum avancieren
Zm deutschen Vaterland,

Ntußt Zura Du'studieren,

Das ist der schönste Stand.

Doch will ich Dir noch rathen:
Darfst nicht zu fleißig sein,

Sonst impfst Du Dir den Schaden
Zu vielen Wissens ein.

Thust Du zu viel studieren,

So wirst Du Zustitiar,

Und mit dem Avancieren
Zst's aus dann völlig gar.

Ls kann's nur zu was bringen
Zn Deutschland der Zurist,
wenn in jurist'schen Dingen
Lr auch nicht Fachmann ist.

. . .

,ünd Nt denn liebe ein Verbrechen?'

ts gibt eine Ähnlichkeit durch Kontrast. Line
£ solche muß es gewesen sein, die mir, während
ich die „Moralische Unterhaltung" in.ihrer
unnachahmlichen Anrichtung hinuntcrschwelgte,
wie sie nur 6. 8. gelingt,*) im Geiste eine
andere, anscheinend nicht so moralische
Unterhaltung emportaucken ließ, die
—. ich einst erlebte. Ich will sie hier zum

'Oc Betten geben, um der wunderlichen

^ Zartheit, Feinheit, ja Peinlichkeit,

mit der der Mensch einer reifen,
mürben Seelenkultur seine natür-
lichen Dinge behandelt, ein Gegenstück
von Frische, Urwüchsigkeit und robuster
Gesundheit in Ansicht, Empfindung und Auf.
nähme gegenüber zu stellen, wie es an den
(Quellen des Volkes beheimatet ist:

Ls war auf einem l^ofc in den windischen
Büheln in Steiermark, jenem idyllischen Labyrinth
von Hügeln und Thalkcsseln, wo die Welt aus-
sieht, als ob zur Zeit, wo die Lrde noch weich
war, eine Schaar Giganten auf ihren Schlacht-
kloben da durchgeritten, wir waren beim Kar-
toffelausmachen, der Meier, die Winzer, ihre
Weiber, des Meiers Knecht und Magd und ich.
Die Magd, ein schlankes, bewegliches — ich weiß
nicht, soll ich Weib oder Mädchen sagen; denn
obwohl unser ;2 jähriger Hofjunge ihr Kind war,
unterschied sie sich dennoch trotz dem gleichen
schweren Arbeitslebe» auffallend von den Frauen
in Haltung und Wesen: eine gewisse Frische, Un-
bekümmertheit und Lebendigkeit lag über ihr wie
eine besondere Atmosphäre, es mar ein Weib, eine
Mutter, die ihr Mädchenthum noch nicht abge-
streift — also diese Magd war, seit ich mit den
Leuten arbeitete, ein kleines Wunder für mich ge-
worden: so einen ganzen heißen Sommertag ent-
lang konnte sie, ohne wesentlich ihre Arbeit zu ver-
säumen, mit einer angenehmen und wohltemper-
irten Stimme plaudern, ohne abzusetzen, außer
um einmal eine besondere Antwort entgegen zu
nehmen; wie ein Bächlein, dem man entlang
wandert, rieselte es mit ganz ungewöhnlichem
Wohllaut dahin; man wurde ordentlich erfrischt
durch dieses Geplätscher, wenn ich etwas nicht
hören sollte, ging es windisch weiter, stundenlang,
ohne daß ich das Mhr von ihr wende» konnte.
Ich bewunderte sie, das immer fröhliche zerlumpte
Ding, trat ihr aber aus einer Unbeholfenheit, die
ich heute bedaure, nicht näher.

An diesem Tage nun lernte ich etwas von
ihr, etwas so Bedeutendes und Unvergeßliches
an weltauschanung und Lebenserfassung,' daß ich
sie, ohne mich einen Augenblick zu besinnen, in
der Reihe meiner Lehrer in der Philosophie gleich
hinter ein altes Roß auf »nserm Hofe stelle, zu
dem ich in eben jener Zeit in die hohe Schule ging.
Ich weiß nicht mehr, wovon die Rede war, oder
ich hatte bis dorthin nicht aufgepaßt, wie ich oft
nur dem melodiösen Klange ihrer Stimme lauschte,
während ich selbst an dies und das dachte, als ich
plötzlich an einem Worte aufwachte — wenn ich die
steirische Farbe nicht treffe, so bessre cs ein Jeder:
„was wahr is, darf ma sag'»! Die
Buam'n hob i olaweil gern g'habt! Ln
rechte Buam'u im Bett is mer olaweil
's liabst g'wean!"

