Das möblierte Zimmer
Von Friedrich Huch
Es war am Morgen des ersten Januar.
Gerhard schlug die Augen auf, dachte nach,
seufzte, und starrte in das kleine, dämmerige
Hotelzimmer. Die Gardinen waren zusammen-
gezogen, unordentlich lagen seine Kleidungsstücke
auf den Plüschmöbeln verstreut. Gestern Abend
war er in dieser Stadt angekommen, von Italien
her, hatte die halbe Nacht mit Freunden zu-
sammen etwas wild verlebt, die andre Hälfte
sehr schlecht geschlafen, in dem Gastzimmer unter
ihm wurde bis in die Morgenstunden hinein
gezecht, gesungen und gebrüllt, und nun mußte
er aufstehen, Kaffee trinken und sich dann eine
Wohnung suchen, ein möbliertes Zimmer viel-
mehr, denn seine Mittel waren recht beschränkt.
Er erhob sich, trat ans Fenster und lugte
durch die Vorhänge. Ein fahler, kalter Licht-
streif drang herein. Er seufzte wieder, kleidete
sich fröstelnd an, frühstückte in dem schmutzigen,
überheizten Speisezimmer, dessen verbrauchte
Luft nach altem Bier und kalten Zigarren
roch, und dann machte er sich auf den Weg.
Eine eisige Luft schlug ihm entgegen. Am
Tag zuvor hatte es getaut, über Nacht aber
stark gefroren, Schmutz und Schnee bildeten ein
festes Durcheinander, und über den rauchigen
Häusern lastete ein niedriger Himmel, der so
aussah, als wäre er gestorben. Wenige Menschen
gingen schweigsam auf den Straßen, die Läden
trugen feste, dunkle Verschlüsse, als seien sie ein-
gesargt, und die Fenster der Häuser starrten halb
schlafend, halb wachend in das Nichts, so leer,
so alt, und so unsagbar mürrisch! Konnte es
hier überhaupt eine Lebensfreude geben?
„Möbliertes Zimmer." Dort hing ein Schild
an einer Tür. Gerhard ging die Treppe hinauf,
das Zimmer zu besichtigen. Es war in der Tat
eine Stube mit Möbeln darin. Jeder Mensch
hätte hier an einem Tische sitzen, auf einem Sofa
liegen und abends in ein Bett einsteigen können,
denn alle diese Dinge waren da. Er sah das
alles an, mit seinen übernächtigen Augen, ge-
dankenlos zunächst, und dann mit zögerndem
Gefühl, so wie man gänzlich nüchterne Menschen
ansieht, mit denen man in Zukunft vielleicht
viel zu tun hat; man kennt sie nicht und weiß
auch vorläufig garnicht, in welcher Form sich da
ein Verkehr entwickeln kann.
„Auf garkeinen Fall!" dachte er endlich, in-
dem er wie zu sich selbst kam, „es gibt ganz
sicher viel viel bessere Zimmer für denselben
Preis."
Dann war er wieder unten auf der Straße
und ging weiter, bis er abermals ein Schild,
ähnlich dem ersten, sah. Er verschwand wiedek
in dem Haus, kam nach einer Weile wieder auf
die Straße, und so ging es fort. Nirgends konnte
er zu einem endgültigen Entschlüsse kommen.
Anfänglich hielt er noch, wenn er allein war,
kleine Selbstgespräche, aber die wurden immer
kürzer, schließlich verstummten sie gänzlich, und
ihm war nur noch bis ins Mark hinein un-
glücklich und öde zu Sinn. In solcher Stim-
mung nahte er sich einem Park, der von einer
hohen Mauer begrenzt war. „Hier müßte es
sich schöner wohnen lassen!" dachte er. Wieder
stieg er ein paar Treppen empor; das Zimmer
gefiel ihm weit besser als alle vorigen, man
einigte sich schnell über den Preis und Gerhard
wandte sich bereits zur Tür, um zum Hotel
zurückzugehen und seine Koffer hierher schaffen
zu lassen.
