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durchzogen, die in den Felsrissen talwärts
rinnen, um auf ihrem Wege alles zu er-
quicken und zu beleben. Ueberall blühen
Alpenrosen und alles ist voller Harmonie,
vom Zwitschern der Vögel bis zum fröh-
uchen Trillern der Lerchen, vom Murmeln
der Quellen bis zum Läuten der verstreuten
Herden, ja bis zum Gesurr der Bienen."

Oer reiche Marin

von Sigfried Siwertz

Er saß allein im Kupee.

Es war der graue und frostige Morgen
nach einer schlaflosen Reisenacht. Der Zug war
abends von Stockholm abgegangen, und er war
nun bald am Ziele.

Das war also seine Heimat — die Moore,
die düunbewaldeten Anhöhen, die kahlen Felder
mit ihren Steineinfriedungen. Darauf hatte
sein Auge geruht, als er einstmals in die Welt
hinausfuhr, wie war es doch lange, lange
her! wie hatte alles sich verändert!

was waren die vergangenen Jahre ge-
wesen? Kampf, Hetzjagd, Unruhe, Rausch,
Betäubung — keine Ruhe! Aber jetzt stand
er am Ziele. . . Ja, ein reicher Mann war
er geworden . . . reich. Er konnte tun, was
er wollte. Die ganze Welt stand ihm offen.

Er lehnte sich in die Kiffen zurück und
schloß die Augen. „Reich . . . reich" murmelte
er im Takt zu den Stößen der Maschine, die
ihn mit ihrem gleichmäßigen Rhythmus ein-
wiegten. Die weiche Mattigkeit vor dem Ein-
schlummern schlich sich sachte über ihn.

Aber da fuhr er wieder durch einen Selbst-
vorwurf auf und saß gerade und steif da und
starrte hinaus auf das Feld, wo die ersten
zerstreuten Däuser rings um seine Heimatstadt
vorbeitanzten. Dachte er denn gar nicht an die
alte Frau? ... Ja, er hatte sich ja nichts vor-
zuwerfen, er hatte ihr einen guten Lebens-
unterhalt gegeben . . . und hatte auch nichts
davon erfahren, daß sie krank war, ganz un-
vermutet war das Telegramm gekommen, das
ihren Tod meldete....

Der Zug blieb stehen.

Auf dem Perron stand eine kleine, schwarz-
gekleidete Alte, die pände um ein großes para-
plui gekreuzt. Sie trippelte heran und knixte.

„Verzeihung, ist das Direktor. .. sind Sie
es, Jan?" . ..

„Ja..."

„Ich dachte mir wohl, daß Sie es sein wür-
den, obgleich Sie so groß geworden sind und
so . . . Ich bin Tante Lhristine. . .*

„Ach . . . sind Sie es, Tante!"

„Ja, ja, ich und Mutter, wir haben viele
Jahre zusammengewohnt . . . Ich bin so froh,
daß eines der Kinder zum Begräbnis ge-
kommen ist .. . Sie sind ja in Amerika, all die
andern..."

Sie gingen über die Katzenköpfe der klei-
nen, armseligen Straßen. Tante Christine
sprach von den Kränzen und von dem Pastor,
der die Leichenfeier verrichten sollte, und von
ihrem eigenen Trauerkleid. Das war nicht
neu. wenn man alt wird und eine große
Familie hat, so muß man fast immer Trauer
tragen. Dies hier hatte schon zwei Begräbnisse
mitgemacht, aber es hielt wohl noch aus. . .

Jan ging stumm neben ihr her. Er fühlte
eine heimliche Vual, daß sein Ursprung so
gering war, es peinigte ihn, alles rings um
sich so kleinlich und arm zu sehen, plötzlich
sagte er zu sich selbst: Ach, wenn das in Stock-
holm wäre, und ich Bekannten begegnete!
was würden sie für ein Gesicht machen?

Dieser Gedanke bedrückte ihn einen Augen-
blick. Dann schüttelte er ihn ab, beschämt
und ärgerlich über sich selbst. Die Ahnung
eines neuen, tieferen Schmerzes stieg in seiner
Brust auf.

Er sah die Stadt rings um sich an und er-
kannte sie endlich wieder. Diesen weg war er

Giovanni Segantini i

Kiefer am Bache

(Besitz Dr. O. Bernhard, St. Moritz)
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Sigfrid Siwertz: Der reiche Mann
Giovanni Segantini: Kiefer am Bache
 
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