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Nr. 43

JUGEND

1908

Gtudemlein-Abschied

Die alte Postkutsch' schillert
Goldgelb wie Butter,

Lustig der Postillon

Bläst sein Lied und trillert. . .

Ade, liebe Mutter!

Und auf und davon!

Durch blitzblanke Scheiben
Lachenden Mutes scheinen
Knabenaugen zwei.

Mag Mütterlein weinen.

Junge muß tapfer bleiben!

Ist gar nichts dabei.

Ein weiß Tüchlein winket,

Ein Herzlein tut schlagen.

Zum Hügel, zum Wald
Rollt weiter der Wagen —

Ferne, ferne versinket
Eine liebe Gestalt.

Vom Bock oben klingt leise
Wie schluchzendes Sehnen
Das Posthorn ins Land,

Drinnen rinnen heiße
Salzige stille Tränen
Auf eine kleine Hand.

A. I>e Nora

Aphorismen

von Dr. Bacr (Oberdorf)

Große Menschen geben uns nur ihre
Werke; — wie inan lebt, muß man von den
Kleinen und Kleinsten lernen.

Willst du die Aufmerksamkeit der Leute
von dir ablenken, so mußt du mit ihnen —
Bruderschaft machen.

Frauen, die ihrer Liebe auch ihre Schön-
heit opfern, trifft man fast nur inehr in den
Hinterhäusern und bei den Bauern.

Sich ausleben — das ist etwas für die
Kleinen, — den Großen bleibt das Leben
unendlich viel schuldig.

Die unglücklichsten Blinden sind die mit
— sehenden Augen.

Alles echte, wahre Gefühl hat sein festes,
begrenztes, sicheres Maß, — in's ungemessene
wachsen nur krankhafte oder erlogene Gefühle.

Ein armseliges Alter, das nichts anderes
hat als seine Erfahrungen!

In den Augen der Metze ist jedes Weib feil.

Ten Souffleur meldet kein Zettel — weder
im Theater noch in der Geschichte.

An schönen Menschen sind die Tugenden
schöner, die Laster dafür abscheulicher wie
an häßlichen.

Die Dynamitsau des Puritaners

/Ks lebte einst am Susquehana eine Sau, die
S23 hieß Sophia und besaß neben anderen liebens-
würdigen Eigenschaften des Leibes und der Seele
auch die, daß sie acht Zentner wog, und sehr eifrig
darauf bedacht war, ihr lebendes Kapital an Speck
und Schinken zu vermehren. Das unerforschliche
Schicksal hatte diesen Schatz einem gottesfürchtigen,
eifrigen und klugen Aankee anvertraut, der Daniel
Josaphat Ephraim Brown hieß und der den
Wald ausrodete, teils um die Zivilisation weiter-
zuverbreiten, teils auch um, wie es geboten war,
im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu essen,
teils auch, weil er auf ein gutes Geschäft hoffte.

Die ganze Woche war Daniel Josaphat
Ephraim Brown im Walde tätig, fällte Bäume,
verband sie zu Flössen und sandte sie den Sus-
guehana hinab. Am Samstag aber legte er Dyna-
mit in die Wurzelstöcke und sprengte sie in die Luft,
und jeder Dynamitschuß knallte wie ein lautes
Tankgebet zum Himmel empor.

Nun geschah es eines Samstages, daß eine
Tynamitlage, die mit Talg und Sägespänen der
besseren Verteilung wegen vermengt war, unter
einer alten Eichenwurzel liegen geblieben war, und
Daniel Josaphat Ephraim Brown bemerkte sie
erst am nächsten Tage, als er um neun Uhr morgens
vom Gottesdienst zurückkehrte. Entfernen konnte
er den Sprengstoff nicht mehr, denn das wäre
einer Sabbatentheiligung gleichgekommen; ohne-
dem wäre es auch zu spät gewesen, denn Sophia,
die gottlose San, hatte sich der Eichenwurzel be-
reits genähert. Anstatt den Sonntag zu heiligen,
war sie nur eifrig darauf bedacht, ihr Kapital an
Speck und Schinken zu vermehren. Als Josaphat
Daniel Ephraiin sie so am Baume wühlen sah,
erzitterte er bis in sein innerstes Gebein und ließ
das Gebetbuch fallen. Aber es war ihm eine
härtere Prüfung auferlegt, er nrußte mit Entsetzen
mitansehen, wie Sophia den Explosivstoff ver-
schlang und dann nach dem Garten zu trottete,
wo sein kleiner Sohn Benjamin Moses Abner
mit alten Kupfercents spielte. Wehe, wenn das
Tier bei dem Kinde explodierte!