Im letzten Augenblick siel ihm noch ein,
daß er die Aussicht aus dem Fenster ja gar-
nicht geprüft habe. Er ging noch einmal zu-
rück und sah hinaus. — Sein Blick fiel auf
ein Gewirr von schwarzen und weißen Kreuzen
und Steinen; was er für einen Park gehalten,
war ein Kirchhof. Er stieß einen halb unter-
drückten Laut der Ueberraschung und des Miß-
behagens aus, erklärte, hier könne er unmöglich
wohnen, und dann war er wieder auf der
Straße Alles was mit Tod zusammenhängt,
war ihm beängstigend, ja widerlich, zudem war
6anymsä (Skizze) Anselm Feuerbach f
er ein wenig abergläubisch und fürchtete sich
vor Gespenstern. „Entsetzlich!" dachte er, in-
dem er die Kirchhofsmauer entlang schritt; „wenn
ich hier abends oder gar nachts nach Hause
gehen müßte!"
And seine Phantasie schuf sofort eine Situ-
ation. Da war die Mauer in ihrer ganzen
Länge mit Totenschädeln besetzt. In Wirklich-
keit gehörten sie aber zu ganzen, vollkommenen
Gerippen, die sich hinter der Mauer verbargen.
Und plötzlich schnellte sich eines, den Kopf vor-
an, in seiner ganzen Länge hinab, während es
von den anderen an den Fersen gehalten wurde,
ergriff ihn beim Kragen, und nun wurden beide
von denen da droben lautlos und mit großer
Behendigkeit emporgeholt. „Scheußlich! Ab-
scheulich!" dachte er; „ob es so etwas wohl
wirklich gibt?"
Er kam jetzt zur Eingangspforte, machte
unwillkürlich halt und sah mißtrauisch hinein.
„Wie blödsinnig!" murmelte er, „ich bin doch
kein kleines Kind mehr, sondern ein erwachsener
Mensch; diese Vorstellungen sind krankhaft und
ich werde gegen sie angehen; jetzt gleich so-
gar!" Und wirklich schritt er durch die Pforte.
Wie still und öde es hier war! — Er schritt
langsam den Hauptweg entlang und sah nach
links und rechts auf die Monumente, auf die
eingeschnittenen vergoldeten Nachrufe, und las
die Vornamen und die Familiennamen. Wie
leer das alles war! Bei keiner dieser Inschriften
konnte er sich einen Menschen denken, und doch
sprachen alle wie von Lebenden, feierliche und
doch tote Worte, die da tagaus, tagein, jahr-
aus, jahrein für sich stumm redeten und zu
einem Scheinleben erst dann erwachten, wenn
das Auge sie ablas. — Neue, frische Gräber
erinnerten daran, daß dies nicht eine Versamm-
lung leerer Monumente war, sondern daß die
Toten hier wirklich ihren Einzug hielten, daß sie
ganz körperlich unter ihnen ruhten. Trockene und
halbverwelkte Kränze mit schmutzigen Schleifen
lagen auf ihnen, und trübe, aschenfarben sah
der Himmel auf alles nieder. Gerhard hatte
vor dieser harten, nackten Wirklichkeit jenes
unbehagliche Gefühl der Furcht vergessen, und
Marsyas (Skizze) Anselm Feuerbach f
was ihn jetzt nur noch erfüllte, war das Gefühl
der Eintönigkeit eines jeden Menschenschicksals,
das leere Gefühl des Einmalsterbenmüssens.
Unvermittelt trat in feine Erinnerung ein
sonniges, leuchtendes Bild: Da sah er den Arno
wieder und die alte Brücke; auf ihr stand eine
schöne Italienerin und sang zur Mandoline;
er kannte sie . . . unter der Brücke zog der
schimmernde Fluß hindurch und über ihr blaute
der italienische Himmel. War das erst — vor-
gestern gewesen? „Die Zeit ist etwas Grauen-
haftes, Gespenstisches," so dachte er, „und nur
das, was wir erleben, nur das gibt ihr das
Maß."