*) vgl. Nr. (8 der .Jugend"!

Ich war starr — ein wenig vor Schreck, den»
ich gab mir damals Mühe, heilig zu werden;
ein wenig vor Staunen, denn ich hatte einen
Blick und sah in ein vor mir sich frei und neu
aufschlagendes Blatt in dem großen schrecklichen
Buche, das ich studirte, dem Leben; und ein wenig
vor Entzücken — denn die Heiligkeit hatte die Gra-
zien nicht ausgetrieben, und die Lrde bedurfte keiner
Osterglocken, um mich immer wieder zu haben;
der Blick des Weibes wirkte dieselben Wunder.

Hier war ich wie von einem Blitze getroffen!
wie das herausgeperlt war gleich dem ander»
Geplätscher, frei, unbefangen, harnilos, unschul-
dig, mit dein kleinen Vertheidigungsvortakt:
„was wohr is, darf ma sag'»!"

Ist das wahr, daß man sagen darf, was
wahr ist? Hier schien es, in unserm kleinen
Kreise; auch vor mir, dem Fremden, dem Deut-
schen aus dem Reiche, den sie gehässig alle als
„Aufpasser" nahmen, hatte sie keine Scheu. Frei
kam es heraus, als ob cs sich um wassertrinken
handle, und wie ward es aufgenommcn? Ich
lam von den Schulbänken und den Biertischen
her, in denen jede Anspielung sofort gefunden,
verkündigt, verstanden und beschmunzelt, jede
Zote wiehernd begrüßt wird — und aus den
Familienrunden und Gesellschaftskreisen, wo man
um diese Dinge herumgeht, wie um einen abscheu-
lichen Winkel, den Niemand zu kennen scheint,
wo das Lrröthen eine Anstandspflicht ist und die
Zweideutigkeiten schon witzig sein müssen, um
salonfähig zu werden sau manchen Drten scheint
man schon weiter zu sein) — und nun hier?
Kein Auge blickte verschmitzter, kein Mund grinste
fauler, kaum daß die Mienen um eine» Zug des
neuen lvohlgefallens an der Schwätzerin einen
Ton Heller wurden — in ruhiger Heiterkeit nahmen
die Leute, Männer und Weiber, diese Beichte hin,
wie als eine ihrer Natürlichkeiten.

war es also nicht nur wahr, daß man hier
sagen durfte, was wahr ist, sondern ist auch an
der Sache etwas „wahr", so daß man sie nicht
nur sagen, sondern auch thun darf, unbekümmert
um Theologen und Philosophen? So daß denn
Liebe, die auch in dieser unbestempelten und un-
besegneten Form das Gepräge der Anmuth und
Unschuld so frei auf der Stirne trägt, — kein
verbrechen wäre?

Und indem ich an diesem Lebensbild entlang
sah, und dann wieder den Sin» auf die seine
Verwirrung der beiden Gatten im Gespräche von
G. S. richtete — denn auch die Fra», die so be-
stimmt ihrem festen Tiefgesühle lvortc zu leihen
versteht, könnte verwirrt sein — stieg mir lang-
sam die Frage auf:

wenn die Stirne, der heitre Blick und das
ruhige Wort der steirischen Magd Recht hat, und
Liebe denn kein verbrechen ist, was ist dann ein
verbrechen? vielleicht das Maaß, mit dem jene
feine Frau die Liebe mißt, die — Lhe?

Ls ist nur eine Frage zwischen zwei Dingen.
Die Antwort wird wohl zwischen ihnen liegen.

6mU 6ött

Hltertbum und Neuzeit

Wenn im Alterthnm eine Wahrheit gefunden
ivnrde, schlachtete man eine Anzahl Ochsen.

Heutzutage wird der Finder von den Ochsen
abgeschlachtet.
Index
Julius Diez: Zeichnung ohne Titel
Emil Gött: Und ist denn Liebe ein Verbrechen?
Arthur Hirth: Mit klingenden Schellen
Kuckuck: Der Jurist als Fachmann
[nicht signierter Beitrag]: Alterthum und Neuzeit
 
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