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Nr. 26

J UGEND

1910

Nacht hindurch gegen diese Zurücksetzung pro-
testierte.

Abends machten wir einen Bummel durch
die Straßen. Der Mond schien wundervoll,
aber er wurde mir versehentlich nicht auf die
Rechnung gesetzt. Vor dem Dorf trafen wir
einen Mann, der im Begriff stand, sich in einem
Bach zu ertränken. Auf unsre Frage erwiderte
er, er sei am Verhungern, denn er sei der Fri-
seur von Oberammergau.

Morgens pünktlich 3A8 Uhr marschierten
wir ins Theater. Vor dem Festspielhaus irrten

Verzweifelte- auf und ab, die keine Billette be-
kommen hatten. Sie hofften, daß irgend ein
glücklicherer Fremder vom Hitzfchlag getroffen
würde, um den Erben das Billett abzukaufen.
Ein paar Amerikanerinnen weinten schon, ehe
das Spiel begonnen hatte. Ein Herr, mit dessen
Seelenheil ich nicht tauschen möchte, aß eine be-
legte Stulle nach der anderen. Vor Kuno saß
eine Dame mit einem Riesenhut. Er bat sie auf
deutsch und französisch, die Aussicht frei zu
geben, sie verstand ihn nicht, denn sie war
eine Pariserin.

Ich erklärte Kuno das Auditorium: „Siehst
Du drüben den Herrn?"

„Ich sehe überhaupt nur die Dame vor mir!"

„Es ist unser Kultusminister von Wehner.
Er will sich die berühmten bunten Kostüme von
Oberammergau anschauen, weil er auch einmal
was anderes als schwarz sehen will. Vor allem
aber möchte er durch seine Anwesenheit betonen,
daß er als Christ geboren ist. Der Herr neben
ihm ist unser Kammerpräsident. Er sagt ihm,
welche Stellen er schön finden muß, und welche
er weniger gelungen finden darf. Damit unser

Kultusminister nicht zu selbständig wird. Dort
oben der Mann ist —"

„Psst" machten die Leute in der Nachbar-
schaft, denn das Spiel begann.

„Ich hätte doch meinen Frack anziehen
sollen!" meinte Kuno.

„Aber Mensch, hier hat doch Niemand einen
Frack an!"

„Eben deshalb!"

Die Vormittagshälfte des Passionsspiels war
zu Ende. Kuno war sehr unbefriedigt: „Max
Reinhardt würde das alles besser machen; der
würde die Passion nach dem neuesten Stande
der Frage „hat Christus gelebt?" darstellen,
eventuell unter Weglassung des Christus. Die
Leute seien hier überhaupt so rückständig.

Im Dorf ging es während der Mittagspause
sehr lebhaft zu. Es waren wieder einige hundert
Fremde angekommen. Ein Deutschamerikaner,
der kein Quartier mehr bekommen hatte, saß
auf einem Briefkasten und erklärte: „No! Ich
dhu hier not weggehe! Ich will here schlofe
die ganze night.“ Er wurde sehr um seinen

Platz beneidet. Eine Miß lief mit dem Photo-
graphenapparat umher und knipste jeden Mann,
der lange Haare hatte. Jedesmal, wenn sie

geknipst hatte, sagte sie -Arnen^l

Eine andere Dame schimpfte auf ihren
Mann ein: „Beim Christus sind keine Zimmer
mehr zu haben, beim Johannes ist ausver-

kauft, — aber so geht's immer, wenn Du
etwas besorgst!"

Ich frug Kuno, ob er sich kein Andenken
kaufen wollte. Er lächelte geheimnisvoll und
sagte: „Ich habe schon einen Plan!"

Um zwei Uhr füllte sich das Theater wieder.
Kunos Platz blieb leer. Es war kühler ge-
worden und die Menschen hatten sich mit Män-
teln und Decken versehen. In meiner Nähe saß
eine alte Dame, eingehüllt in die Bettdecke ihres
Logisgebers. Ich wartete vergebens auf Kuno.
Er kam nicht. Erst beim Verlassen des Theaters
sah ich ihn.

Er stand auf der Straße, einen Esel am
Zaum haltend.

„Welcher von Euch ist es?" frug ich.

„Lass' die dummen Witze! Ich habe ihn
gekauft."

9 9 ?"

//♦ * i

„Er hat nur achtzig Mark gekostet. Ein
Amerikaner hat mir bereits das Doppelte ge-
boten. Aber ich gebe ihn nicht her. Es ist der
Esel, auf dem Christus in Jerusalem einge-
ritten ist."

Kuno strahlte. „Er ist ganz zahm. Er hat
sich schon ganz an mich gewöhnt."

„Das wundert mich nicht!"

„Er wird Furore in der Bar machen!"

Ich drehte mich um und ging. Mein Zug
fuhr in zehn Minuteu. Außerdem verkehre ich
mit Eseln prinzipiell nur, weun sie smoking
tragen.

Wie Kuno seinen Esel nach München brachte,
weiß ich nicht. Hingegen weiß ich aus bester
Quelle, daß er prozessiert: Irgendwer hat ihm
einen falschen Esel aufgehängt. Da Kuno
Jurist ist, wird er den Prozeß sicher verlieren!

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Arpad Schmidhammer: Illustrationen zum Text "Kuno in Oberammergau"
 
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