Von den Kirchen läuteten die Glocken. Der
erste Januar! Es durchfröstelte ihn leise. —
Seine Gedanken knüpften wieder an den Alltag
an. Was wollte er hier? Er mußte sich ein
möbliertes Zimmer mieten, eine Stube, in der
ein Bett, ein Waschtisch und noch andere Möbel
waren. — So machte er sich seufzend wieder
auf den Weg, durchquerte den Kirchhof vollends
und sah bereits den Ausgang auf der andern
Seite. Daneben zog sich eine Halle hin mit
niedrigem Bogengang, der die tiefliegenden,
spiegelblanken großen Scheiben verdunkelte.
Sollte das die — Leichenhalle sein? Gerhard
kehrte den Blick fort und wollte vorbei. Aber
eine Art selbstquälerischer Wollust, das Gefühl,
die Sensationen dieses trostlosen Morgens noch
zu steigern, hielt ihn zurück. „Es kann ja nichts
geschehen," dachte er, „es ist ja heller Tag."
Und nun näherte er sich seitwärts, mit zögern-
den Schritten, der ersten Scheibe, bis er endlich
ganz langsam, fast Zoll für Zoll vorrückte. Er
wollte sich nicht durch einen vielleicht schreck-
lichen Anblick überraschen lassen, wollte nicht,
daß ihn vielleicht zwei halbgeschlossene Augen
träfen, sondern er wollte der sein, der zu-
erst sieht.
Drinnen brannten stille, rötliche Kerzen,
dünn und lang. Von schwarzgrünem Blätter-
dickicht umgeben, in einem massiven, braunen
Sarge lag ein schimmernd weißes, steifes Kleid;
ein straffer Schleier zog sich zu beiden Seiten
hinauf und endete am Kopf, der wie aus Wachs
war und eine Mqrtenkrone trug. „Es ist nicht
schlimm!" dachte Gerhard: „eine unverheiratete
alte Frau" und sah auf das dichte, feste, leblos
gescheitelte Haar, das kein natürliches sein
konnte. Wie still und friedlich sie da lag!
Langsam, aber nicht mehr so beklommen wie zu
Anfang, schritt er weiter, zur nächsten Scheibe.
Dort lag ein Mann mit schwarzem Vollbart, in
einem schwarzen langen Anzug und mit Stiefeln
an den Füßen; die Farbe seines Schlipses war
hochrot und das breite große Gesicht erschien
dadurch noch gelber. Er sah aus, als käme er
eben von der Straße. Erschrocken sah Gerhard
auf ihn hin. War der denn wirklich tot? Un-
willkürlich wandte er sich scheu von dieser
Scheibe weg und schritt zur dritten: Ein
Kind, ganz klein, das winzige Gesicht fast un-
erkennbar. Dieser Anblick hatte nichts Feier-
liches, nichts Beängstigendes, er rührte nur zu
Mitleid. Die nächste Scheibe war leer und alle
übernächsten auch. Gerhard wandte sich zurück,
wieder an dem Kind vorbei und kontrollierte
an dem nächsten Fenster unwillkürlich, ob auch
der Mann noch in genau derselben Stellung
lag, wie anfangs. Wieder blieb er stehn und
betrachtete ihn diesmal lange.
Mit einem Male sah er in diesem Gesichte
etwas Gräßliches. Er wußte nicht, was es war,
aber es war etwas Gräßliches.
Ein paar Augenblicke später stand Gerhard
wieder draußen auf der Straße, mit starkem
Herzklopfen. „Ich hätte dies nicht tun sollen,"
dachte er, „ich habe doch nun einmal keine
starken Nerven! Dieses Bild werde ich nun
wieder ein paar Tage lang nicht los!" Und er
zuckte heftig zusammen, wie später jemand von
hinten an ihm vorbeiging und seinen Aermel
streifte. Alle Menschen kamen ihm wie wan-
delnde Leichen vor.
Nun ging es wieder an ein Zimmersuchen;
sollte er wieder planlos in den Straßen umher-
irren, in diesen entsetzlichen Straßen, die alle
(Schack-Gallerie
Von Friedrich Huch
Es war am Morgen des ersten Januar.
