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1905

Nr. 11

Gespenstische Stunde

Trag und schwer, in lässigem Ermatten
Schleicht der schwarze Bach.

Drohend übers Dach

Fallen schon der Nacht verzückte Schatten.

Aus den Wolken, funkelnd, streckt sich
Gottes Faust,

Rüttelt an den Thürmen, wühlt und zaust
Wild im Haar der Baume und versteckt sich.

Iah aufglühend, schütten tausend Sterne
Feuerwein ins Thal.

Roth, mit einemmal

Brennt die stumme, nachtverhängte Ferne.

Wie am Haus die treue Sommerlinde
Stöhnt und rauscht!

Horch! Mein Herz erschrickt und lauscht:
lieber den Dächern weinen die Winde. . .

ksans fßüller (ZPien).

Aphorismen

Von Paul Garin

Jung bleiben die Leute, welche unausge-
setzt an ihrer Unsterblichkeit arbeiten.

Niemand kennt Dich besser als Du selbst,
so lange Du schweigst. Sobald Du redest,
kennt Dich immer der eine oder andere Deiner
Zuhörer besser.

Den Dank muss man laut, die Bitten leise
aussprechen.

Wo ein Streit entsteht, sympathisiert der
feinere Theil der Zuschauer sofort mit dem
Schwächeren, der rohere mit dem Stärkeren.
So zieht der feinere Mensch schon aus dem
reinen Zuschauen allein mehr Enttäuschungen
im Leben als der gröbere. Die Differenz
zwischen den Summen der Lebensenttäusch-
ungen der beiden gibt überhaupt den Unter-
schied in der Feinheit der Organisation an.

Ein Jeder wünscht sich Reichthum, ein
Jeder aus einem andern Grunde, ein Jeder
aus einem „schönen" Grunde.

Dulcamara

Vierzig Jahr die Welt durchstrich ich nun,
Durfte weich dem Glück im Schoße ruh'n;

Lasten drückten mir den Nacken schwer;

Lust- und Leidenskelche zecht' ich leer.

Nimmer doch in jung- und alter Zeit
Trank ein Mund mir zu so süßes Leid.

Und mit Grauen lernt' ich's diesen Tag,
Wie so herb ein Glück zu sein vermag.

Her die Becher! Ströme, Wermutwein!
Selig saug' ich Deine Qualen ein.

Schlürfe, Lippe! Zuck' nicht feig zurück!
Schlürf' aus Höllenschalen Dir Dein Glück!

Die Erlösung

Tine Glosse von I)ugo 6an; (Vien)

te Freunde saßen vor dem Tarocklisch, aber keiner
langte nach den Karten. Bor ihnen lag ein
Extrablatt über die Revolution in Petersburg mit
dem sensationellen Untertitel: „1500 To die".

Der Hofrath stieß den Rauch seiner Virginia
zwischen den Zähnen hervor und fragte den Ab-
geordneten, das ständige Stichblatt seiner Sarkasmen:

„Weißt, warum der Ochs 'n Ochs ist?"

„Bin doch nit der Herrgott," brummte der So-
zialist.

„Weißt nit?"

„Nein."

„Na, weil er nit stößt. Das ist doch einfach,"
knurrte der Hofrath und vergrub sich wieder in den
Wolken seiner Virginia.

„Hast leicht reden," nahm der Abgeordnete nach
kurzer Pause das Gespräch wieder auf. „Was hätten's
denn machen sollet:, die armen Leuteln mit ihren
bloßen Händen gegen die Repetiergewehre und die
Kosakensäbel?"

„Woher weißt' denn, daß ich die Arbeiter mit
den Ochsen meine?" fragte der Hofrath unwirsch.

„Na wegen dem Stoßen!"

„Und die Infanteristen? Für was haben denn
die ihre Gewehre? Blos wie die Ochsen die Hörner,
daß sie sich das Leitseil drüber legen lassen? Wenn
man mir kommandierte, ich soll auf arme Leut', die
vor mir knien, schießen, dann weiß ich, wohin ich
schieß!"

„Die meisten haben auch in die Lust geschossen,
sonst hätt's zehnmal mehr Todte gegeben."

„Schasskopf!" knurrte der Hofrath.

„Keine Verbalinjurien," warf der Theaterdirektor
ein. „Wir sind doch auf keiner Generalprobe."

„Wegen seinem in die Luft schießen! Wie lang,
Herrgott, werden die Menschen sich noch so was ge-
fallen lassen, daß da einer mit dem rothen Kragen
andern befiehlt, daß sie andre umbringen sollen,
ohne daß sie ihn . . . na, ich will mir das Maul nit
verbrennen."

„Freilich wär alles anders, wenn die Kerle ein-
mal nicht mehr wollten," fuhr der Sozialdemokrat
mit einer Anleihe bei Friedrich dem Großen fort.
„Aber das kann uns nur die organisierte Sozial-
demokratie bringen. Laßt erst alle Nationen organi-
siert sein, dann hört die Mörderei von selbst auf."

„Und bis dahin werdet ihr hundertmal von
Bauern und Kosaken erschlagen!"

„Ist auch gar nicht zu machen," warf der Theater-
direktor ein. „Einsicht und Disziplin bringt man
dem Menschen am schwersten bei. Eher geht's nach
der Tolstoischen Methode. Die stärkste Kraft aus
Erden ist noch immer das Ehristenthum. Sag' den
Leuten eindringlich, daß Christus geboten hat, Du
sollst nicht töten, und sie werden keine Waffe mehr
in die Hand nehmen." Der Direktor war gerade
mit der Probe zur „Macht der Finsterniß" beschäftigt
und ganz drin im Tolstoischen Jdeenkreis.

„Das ist doch der größte Humbug, zu thun, als
ob wir Christen seien," erwiderte der Hofrath. „Wer
ist denn ein Christ, vom obersten angefangen? Ein
paar Narren, die man einsperrt. Uns kann nur
die Chemie helfen."

„Aber geh' mit Deiner Chemie. Den Witz kennen
wir schon. Denkst doch an die Stickstoffpastillen von
Berthelot, mit denen der Ackerbau und der Grund-
besitz überflüssig gemacht werden sollen? Aber da
wird man erst was Schönes erleben, wenn die
wirklich erfunden werden sollten! Wie ist es denn
mit dem Saccharin gegangen? Es schmeckt zwar
eklig genug das Zeug, aber mit welchem Recht hat
man's verboten? Doch nur, weil die Herren Agrarier
das Volk weiter tributpflichtig halten wollen. Das
ist der Schutz der nationalen Arbeit. Was ist denn
der Staat überhaupt? Doch nur eine Einrichtung
zum Schutze der Ausbeutung! Und da wird er sich
eine Erfindung gefallen lassen, die der Ausbeutung
ein Ende macht!"
Register
Hans Müller: Gespenstische Stunde
Hugo Markus Ganz: Die Erlösung
Heinrich Nisle: Zierleiste
Paul Garin: Aphorismen
Fritz Erdner: Dulcamara
 
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