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ß.m ersten JJuni

it)it dann wohl zweimal anrcdcn, che man Antwort
bekam.

Zuweilen fuhr er aus solchem Hinträumen mit
einem kurzen Ausdruck des Schreckens, ja des
Schmerzes in die Hohe, manchmal aber auch mit
großen, leuchtenden Augen und freudig bewegt, llud
ich erkannte, daß dies Aufzucken jedes Mal mit dem
Schlag der nahen Thurmuhr zusammcufiel. Ich sah
auch manchmal deutlich, daß er auf diesen Schlag
wartete. Er hatte eine werthvolle Glashüttcr Uhr,
die er mit einer gewissen Zärtlichkeit hütete, die er,
wenn die Stunde voll werden sollte, herausnahm und
ansah, als zähle er die Minuten. Wenn aber dann
die Thurmuhr schlug, gab er kein Zeichen von innerer
Bewegung, nur sah er noch geistesabwesender aus,
als vorher. Nachher wars er wohl wieder jäh den
Kopf zurück, schüttelte das Haar aus der Stirne und
mischte sich ins Gespräch.

Die Berussgenossen und Untergebenen Hartwichs
— so hieß er — sagten, er sei ein Ehrenmann und
von großer Güte, verstehe sein Geschäft von Grund
aus, aber er sei ein Weniges verrückt. Und sie brauchten
dafür mit der Lieblosigkeit der Gesunden und Be-
schränkten einen Ausdruck aus derSprache des Volkes,
das heute fremdartigen Geistern gegenüber noch ge-
nau so feindselig und höhnisch ist, wie vor tausend
Jahren. —

An einem heiteren Juliabeud, an dem die Hono-
ratioren, wie immer, an ihrem Stammtisch festklebtcn
und um noch nichtigere Nichtigkeiten, als sonst, herum-
dcbattirtcn, floh ich mit Hartwich aus der Wirths-
stube in den Garten der „Post". Die Atmosphäre
unter dem niedrigen Kreuzgewölbe des alten Raumes
war erstickend gewesen und mit Wonne athmcten wir
die frische reine Abendlust, die vom Flüßchen herübcr-
strich. Die Wirtbin trug uns eigenhändig Gläser
und Feuerzeug heraus unter die hohe grüne Kuppel
des Kastanienbaumes» der die wenigen Tische des
Postgartcns überschattete. Sie sagte die üblichen
Worte über den schönen Abend und daun ließ sie
uns allein.

Schweigsam, wie Hartwich unter vier Augen säst
immer war, ivar er auch jetzt. Er zog seine Uhr
heraus und starrte auf ihr Zifferblatt und als dann
neun schallende Schläge vom Thurm durch den stillen
Abend dröhnten, schaute er wieder weltvergessen über
das weite Flußthal hin in das verglimmende Roth
am Himmelsrande. Daun nahm er sein Glas, trank
und hob den Römer ein >vcnig hoch, wie gegen einen
unbestimmten Ort in der Ferne. Er hatte vergessen,
daß ein Zweiter Zeuge dieses stillen Bechergrußcs
war. Jetzt siel es ihm ein. Verlegen setzte er sein
Glas nieder.

„Sie soll leben!" sagte ich, um das Schweigen zu
brechen und noch verlegener stieß er mit mir an.
Dann sagte er:

„Es ist schon so was und es war auch nicht schwer
zu crrathen. Sie haben mich oft genug gesehen, wenn
meine Seele auf Reisen war, weit, weit weg von
hier, und ich weiß auch, wie wenig ich meiner Ge-
danken und meiner Mienen Herr bin in jenen Augen-
blicken, wenn —"

„Wenn die Stunden schlagen!"

„Ja: wenn die Stunden schlagen. Sie sollen auch
wissen, was es damit für eine Bewandtniß hat. Es
ist eine sehr, sehr einfache Geschichte und doch ist Etwas
dabei, was mich um den Verstand bringen konnte
und vielleicht noch bringen wird. Etwas von jenen
Dingen, welche unsere Schulweisheit nicht unter Dach
und Fach zu bringen weiß!

Ich bin immer ein Schwärmer gcivcsen, wie sie
sagten, vordem freilich ein fröhlicher. Als ich noch
auf der polytechnischen Schule war, wohnte ich, ein
Studentlein mit bescheidenen Mitteln, bei einer Offi-
zierSwittwe in M. Es waren bitterarme Leute; die
kleine Pension und das Zimmervcrmiethen reichten
nicht aus sür's Leben und bis tief in die Nacht saßen
die beiden Damen wach und fertigten Stickereien für
ein Geschäft. Die Tochter meiner Hauswirthin war
ein holdeS und zärtliches Geschöpf, heiter und geduldig
gegen die Mutter, eine vergrämte Frau, die voll von
Ungerechtigkeiten, Schrullen und Vorurthcilen war

E. L. Hoess (Immenstadt)

und voll Undank für die selbstlose Aufopferung ihres
Kindes. Das seine, schöne Mädchen hatte es mir bald
augethan und je mehr ich ihr stilles Heldenthum, ihre'
unversiegliche Güte aus der Nähe sah, um so lieber
gewann ich sie. Trotzdem ich erst ztveiundzwanzig
Jahre zählte, war das keine kuabcuhaste Liebelei,
sondern eine Neigung sür's Leben. Wir verlobten
uns, wollten es aber der Mutter erst sagen, wenn
ich mein Examen hinter nrir hätte und wir waren
Beide die Leute dazu, Jahre lang ergeben und getreu
zu warten auf unser Glück. Da brachte Luisens
Mutter eines Tages einen Freier ins Hans, einen
Regimentskameraden ihres verstorbenen Mannes. Er
mochte ungefähr so alt sein, als ich heute bin und
Luise zählte damals noch nicht achtzehn Jahre. Jener
galt als tüchtiger, ernsthafter Offizier und wie er nicht
alt und nicht jung in seinem Wesen war, war er auch
nicht hübsch und nicht häßlich, nicht klug und nicht
dumm, nicht gut und nicht böse, ein Streber vielleicht,
im besseren Sinne, eher spießbürgerlich als flott. Er
besaß ein kleines Vermögen, das er nie augetastet
hatte — gerade die „Kaution". Hart und selbstsüchtig,
wie die Noth sie gemacht hatte, wollte die Mutter diese
Gelegenheit zur Versorgung Luisens sich nicht ent-
gehen lassen. Das Mädchen hatte keinen Willen neben
ihr und als nun auch unser Verhältnis; ans Licht
kam, wußte die Frau die heftige Szene, welche folgte,
so klug zu nützen, daß Luise, wehrlos und betäubt, dem
Freier ihr Jawort gab. Ihr zu grollen, hatte ich kein
Recht; cs wäre für Luisens weiche und schüchterne Art
ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, jahrelang im
Hader neben dieser Mutter hinzuleben. So hieß es
Abschied nehmen. Wir hatten nicht Zeit, irgend einen
Gedanken über einen Verkehr der Zukunft zu fassen;
die Mutter stand in der offenen Thüre und hatte
meine Reisetasche in der Hand. Da schlug draußen
eine Thnrmuhr au und plötzlich sagte das Mädchen
mit einem ganz visionären Ausdruck im Gesicht, die
nassen, rothgcweintcn Augen voll auf mich gerichtet:
„So oft Eins eine Stunde schlagen hört, soll es
an das Andere denken. So müssen sich unsere Ge-

. JUGEND .

Nr. 2.1

1903

407
Register
Eugen Ludwig Hoess (Höß, Hoeß): Am ersten Juni
 
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