Gerhard schlug die Augen auf, dachte nach,
seufzte, und starrte in das kleine, dämmerige
Hotelzimmer. Die Gardinen waren zusammen-
gezogen, unordentlich lagen seine Kleidungsstücke
auf den Plüschmöbeln verstreut. Gestern Abend
war er in dieser Stadt angekommen, von Italien
her, hatte die halbe Nacht mit Freunden zu-
sammen etwas wild verlebt, die andre Hälfte
sehr schlecht geschlafen, in dem Gastzimmer unter
ihm wurde bis in die Morgenstunden hinein
gezecht, gesungen und gebrüllt, und nun mußte
er aufstehen, Kaffee trinken und sich dann eine
Wohnung suchen, ein möbliertes Zimmer viel-
mehr, denn seine Mittel waren recht beschränkt.
Er erhob sich, trat ans Fenster und lugte
durch die Vorhänge. Ein fahler, kalter Licht-
streif drang herein. Er seufzte wieder, kleidete
sich fröstelnd an, frühstückte in dem schmutzigen,
überheizten Speisezimmer, dessen verbrauchte
Luft nach altem Bier und kalten Zigarren
roch, und dann machte er sich auf den Weg.
Eine eisige Luft schlug ihm entgegen. Am
Tag zuvor hatte es getaut, über Nacht aber
stark gefroren, Schmutz und Schnee bildeten ein
festes Durcheinander, und über den rauchigen
Häusern lastete ein niedriger Himmel, der so
aussah, als wäre er gestorben. Wenige Menschen
gingen schweigsam auf den Straßen, die Läden
trugen feste, dunkle Verschlüsse, als seien sie ein-
gesargt, und die Fenster der Häuser starrten halb
schlafend, halb wachend in das Nichts, so leer,
so alt, und so unsagbar mürrisch! Konnte es
hier überhaupt eine Lebensfreude geben?
„Möbliertes Zimmer." Dort hing ein Schild
an einer Tür. Gerhard ging die Treppe hinauf,
das Zimmer zu besichtigen. Es war in der Tat
eine Stube mit Möbeln darin. Jeder Mensch
hätte hier an einem Tische sitzen, auf einem Sofa
liegen und abends in ein Bett einsteigen können,
denn alle diese Dinge waren da. Er sah das
alles an, mit seinen übernächtigen Augen, ge-
dankenlos zunächst, und dann mit zögerndem
Gefühl, so wie man gänzlich nüchterne Menschen
ansieht, mit denen man in Zukunft vielleicht
viel zu tun hat; man kennt sie nicht und weiß
auch vorläufig garnicht, in welcher Form sich da
ein Verkehr entwickeln kann.
„Auf garkeinen Fall!" dachte er endlich, in-
dem er wie zu sich selbst kam, „es gibt ganz
sicher viel viel bessere Zimmer für denselben
Preis."
Dann war er wieder unten auf der Straße
und ging weiter, bis er abermals ein Schild,
ähnlich dem ersten, sah. Er verschwand wiedek
in dem Haus, kam nach einer Weile wieder auf
die Straße, und so ging es fort. Nirgends konnte
er zu einem endgültigen Entschlüsse kommen.
Anfänglich hielt er noch, wenn er allein war,
kleine Selbstgespräche, aber die wurden immer
kürzer, schließlich verstummten sie gänzlich, und
ihm war nur noch bis ins Mark hinein un-
glücklich und öde zu Sinn. In solcher Stim-
mung nahte er sich einem Park, der von einer
hohen Mauer begrenzt war. „Hier müßte es
sich schöner wohnen lassen!" dachte er. Wieder
stieg er ein paar Treppen empor; das Zimmer
gefiel ihm weit besser als alle vorigen, man
einigte sich schnell über den Preis und Gerhard
wandte sich bereits zur Tür, um zum Hotel
zurückzugehen und seine Koffer hierher schaffen
zu lassen.
