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Nr. 19

Sensitiva Amorosa

Sch schlendere eines nebeligen Dezembernachmittags
vom Karlsthor langsam dem Marienplatz zu.
Die Lust ist zu milde sür die Jahreszeit, säst warm;
und der feuchte Nebel hängt schwer und lau aus der
Dämmerung herunter. Die Neuhauserstraße füllt
sich mit Menschen, — der schwarze, unruhige Strom
gleitet und schlängelt sich hin und her durch die bald
hellere, bald dunklere Straße. Der Lärm, das Ge-
wimmel, das starrende Licht selbst machen die Sinne
wie stumpf, saugen sie aus und wischen sie aus;
und man hört und sieht gleichsam mit anderen und
inneren Organen. Ich begegne Menschen, die mir
längst nicht mehr fremd sind, ohne daß ich wüßte,
wer sie sind; und ich blicke in Gesichter, die ich wieder-
crkenne, ohne zu wissen, wem sie gehören. Fäden
ziehen sich zwischen neuen Eindrücken und alten und
knüpfen in Plötzlicher und unerklärlicher Weise an
verschüttete Erinnerungen an, die wieder Gegenwart
und Gesicht und Fleisch und Blut werden; und der
Moment von jetzt und der Moment von da springen
wie zwei Funken in einander über, in denen Jahre
wie Blei zerschmelzen. Und alle Menschen gehen
einher mit größeren Augen und kleineren Zügen, und
man lauscht, wach und träumend, einem unsichtbaren
Erzähler mit bekannter und vertrauter Stimme...

Ich ging an einem Charculerieladen vorüber. Die
Thür stand offen. Bor dem Tisch breiteten sich be-
häbig einige dicke Weiber. Hinter ihnen aber stand
ein junges Mädchen, säst an die Wand gedrückt,
allein, mit baarem Haupte, einen Shwal uni den
schlanken Leib und einen Korb am Arm. Es fiel
mir etwas an ihr auf, wie sie geduldig dastand und
wartete, ohne daß ich mir sagen konnte, worin cs
lag; der gesenkte Kops, der nachdenkliche Gesichtsaus-
drück, die weiche Profillinie — alles erinnerte mich
an etwas, das ich schon in mir trug und das schon
Bild war, aber noch in Dunkel gehüllt.

Ich setzte meinen Gang fort, die Straße erweiterte
sich und wurde wieder ganz schmal... dann zer-
thcilte sich mit einem Male der Vorhang und ich
sah mich selbst in einer andern Straße einer andern
Stadt gehen, die sich auch erst erweiterte und dann
ganz schmal wurde, und hörte neben mir dänisch
die Worte fallen: „Ich werde dir eine Geschichte er-
zählen."

Es war aus „Vimmelskastet" in der Königsstadt
am Sund. An genau einem sölchen milden und
nebeligen Winterabend schleuderten ich und ein
Freund langsam von „Köngens Nytorv" hinunter
durch „Ströget." Er hatte seinen einen Arm unter
den meinen geschoben und suchtelte, seiner Gewohn-
heit gemäß, lebhaft und nervös mit der freien Hand
in der Luft, während er redete. Die lange, enge,
winkelige Passage wimmelte von junger Welt; mit
ihren kleinen, altmodischen Käfighäusern war sie
wie ein Corridor in einem gemüthlichen, vertrauten,
genieinsamen Elternhause, wo freilich auch die un-
gezogenen Buben und Mädel ihren Schabernack
treiben durften; und unter den rosigen Schmetter-
lingsflügeln einer gut gelaunten Göttin ent-
faltete sich der leichtfüßige Leichtsinn tändelnd
und leise.

Mein Freund war lang und schlank,
voller Verve und Beweglichkeit, mit zwei
blanken, braunen Augen in dem gebräun-
ten Gesicht, die säst schwarz erschienen,
wenn er in das bunte Treiben um uns
hineinblickte und dann in seine eigene
Erzählung immer mehr ausging. Er
gehörte einer Gattung Männer an, die
nicht selten sind in der Stadt Holberg's
und Jakobsen's — ein Träumer und
ein Skeptiker zugleich, sentimental und
klar, wählerisch und kindlich, rafsinirt
und einfach, ein neugieriger Feinschmecker,
der die Gesellschaftskreise, aus denen er
selbst stammte, gerne mied, um sich überall
anderswo herumzutreiben, ein flüchtiger
Haschermit der zähenTreue jener spontanen
Empfindungen, die lange und voll nach-
ktinge», weil ihnen nichts Fremdes beigcmischt
ist, und mit der vollständigen Zuverlässigkeit

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1903

eines braven Kerls. — Er hatte also die eine Hand
unter meinen Arm geschoben und demonstrirte an-
schaulich mit der anderen, während wir langsam
durch das Gewimmel des schmalen Trottoirs vor-
wärts schlenderten:

„Ich will Dir eine Geschichte erzählen. Aven-
ture d’amour, selbstverständlich.

