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vier Worten, daß Niemand das Empfinden hatte,
da ist ein Fremder, und alle schickten sich an, zu
essen. Und der fremde Mann aß mit, als ob er
jeden Tag nutgegessen hätte.

verstohlen aber stahl sich der kleine Willi zur
Tür hinaus; und Klein-Willi lief in größter Eile
die Dorfstraße hinunter nach der Mitte des Dorfes,
wo die größten Käufer stehen und die reichen
Leute wohnen. Da stand auch das Wirtshaus,
und d?rt waren fast alle wohlhabenden Männer
aus dem Dorfe beisammen. Dort saßen auch der
Bürgermeister, der Lehrer und der Pfarrer in
einem kleinen Nebenzimmer am Tisch und spielten
Karten.

Klein-Willi wußte das, denn fie saßen jeden
Abend da, und alle Leute, auch die Kinder,
wußten das.

Er ging hinein und ging zum Pfarrer und
sagte ihm leise etwas ins Ohr. Der Pfarrer
machte ein ernstes und bitteres Gesicht und sagte:

„Gehe nach Hause, Kleiner, Du bist nicht ganz
gesund, ich werde morgen mit dem Vater sprechen."

Traurig und gesenkten Köpfchens trat Klein-
Willi über die Schwelle, und vor der Tür blieb
er stehen.

„was ist's?" fragten die andern den Pfarrer.

„Er leidet an Wahnvorstellungen," sagte dieser.
„Es ist traurig mit diesen Leuten da draußen,"
dann spielte er weiter.

Der Kleine aber stand noch da draußen vor
der Tür und weinte. Da kam der Wirt und nahm
ihn freundlich beim Aermel und schob ihn in die
Küche.

„Da füttert ihn einmal satt," sagte er und
machte die Türe zu. Klein-Willi sagte aber in
der Küche, er sei satt, und zu krause sitze der
Heiland am Tisch, und man brauche ihm gar
nichts geben.

Die Mägde lachten den Buben aus; aber der
alte Knecht nahm ihn bei der Hand, um ihn
nach krause zu bringen.

Als sie bei dem Häuschen ankamen, da sah
der Knecht zum Fenster hinein. Er sah den
Fremden sitzen und er machte dreimal ein Kreuz
vor der Brust und eilte, was er konnte, zum
Wirtshaus zurück.

Er ging in die Stube und sagte, beim Häusler
sitze der Heiland am Tisch, er hätte es selbst
gesehen.

Einige lachten ihn erst aus, aber andere sahen
mit großen, staunenden Augen den Knecht an,
und er wiederholte, was er gesagt, und da lachte
niemand mehr.

Man riß die Tür auf zum kleinen Zimmer,
wo der Pfarrer und der Bürgermeister saßen und
sagte ihnen, was draußen erzählt wurde.

Schon waren einige hinaus auf die Straße
gegangen und von Haus zu Haus sprach es sich,
beiin Häusler ist der Heiland zu Tisch, beim
Häusler vor dein Dorf.

Alles drängte sich nun um den Pfarrer, den
Lehrer und den Bürgermeister. Der Letztere fluchte,
und der Pfarrer machte ein sehr ernstes Gesicht.
Der Lehrer sprang auf und faßte bald an diesen,
bald an jenen Stuhl; dann nahm er den Stock
hinunter vom Haken. Er wußte nicht, was er
denken und sagen sollte.

Der Pfarrer zeigte sich der Situation gewachsen,
und er stand auf in seiner ganzen imposanten
Größe:

„Ruhig Leute," befahl er, und es wurde wirk-
lich ruhig. Alle horchten.

„wenn es der Heiland wäre, so wäre er zu-
erst zu mir gekommen oder zum Bürgermeister,
wie sich's gehört und nicht zum Häusler. Ich
werde Euch aber hinführen, Ihr sollt es selbst
sehen."

Da sprach alles durcheinander. Die meisten
stimmten zu.

„Ja, ja, wie sich's gehört, zum Bürgermeister
wäre er zuerst gekommen, der Herr Pfarrer hat
recht, ganz recht hat er."

Einige schwiegen, und einer sagte: „Vielleicht
kann der Heiland nicht Karten spielen."

Aber das hörte niemand, denn er hatte es
nur halblaut gesagt.

Inzwischen aber wurde es ruhiger. Man
vertraute auf den Geistlichen, der jetzt der Mittel-
punkt des ganzen Gewühles wurde, und man
schickte sich an, nach dem Hause des Häuslers zu
gehen.

Der Pfarrer ordnete aber an, daß der weih-
wafferkeffel geholt werde, und daß zwei ihn vor-
antragen mochten und einer ein Lhristusbild.
Als alles das geschehen war, da zögerte er noch
immer, denn der Wirt war inzwischen selber
draußen beim Armenhäusel gewesen und hatte
heimlich durch das Fenster gesehen und hatte
eben jetzt dem Pfarrer leise in das Ohr ge-
sprochen.

Die Leute aber drängten immer mehr, und
der Pfarrer wurde mitgerissen, ob er wollte oder
nicht. Er durfte nicht mehr zögern, und so be-
wegte sich der ganze Zug, der immer mehr an-
wuchs und immer ernster und stiller wurde, je
weiter man vorwärts kam, dem Häuschen draußen
entgegen.

