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Nr. 21

JUGEND

1904

Variete

Von Sven Lange

Mangsam, ein bißchen taumelnd, ging er den
W) Boulevard hinunter, den Cylinder ganz in die
Stirn gedrückt.

Eine dumpfe Verzweiflung hatte ihn plötzlich
gepackt.

Den ganzen Abend war er von Cafe zu Cafe
gestreift, hatte Kellner und Pikkolos für sich springen
lassen wie nie. Die unterwürfigen Verbeugungen,
das devote Lächeln, die hastigen Entschuldigungen:
„Auf der Stelle, Herr Bureauchef!" waren ein Trost
für ihn gewesen. Cr brauchte Unterwürfigkeit —
oder mindestens Achtung — schließlich nur freund-
liche Gesichter. Denn als ihm so nach und nach der
Kognak zu Kopfe stieg, den er im Lause des Abends
getrunken hatte, wurde er stiller und stiller. Zuletzt
hatte er sich dabei ertappt, wie er die Arme einem
verbaselt dreinschauenden Kellner um die Schultern
preßte und ihn anstierte, ohne ein Wort zu sagen.

Und nun stand er wieder auf der Straße.

Die Uhr an einem Kiosk zeigt die elfte Stunde.
Elf! Nicht mehr als elf! . . .

Ein heftiger kalter Schauder schüttelte ihn, und
die Angst, die den ganzen Abend in ihm wachgelegen
und geknurrt und gesurrt hatte, pfiff ihn: plötzlich
durch die Knochen.

Und schwerfällig, mit weichen, unempfindlichen
Knieen kam er vorwärts.

Er blieb stehen. Zur Linken flammte hell über
einem Portale: Variete.

Eine kleine Erleuchtung kam über ihn. Warum
nicht? dachte er und ging hinein.

Schon der ehrerbietig-vertrauliche Gruß des Por-
tiers ließ ihn strammer gehen — von der hellen
Bühne am andern Ende des Saales schmetterte ihm
eine Frauenstimme lustig entgegen.

Stella! flüsterte er — wie sie ihre Röcke wirbelt...

Er lächelte; wohlthuend umfing ihn die schwere,
warme, raucherfüllte Lust, das Stimmengeschwirr,
die Rufe und Lachsalven gaben ihm plötzlich Selbst-
vertrauen.

Er richtete sich ganz auf und ging durch den Saal.
Die Kellner liefen ihm mit einem Lächeln entgegen:
„Hier, Herr Bureauchef! Wenn der Herr Bureauchef
mitkommen wollen!" Sie bahnten ihm den Weg zu
einem Stuhl ganz oben an der Bühne.

Er setzte sich, bestellte Whisky und Soda — und
als er wieder aufsah, traf sein Blick Stella, die da
oben mit gespreizten Beinen vor ihm stand und ihm
mit ihrer kleinen, runden, verworfenen Fratze lach-
end zunickte.

Er nickte wieder, sein ganzes Gesicht strahlte —
und als sie jetzt hervorgerufen wurde, steckte er seinen
Stock in den Cylinderhut, hob ihn hoch in die Luft
und ließ ihn in ausgelassener Huldigung herum-
schnurren.

Er trällerte laut vor sich hin und sah sich ver-
gnügt um.

„GutenMend!" „GutenAbend!" „GutenAbend!"
Journalisten, Kollegen, Geschäftsfreunde, Cafäbe-
kanntschaften — von rings her begrüßte man ge-
mütlich den muntern und generösen Büreaumann.

Ja, ja, Freunde habe ich genug! dachte er, während

er grüßte-- aber morgen! . . .

t Die Angst pfiff ihm durch die Glieder. Er trank
seinen Whisky bis zur Neige aus und starrte vor
sich hin.

„Ich finde mich nicht heraus," wisperte er, „kann
mich nicht herausfinden... Warum mußte auch die
Revision kommen? Warum Hab ich nicht daran ge-
dacht, daß sie kommen könnte?" Und er murmelte:
„Gott, Gott, kannst Du mir nicht ein klein bißchen
Helsen? Ich Hab doch nichts Schlechtes mit dem G'elde
gethan!" ...

Er ließ den Kopf tief sinken: „Die Polizei_

Die Schränke... Handfesseln.

Handfesseln!" . ..

Wieder trank er, und als er abermals die blei-
ernen, wie gelähmten Augen hob, sah er einen
Schimmer von einem paar gespreizten Beinen, die

auf die Bühne wirbelten, und hörte eine kreischende
Stimme französisch singen.

Und während des Trommelns und Pfeifens der
Musik, während die Leute rings riefen und lachten,
Bouquets auf die Bühne warfen und den Refrain
mitsangen, und während das Mädchen sich tausend
lüsternen Blicken preisgab — flüsterte er, halb be-
wußtlos vor Trunkenheit und Angst:

„Schweinerei — mag's. kommen, wie's will . . .
wir mögen ja alle so str kleines Mädel gern leiden,
nicht wahr?.. Nun könnt ihr sie nehmen, ihr da..
Ich kann nicht heut Abend... ich kann nicht. . . ."

Sein Kopf siel auf die Brust nieder, und der
Hut rollte zur Erde. Er schlief.

So saß er, bis die Vorstellung vorbei war. Die
Leute gingen, und die Lichter wurden ausgelöscht.

Da brachten ihn die Kellner behutsam in eine
Droschke, die ihn nach Hanse fuhr, damit er wenig-
stens in der kommenden Nacht im eignen Bette schlafen
konnte.

