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Oammarbeiter am CQeer

Die Erfüllung

Aus Georges Rodenbacb’s Nachlaß

0tc Irrsinnigen haben sich nicht z» beklage».
Bft setzen sie sich nur auf diescin Wege durch.
Sie werden zu Dem, was sie sich erträumten und doch
niemals geworden wären. Sie erreichen ihr ersehn-
tes Ziel und ihre Pläne gehen in Erfüllung. Sic
leben, was sie träumten. Ihr Wahnsinn ist gleich-
sam ihre innere Pollendung, denn er entspricht
ihrem heißesten verlangen, ihrem geheimsten Seh-
ne». So erreicht der Ehrgeizige iui Größenwahn
wirklich die erschauten lsöhen; er besitzt unend-
liche Reichthümer, gebietet großen Völkern und
steht nur noch mit Herrschern im Verkehr, lvcr
ein Uebcrmaß von Frömmigkeit entfaltet, erreicht
im Augenblick der Geistesumnachtung mit einem
Mal den vollkommenen mystischen Zustand, und
der religiöse Wahnsinn macht ihm Gottes Gegen-
wart und das Leben im Paradiese zur greifbaren
Wirklichkeit. So verwirklicht der Wahnsinn stets
das Ziel, das ein jeder erstrebt hat. Er führt
unsere Neigungen bis an's Ende. Uutleidig greift
er ein und vollendet das zu anspruchsvolle Schick-
sal Derer, denen keine Erfüllung lächelt.

Das ist mein fester Glaube feit einer seltsamen
Geschichte, in die ich während meines letzten Land-
aufenthaltes verwickelt wurde. Es war in einer
waldigen Bcrggegend, in der ich den Sommer zu
verbringen pflegte, und an einem einsamen Mrte,
wenngleich heute ja die ganze Natur unsicher ge-
macht wird. In der Nähe mar nämlich ein Dorf,
in dem sich kleine lhotels und Pensionen aufge-
than hatten, seitdem ich zum ersten Mal den
Sommer dort verbracht hatte. Jetzt waren die
Wege also nicht mehr ganz einsam. Man sah
bisweilen Spaziergänger durch den Hochwald strei-
fen. Lines Tages traf ich ein junges Mädchen,
das. ich von meinem ersten Aufenthalt her ober-
flächlich kannte, ein Fräulein von Angis, das aus
dieser Gegend war und in einer der umliegenden
Städte wohnte. Auch sic liebte diese fast noch
unberührte Gegend mit ihrer wilden, noch von
keiner Eisenbahn geschändeten Schönheit, ihren
Wildbächen und Lärcheubänmen mit den bittend
ausgestreckten Armen, ihren Felsen, die mensch-

liche Gesichter zu tragen scheinen, wir unter-
hielten uns ein wenig. Sie hatte sich mit ihrer
alten Mutter in einem der kleinen Hotels im
Dorfe cingcmiethet. Fast jeden Tag kam sic hier-
her, wo ich sie traf, um zu malen. Sie faß vor
einer Staffelei, die Palette in der Hand.

„Lieben Sie die Malerei?" fragte ich sie.

„(D ja! Und dann ist cs ja auch eine Hilfe
im Leben."

Sie seufzte leicht auf, wie von einer unbe-
stimmten Traurigkeit ergriffen, die in ihr anf-
gestiegen war und schnell verhauchte, wie dort
die Wasserblasen an der Vberfläche eines an-
stoßenden Morastes, die ich im selben Augenblick
zerplatzen sah, und die von irgend einein Aufruhr
auf dem Grunde des Wassers kamen.