Aber vor dem Dorf stand beim letzten Haus
ein Kreuz; da hieß der Pfarrer halten und alle
knieten nieder und beteten. Doch einer eilte im
geheimen dem Zuge voraus, entgegen der An-
ordnung des Pfarrers, und noch ehe die andern
das Häuschen erreicht hatten, kam der zurück und
sagte laut, daß es alle hören konnten: „Er ist
fortgegangen."

Er war wirklich fortgegangen. Er hatte mit
den andern zu Ende gegessen; er hatte Brot ver-
teilt unter die Kinder und die Eltern und war
wieder zur Tür hinaus gegangen, wie er gekommen
war, und nieinand ging ihm nach. Die armen
Leute standen still, gesenkten Hauptes und sahen
ihn gehen, wie sie ihn hatten kommen sehen.

Ruth St. Denis Lulu Lazard

im «Schlangentanz1 [München]

Jetzt kam der Häusler selbst, und er eriLblt.
es dem Pfarrer.

Der Pfarrer sagte zu den Leuten, die alle um
ihn standen: „Betet zu Gott, daß Euer Haus
und Euer Herz rein bleiben möge." Und rum
Häusler sagte er:

„Ich werde morgen Eure Tür mit Weihwasser
besprengen, daß Luch hinfort der böse Geist nicht
mehr in Versuchung führe. In Christo Jesu.
Amen."

Und alle gingen nach Hause, und der Pfarrer
und der Lehrer gingen zurück ins Wirtshaus zu
den Karten.

Der kleine Willi aber weinte, und er sagte:

„wenn der Pfarrer das tut, dann kommt der
Heiland nicht mehr."

Die Meile

Der alte gute Oberst konnte es gar nicht leiden
wenn seine Offiziere zum Exerzieren statt ihrer
Dienstpferde „Vollblutschinder" ritten. Das brachte
ihm nur Unruhe in sein „Programm". Eines
Morgens beim Regimentsexerzieren, als ein feier-
licher Frontgalopp absolviert wird, bemerkt er den
Leutnant von kleben auf „Terrible" samt seinem
Zuge etwas zu weit vor. „Leutnant von Xleben,
Sie sind ja wieder eine Meile vor der Front "
ertönt seine Donnerstimme.

Prompt erfolgt das Kommando: „Dritter Zug
— Schritt I Zu zweien rechts brecht ab — marsch,
Tete rechts umkehrt schwenkt, rührt Euch, es kann
geraucht und gesungen werden."

Der Erstarrung nahe, vermag der „Alte" nur
noch zu stammeln: „Herr Leutnant - was machen
Sie denn — ?"

In tadellos dienstlicher Haltung erfolgt die
Antwort: „Ich marschiere die Meile zurück, Herr
Oberst!"

Wahre Geschichtchen

Dem Schulausschuffe des Stadtverordneten -
Kollegiums zu Graustädtel liegt das Gesuch des
Realschullehrers vr. phil. pertbel „Die Anschaffung
eines Schrittzählers für das physikalische Kabinett
der Realschule betreffend" zur Genehmigung vor.
Nach längerer Debatte „für und wider" wird
das Gesuch infolge der kräftigen Gegensprache
der Herren Stadtverordneten Bäckerobermeister
Müller und Gasthofbesitzer Schulze mit großer
Mehrheit abgelehnt, mit der Begründung, daß
angesichts wichtigerer Ausgaben die Anschaffung
eines Schrittzählers für vollständig unnötig er-
achtet werden müsse." — Schon in der nächsten
Sitzung desselben Ausschusses hat Herr Vr. Pendel
wieder ein Anliegen. Diesmal handelt es sich um
die Bewilligung eines Pedometers, eines Instru-
mentes, das wegen seiner einfachen und dabei
feinsinnigen Konstruktion jedem Menschen bekannt
sein müsse, der Anspruch auf Bildung erheben
wolle. Anfangs meldet sich niemand zur Sache.
Endlich fragt Herr Stadtverordneter Schulze, wie
es denn komme, daß ein so wichtiges Instrument
nicht schon lange unter die Lehrmittel ausge-
nommen worden sei, worauf Herr Obermeister
Müller darauf hinweist, daß es bei den raschen
Fortschritten der Technik und Wissenschaften ge-
radezu an Interesselosigkeit grenze, ein so wichtiges
Instrument, wie „der Pedometer" sei, noch länger
vermissen zu müssen. So wurde im Jahre des
Keils t908 in Graustädtel trotz großer Ausgaben
für den Realschulhaushalt einstimmig der Ankauf
eines „Pedometers" beschlossen, nachdem man sechs
Wochen vorher einen „Schrittzähler" für ein voll-
ständig überflüssiges Spielzeug erachtet hatte. —

*

Ein kleiner Junge begegnet einem Freunde
der Familie. „Herr Direktor!" ruft er laut über
die Straße, „Herr Direktor, gestern Nacht ist be:
uns eine kleine Schwester angekommen, und die
trinkt M e n s ch e n m i l ch l"
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[nicht signierter Beitrag]: Die Meile
Lou (Lulu) Albert-Lazard: Ruth St. Denis im "Schlangentanz"
[nicht signierter Beitrag]: Wahre Geschichtchen
 
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