(Autorisierte Uebersehung von Hans Vieh off)

Liebe Iugencl!

In einem kleinen Städtchen Süddeutschlands
hat sich ein hoher Geistlicher zur Visitation des
Religionsunterrichtes in der Volksschule eingefun-
den. Nachdem der hohe Geistliche sich einige
Liederverse aus dem Gesangbnche zu seiner Zu-
friedenheit hatte hersagen lassen, fragt er auch
nach Bibelsprüchen. Von fast allen Rindern er-
hält er gute Antworten. Nur das kleine Fritz-
chen auf dem untersten platze war nicht im Stande
auch nur einen einzigen Spruch trotz eindringlichen
Zuredens des hohen Geistlichen und des Lehrers
herzusagen. „Nun, mein liebes Fritzchen," sprach
sanft und gütig der hohe Geistliche, „einen Bibel-
spruch wirst Du mir wenigstens sagen können.
Besinne Dich doch einmal recht ordentlich!" Nach
einigem Nachdenken antwortete das kleine Fritz-
chen verdrießlich: „Hebe Dich weg von mir Satan,
denn Du bist mir ärgerlich."

Aus einer kleinen Residenz

erzählt man folgende Geschichte:

Anläßlich des Geburtstagsfestes des Landes-
herrn ist an sämmtliche hohe Beamte Einladung
zur Hoftafel ergangen. Unter den Befohlenen
findet sich auch der neuernannte Forstmeister R..
welcher mit einiger Aengstlichkeit zum ersten Male
bei Hofe erscheint.

Auf der Festtafel sind in sinniger weise kleine
Ehocoladegegenstände vertheilt, die, mit dem Bild-
niß des hohen Geburtstagskindes geschmückt, von
den Gästen als Erinnerung mitgenommen werden
sollen.

Forstmeister R. hat seinen platz neben dem
Hofmarschall und sieht zu seinem Erstaunen, wie
die Herren bei Tisch wirklich die Ehocoladestückchen
einstecken, ist selbst aber zu schüchtern, um zuzu-
greifen. Sein Nachbar bemerkt dies und redet ihm
zu, doch für die Rinder etwas mitzunehmen. R.
dadurch ermuthigt, nimmt drei Stückchen. Sein
Nachbar erkundigt sich bei ihm, wie viel Rinder er
habe und wahrheitsgetreu antwortet er: „Sieben."
„Ja," erwidert der Hofmarschall, „da haben Sie
ja viel zu wenig mitgenommen." Trotz feines
Sträubens steckt er dem Forstmeister noch vier
Stücke zu. An der Tafel ist nun zufälligerweise
gehört worden, daß R. sieben Rinder habe und
im Laufe der Unterhaltung kommt diese Runde
auch zu Hoheit. Dieser, sehr erfreut einen An-
knüpfungspunkt zu haben, wendet sich lachend zum

Forstmeister mit den Worten: „Also sieben Stück"
R., der innerlich noch mit seinem vermeintlich un-
bescheidenen Zugreifen beschäftigt ist, fährt bei
dieser Anrede auf und sie in seinem Gedanken-
gange verwendend, antwortet er: „Jawohl, sieben,
Hoheit, aber drei nur von mir, vier sind von
Herrn Hofmarschall von Baden."

Aus der Ronfirmandenstunde

Pastor: „welche Rechte haben wir nach der
Ronfirmation?"

Schülerin: „Wir haben das Recht, Pathe
zu stehen."

Pastor: „Gut, nenne mir weitere Rechte!"
Schülerin: „wir haben das Recht,
Eltern zu werden!"

Der sterbende Vagabund

Du. liebe rauhe Erdenwelt
Und geht es denn an's Scheiden,

Mir ist, du willst auf kaltem Feld
Mein letztes Bett bereiten. —

Dem Herbergspoost mißfiel die Kluft
Mit ihren leeren Taschen;

Wenn nun der Wirth zur Urständ ruft,
Mag sie der Negen waschen.

Novembernacht, thu nicht so wild!

Sieh doch, mir wird ja linde.

Und sonnig seh ich das Gefild
Belebt von lauem Winde.

Da wiegt es sich im heitren Licht,
Umblühte Wasser singen
Und eine gute Stimme spricht
Und Heimathglocken klingen.

Das winkt und lacht und drangt sich her
Von Worten und Gestalten;

Du liebe Welt, wie ist es schwer
Das Alles festzuhalten.

Ein Händedruck, ein dunkler Blick
Und Flüche und Thränen und Lieder
Und Glück und Rausch und Mißgeschick,
Das Leben steigt auf und nieder.-

Am blauen Sund wollt ich einmal
Thorwaldsens Werke sehen;

Da stand ein Diener im hohen Saal,

Der hieß den Stromer gehen.

Er zeigte ernst auf meine Schuh,

Die waren ein wenig zerrissen.

Das Christussteinbild schaute zu.

Schien nichts von mir zu wissen.

Maria, minnig Gottgemahl,

Dir sag ich es mit Bangen:

Nun komm ich gar zum Himmelssaal
Nur barfuß hergegangen.

Spricht morgen früh ein Kunde vor,
Ermattet von der Reise,

Befiehl Deinem Diener am Wolkenthor,
Daß er ihn nicht verweise.

franz Langbernrlck
Register
Sven Lange: Variété
Franz Langheinrich: Der sterbende Vagabund
[nicht signierter Beitrag]: Liebe Jugend!
[nicht signierter Beitrag]: Aus der Konfirmandenstunde
[nicht signierter Beitrag]: Aus einer kleinen Residenz
 
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