Weißt Du was, mein lieber Dichter — ich finde,
Deine Collegen sind meistens schlechte Musikanten.
Ich glaube nicht recht daran, was sie zusammen-
schmieren. Je realistischer sie sich geberden, je düm-
mer schauen sie aus, wie sie in ihrem Unsinn herum-
schwimmen. Es kommt mir alles wie Dozent und
Ladencommis vor; es wird Einem was aufgcschwin-
delt — eine Theorie oder eine Maare. Der Mensch
ist gar kein so physisches Thier, wie uns eingebildet
werden soll; eristauch kein romantisches Thier, das
schwärmerisch glotzt, wenn eine himmlische Puppe
cinherschreitet. Oder sagen wir meinetwegen, er ist
mehr physisch und weniger physisch zugleich, als
man meint; nur eins nicht, das gemeine Mittel-
maaß gewiß nicht. Die blaue Blume ist mir dann
viel mehr Wirklichkeit; denn was wir im Weibe
lieben, ist immer doch die Seele, die duftende Seele,
die nicht sür Jedermann nach außen hängt und
ohne die es ein leeres Gefäß ist. Wir trinken sie,
und werden stolz und sroh wie die Götter. Sonst
ist doch die Liebe nicht zu erklären; die meine auch
nicht.

Also zur Sache: Was sagst Du dazu. Du Grüb-
ler und Menschenkenner? An einem Abend, wie
heute, einem echten Kopenhagener Winterabend,
mild und feucht und nebelig, komme ich hier im
„Vimmelskastet" in eine ganz prosaische Delikatesscn-
bude hinein, um >vas zu kaufen. Hinter dem Tisch,
wo sie mich alle kennen, fragt mich irgend Jemand
über die Köpfe einiger dicken Köchinnen, was ich
tvünsche. Ich versichere, ich wünsche nichts beson-
ders dringend und daß die dicken Damen jedenfalls
immer noch den Vorrang haben, bedient zu werden.
Denn ich hatte sür das Delikatessengeschäft über-
haupt momentan alles Interesse verloren.

Vor mir, hinter der geschlossenen Mauer der
Köchinnen, wie ich selbst, stand ein Mädchen, ein
junges Ding, ärmlich gekleidet, ein Handwerkers-
kind oder ein Dienstmädchen. Bescheiden, geduldig
stand sie da und wartete. Ich stand auch da und
wartete. Und dabei verliebte ich mich, wie es höch-
stens zwei oder drei Mal im Leben geschieht. Ver-
gegenwärtige Dir, bitte, die Umgebung! Und sie
selbst, das Mädchen. .. Ihr Gesicht war ein ziem-
lich fragwürdiges Gekritzel vom Himmelvatcr; sie
hatte große Füße, ihre Figur war auch nichts Be-
sonderes. Das Ganze aber war ein Charme, der
so ganz und gar nicht auszuhalten war, wenn man
ihn nicht sür sich selbst haben konnte. Ueber diese
egoistische Anwandlung aber, die der Liebe nun ein-
inal eigenthümlich ist, fluthete und sang der andere
Strom: Könnte ich doch dir, die du dastehst, nur
tvas sein und was erweisen dürfen!

Der Winter ging und der Frühling war da,

der erste, zarte Frühling; und es gibt eingestan-
denermaßen nichts in der ganzen weiten Welt,
was so schön wäre, wie der erste Frühling
bei uns in Sjaelland. Ich gehe durch den
Oerstedpark nach den „Seeen" zu, um meine
Schwester zu besuchen. Es ist gegen Mittag;
die Lust ist blau und linde und voll von
Düsten, die die Sonne aus der dampfenden
Erde zieht; überall in Gärtchen und Beeten
leuchten die ersten Crocus und Aurikeln,
und nah und fern schwebt es in der weichen,
kosenden Luft, wie zartgrüner Hauch, — die
Knospen sind in der Nacht gesprungen,
lind als ich bei meiner Schwester anklingle,
wo ich seit Monaten nicht mehr gewesen
war, öffnete nur die Thür — das fremde
Mädchen vom nebeligen Dezemberabend in
der Delikatessenbude am „Vimmelskastet."
Glaubst Du's — so stark und ungeschwächt
klang es von jenem Abend in mir noch nach,
als wir uns jetzt wieder gegenüberstanden,
daß ich ihr beinahe zugcrufen hätte: Nicht
wahr, wir haben uns doch gestern Abend gc-

Chr Neureuther
Register
Christian Neureuther: Zierleiste
Ola Hansson: Sensitiva amorosa
 
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