Ich sah sic prüfend an. Wie hatte sie sich
seit der Zeit unseres ersten Aufenthalts verändert!
Ein paar Jahre genügen also, »in die lieblichsten
Gesichter welk zu machen . . . Damals war sie
vielleicht nicht schön, aber doch reizend gewesen,
vielleicht besaß sie die Anmuth vergänglicher und
gebrechlicher Dinge. Sie hatte rothblondes Haar
und jene durchsichtige Haut mit einem leichten
Stich in's Grüne, wie sie den Rothblonden eigen
ist, ein Farbton, wie eine weiße Azalie in einem
Garten, oder wie Wäsche, die auf einem Rasen-
platz gebleicht wird. Und die feinen Einzelheiten
dabei: ein tiefblaues Geäder au den vaudgelenken!
Jetzt waren alle diese zarten Reize dahin. Wie,
so schnell! Sie konnte sich kaum den Dreißig
nähern. Trotzdem gewährte sie schon den Ein-
druck der alten Jungfer. Die weiße Azalie war
gelblich und hier und da auch blau geworden.
Das Adernctz hatte sich verwirrt. Nur die Haare
waren noch prachtvoll, und so im Einklang mit
dem nahen Gktober des Waldes, in dem wir uns
befanden, ein Zwischeuton zwischen der Sommer-
sonne und dem welken Herbstlaub, ein kräftiges
Rothgold, ein später Glanz...

Ich sah sie oft wieder in allen Ecken des
Waldes, in dessen uralter, schattiger Kühle ich
gleichfalls meine Tage verbrachte. Sie saß stets
vor einer Staffelei auf einem Klappstuhl und
malte unermüdlich kleine Bilder. Eine Land-
schaft war in wenigen Sitzungen fertig.

76)

Constantin Meunier (Brüssel)

„Nicht zusehen, das ist gräßlich!" pflegte sie
zu sagen, wenn ich näher kam. „Es ist nur
Broterwerb. Man muß doch leben! Ich habe
nicht die Mittel, die Kunst um ihretwillen zu
treiben."

In der That, es war ein trauriger Roman,
den ich erfuhr. Ihr Vater hatte Selbstmord be-
gangen, als sic zwanzig Jahre alt war. Er war
durch unglückliche Spekulationen und große, falsch
geleitete industrielle Unternehmungen in Schulden
geratheu und als ruinirter Mann in den Tod
gegangen, um sich vor Bankerott und Gefänguiß
zu retten. Fräulein von Angis stand also nach
einer verwöhnten und an Vergnügungen reichen
Jugend mit ihrer Mutter allein auf der Welt.
Die Mutter war zu nichts im Stande, schon weil
ihre Gesundheit durch die furchtbare Katastrophe
untergraben war. Da begann das junge Mäd-
chen die Luxuskünste, die man ihm gelehrt hatte,
zum Geldgewinn auszunutzen. Im Winter gab
sie in der Stadt Musikstunden. Im Sommer zog
sie auf's Land und malte in diesen, Forste Bil-
der, durch deren verkauf sie ihr Dasein fristete.
Sie alterte rasch bei diesem Berufe, zumal ihr
der Verlust des Vermögens jede Aussicht auf die
Zukunft abschnitt. Sie war von lieblichem und
feinem Wesen, aber arm und nach bürgerlichen
Anschauungen durch die Katastrophe ihres Vaters
mit blosgestellt, so daß es Niemanden einsiel,
um sie anzuhalten. Trotzdem hatte sie sich lange
Zeit Hoffnungen gemacht. Jetzt hegte sie keine
mehr. Das war es, weßhalb sie so verändert
war. Nur ihre goldenen Haare trugen noch den
alten Glanz.

„Wie schön sind Ihre Haare," wagte ich eines
Nachmittags zu sagen. Und in der That flamm-
ten sic vor meinen Augen, sie leuchteten aus ihrer
Schwer,unth hervor, ivie die Sonne aus Ruinen.

„Sie machen sich über mich lustig," entgegnete
sie. „Ich bin eine alte Frau, oder schlimmer
noch, eine alte Jungfer."

Sie hatte das Wort „Alte Jungfer" in eisigem,
strengem Tone ausgesprochen, wie wenn ein Kran-
ker sagt: „Mit mir ist es aus."

„Nicht doch," antwortete ich; „Sie sind ja
noch ganz jung und werden noch heirathen."

Da schluchzte sie plötzlich auf.

1902

JUGEND

Nr. 46

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Georges Rodenbach: Die Erfüllung
Constantin Meunier: Dammarbeiter am Meer
 
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