Im letzten Augenblick siel ihm noch ein,
daß er die Aussicht aus dem Fenster ja gar-
nicht geprüft habe. Er ging noch einmal zu-
rück und sah hinaus. — Sein Blick fiel auf
ein Gewirr von schwarzen und weißen Kreuzen
und Steinen; was er für einen Park gehalten,
war ein Kirchhof. Er stieß einen halb unter-
drückten Laut der Ueberraschung und des Miß-
behagens aus, erklärte, hier könne er unmöglich
wohnen, und dann war er wieder auf der
Straße Alles was mit Tod zusammenhängt,
war ihm beängstigend, ja widerlich, zudem war
6anymsä (Skizze) Anselm Feuerbach f
er ein wenig abergläubisch und fürchtete sich
vor Gespenstern. „Entsetzlich!" dachte er, in-
dem er die Kirchhofsmauer entlang schritt; „wenn
ich hier abends oder gar nachts nach Hause
gehen müßte!"
And seine Phantasie schuf sofort eine Situ-
ation. Da war die Mauer in ihrer ganzen
Länge mit Totenschädeln besetzt. In Wirklich-
keit gehörten sie aber zu ganzen, vollkommenen
Gerippen, die sich hinter der Mauer verbargen.
Und plötzlich schnellte sich eines, den Kopf vor-
an, in seiner ganzen Länge hinab, während es
von den anderen an den Fersen gehalten wurde,
ergriff ihn beim Kragen, und nun wurden beide
von denen da droben lautlos und mit großer
Behendigkeit emporgeholt. „Scheußlich! Ab-
scheulich!" dachte er; „ob es so etwas wohl
wirklich gibt?"
Er kam jetzt zur Eingangspforte, machte
unwillkürlich halt und sah mißtrauisch hinein.
„Wie blödsinnig!" murmelte er, „ich bin doch
kein kleines Kind mehr, sondern ein erwachsener
Mensch; diese Vorstellungen sind krankhaft und
ich werde gegen sie angehen; jetzt gleich so-
gar!" Und wirklich schritt er durch die Pforte.
Wie still und öde es hier war! — Er schritt
langsam den Hauptweg entlang und sah nach
links und rechts auf die Monumente, auf die
eingeschnittenen vergoldeten Nachrufe, und las
die Vornamen und die Familiennamen. Wie
leer das alles war! Bei keiner dieser Inschriften
konnte er sich einen Menschen denken, und doch
sprachen alle wie von Lebenden, feierliche und
doch tote Worte, die da tagaus, tagein, jahr-
aus, jahrein für sich stumm redeten und zu
einem Scheinleben erst dann erwachten, wenn
das Auge sie ablas. — Neue, frische Gräber
erinnerten daran, daß dies nicht eine Versamm-
lung leerer Monumente war, sondern daß die
Toten hier wirklich ihren Einzug hielten, daß sie
ganz körperlich unter ihnen ruhten. Trockene und
halbverwelkte Kränze mit schmutzigen Schleifen
lagen auf ihnen, und trübe, aschenfarben sah
der Himmel auf alles nieder. Gerhard hatte
vor dieser harten, nackten Wirklichkeit jenes
unbehagliche Gefühl der Furcht vergessen, und
Marsyas (Skizze) Anselm Feuerbach f
was ihn jetzt nur noch erfüllte, war das Gefühl
der Eintönigkeit eines jeden Menschenschicksals,
das leere Gefühl des Einmalsterbenmüssens.
Unvermittelt trat in feine Erinnerung ein
sonniges, leuchtendes Bild: Da sah er den Arno
wieder und die alte Brücke; auf ihr stand eine
schöne Italienerin und sang zur Mandoline;
er kannte sie . . . unter der Brücke zog der
schimmernde Fluß hindurch und über ihr blaute
der italienische Himmel. War das erst — vor-
gestern gewesen? „Die Zeit ist etwas Grauen-
haftes, Gespenstisches," so dachte er, „und nur
das, was wir erleben, nur das gibt ihr das
Maß."