Daniel Josaphat Ephraim warf sich auf beide
Knie und rief: „Herr, erbarme Dich! Sophia!
Sophia!" Alsbald drehte sich die Sau uni,
und lief auf Daniel Ephraim Josaphat zu! Als
er sie herankommen sah, sprang er auf und eilte
davon! Sophia folgte ihm schnell und lustig

Ans dem Münchner Quartier laiin

„werlle heule sorrrstehrn Vera rum vuehl." — „was ist
üer Srunst, Souls)" — „vsr Vers detzsuptet, ich sei nicht
ncurssthcnilch."

grunzend, denn sie liebte ihren Herrn. Der sprang
in die Milchkammer, konnte aber die Tür nicht
zuwerfen, da er fürchten mußte, daß er das Tier
einklemmte und so zur Explosion brachte. Er-
eilte hinaus, Sophia folgte ihm nach und warf
mehrere Milchkübel um. Dann rannten beide
auf einem schmalen Waldpfad im Galopp daher
und Daniel Ephraim Josaphat warf unterwegs
Rock, Weste und Kragen ab, um besser laufen
zu können. Die Dynamitsau aber blieb in rm-
verminderter Schnelligkeit hinter ihm. So ge-
langten sie nach halbstündigem Laufe zu dem
kleinen Dorfe, das Salem hieß. Als Daniel
Josaphat in die Hauptstraße einbog, hatte er ein
wenig Vorsprung, denn die San beroch etwas,
was auf der Straße lag. Die Einwohner um-
ringten ihn sofort! Mit wenigen Worten hatte
er ihnen das gräßliche Erlebnis erzählt, und alles
flüchtete, als da die Dynamitsau langsam und
triumphierend grunzend ihren Einzug in die Dorf-
straße hielt. Sie trottete bis zum Kirchenportal und
blieb dort ruhig in der Sonnenglut liegen, rieb
sich auch wohl an der Kirchenpforte, worauf dann
jedesmal Stoßgebete zrr den Fenstern hinaus zum
Hinimel geschickt wurden.

So verstrichen zwei bange Stunden, als plötz-
lich der ehrwürdige Reverend John Zacharias
Bliß mit dröhnender Stimme den 108. Psalm zu
intonieren begann. Erst furchtsam, alsdann kräfti-
ger und mächtiger sang ganz Salem mit. Und
siehe, der Himmel erhörte das Flehen der Ge-
ängsteten; schwere Wolken kamen aus dem See-
gebiet herangezogen, und ein Gewitter von einer
Gewalt und Stärke, wie es der bekannte älteste
Mann seit 97 Jahren nicht erlebt hatte, entlud
sich über den Häuptern der Singenden. Wenn es
in der gespenstischen Nacht heller wurde, sah man,
wie die Sau hin und herraste; wieder einmal als
es aufleuchtete, sah man die hagere lange Knochen-
gestalt eines Unbekannten aus der Finsternis auf-
tauchen. Endlich war das Wetter vorübergesaust,
es wurde lichter. . . von der Sau ward nichts
mehr gesehen.

Langsam trauten sich die Leute von Salem
aus ihren Häusern. Die einen behaupteten, die
Sau wäre unter Donner und Blitz gen Himmel
gefahren, andere sprachen von dem geisterhaften
Unbekannten, wieder andere wollten sie gesehen
haben, wie sie in den Wald trottete. Sie wurde
das Geheimnis der Gegend. Die Kinder wurden
gewarnt, nicht zu tief in den Wald zu gehen,
sie könnten der Dynamitsau begegnen. Hörte
man in der Ferne einen dumpfen Krach, so
war cs die Dynamitsau. Geschah irgend ein
plötzliches Unglück, so war die Dynamitsau
daran schuld — und als später Benjamin
Moses Abner Brown, der Sohn des denk-
würdigen Daniel Josaphat Ephraim Brown,
eine Bank gründete und Bankrott machte,
da war auch an diesem Krach die gespenstische
Dynamitsau vom Susquehana schuld! Denn
sie treibt noch immer ihr Wesen, und wird
zum letzten Male explodieren am Tage des
jüngsten Gerichtes; denn also hat es John
Zacharias Bliß prophezeit.

Friedrich Freksa

Liebe Jugend!

Eine Kompagnie rückt 7 Uhr vormittags
Zum Kompagnie-Exerzieren zum großen Platz.
Nachdem \ Stunde exerziert und p/- Stunden
Gefecht geübt worden ist, will der Kom-
pagnie-Lhef noch einen Parademarsch machen
lassen, um, wenn dieser gut ausfällt, ein-
zurücken. Der Oberleutnant X., der bisher
Regiments-Adjutant war, wird teils zu feiner
Schonung, teils als geeignete Persönlichkeit
dazu verwandt, das Schrittmaß nach der
Uhr zu kontrollieren. Der Parademarsch klappt
und auch der Oberleutnant meldet, daß das
Schrittmaß genau in der Minute betragen
habe. Die Kompagnie rückt ein. Nachdem
weggetreten ist, fragt der Oberleutnant seinen
jüngeren Kameraden: „Sagen Sie mal, wie-
viel Uhr ist es denn? Meine Uhr steht
auf <748."
Register
Dr. Baer: Aphorismen
A. De Nora: Studentlein-Abschied
Otto Tillkes: Aus dem Münchner Quartier latin
Friedrich Freksa: Die Dynamitsau des Puritaners
[nicht signierter Beitrag]: Liebe Jugend!
 
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