Von den Kirchen läuteten die Glocken. Der
erste Januar! Es durchfröstelte ihn leise. —
Seine Gedanken knüpften wieder an den Alltag
an. Was wollte er hier? Er mußte sich ein
möbliertes Zimmer mieten, eine Stube, in der
ein Bett, ein Waschtisch und noch andere Möbel
waren. — So machte er sich seufzend wieder
auf den Weg, durchquerte den Kirchhof vollends
und sah bereits den Ausgang auf der andern
Seite. Daneben zog sich eine Halle hin mit
niedrigem Bogengang, der die tiefliegenden,
spiegelblanken großen Scheiben verdunkelte.
Sollte das die — Leichenhalle sein? Gerhard
kehrte den Blick fort und wollte vorbei. Aber
eine Art selbstquälerischer Wollust, das Gefühl,
die Sensationen dieses trostlosen Morgens noch
zu steigern, hielt ihn zurück. „Es kann ja nichts
geschehen," dachte er, „es ist ja heller Tag."
Und nun näherte er sich seitwärts, mit zögern-
den Schritten, der ersten Scheibe, bis er endlich
ganz langsam, fast Zoll für Zoll vorrückte. Er
wollte sich nicht durch einen vielleicht schreck-
lichen Anblick überraschen lassen, wollte nicht,
daß ihn vielleicht zwei halbgeschlossene Augen
träfen, sondern er wollte der sein, der zu-
erst sieht.
Drinnen brannten stille, rötliche Kerzen,
dünn und lang. Von schwarzgrünem Blätter-
dickicht umgeben, in einem massiven, braunen
Sarge lag ein schimmernd weißes, steifes Kleid;
ein straffer Schleier zog sich zu beiden Seiten
hinauf und endete am Kopf, der wie aus Wachs
war und eine Mqrtenkrone trug. „Es ist nicht
schlimm!" dachte Gerhard: „eine unverheiratete
alte Frau" und sah auf das dichte, feste, leblos
gescheitelte Haar, das kein natürliches sein
konnte. Wie still und friedlich sie da lag!
Langsam, aber nicht mehr so beklommen wie zu
Anfang, schritt er weiter, zur nächsten Scheibe.
Dort lag ein Mann mit schwarzem Vollbart, in
einem schwarzen langen Anzug und mit Stiefeln
an den Füßen; die Farbe seines Schlipses war
hochrot und das breite große Gesicht erschien
dadurch noch gelber. Er sah aus, als käme er
eben von der Straße. Erschrocken sah Gerhard
auf ihn hin. War der denn wirklich tot? Un-
willkürlich wandte er sich scheu von dieser
Scheibe weg und schritt zur dritten: Ein
Kind, ganz klein, das winzige Gesicht fast un-
erkennbar. Dieser Anblick hatte nichts Feier-
liches, nichts Beängstigendes, er rührte nur zu
Mitleid. Die nächste Scheibe war leer und alle
übernächsten auch. Gerhard wandte sich zurück,
wieder an dem Kind vorbei und kontrollierte
an dem nächsten Fenster unwillkürlich, ob auch
der Mann noch in genau derselben Stellung
lag, wie anfangs. Wieder blieb er stehn und
betrachtete ihn diesmal lange.
Mit einem Male sah er in diesem Gesichte
etwas Gräßliches. Er wußte nicht, was es war,
aber es war etwas Gräßliches.
Ein paar Augenblicke später stand Gerhard
wieder draußen auf der Straße, mit starkem
Herzklopfen. „Ich hätte dies nicht tun sollen,"
dachte er, „ich habe doch nun einmal keine
starken Nerven! Dieses Bild werde ich nun
wieder ein paar Tage lang nicht los!" Und er
zuckte heftig zusammen, wie später jemand von
hinten an ihm vorbeiging und seinen Aermel
streifte. Alle Menschen kamen ihm wie wan-
delnde Leichen vor.
Nun ging es wieder an ein Zimmersuchen;
sollte er wieder planlos in den Straßen umher-
irren, in diesen entsetzlichen Straßen, die alle
(Schack-Gallerie