Adolf Münzer (Düsseldorf)
blauen Schillerfalter erbeutet und aufgespannt,
und als er trocken war, trieb mich der Stolz,
ihn doch wenigstens meinem Nachbarn zu zeigen,
dem Sohn eines Lehrers, der überm Hof wohnte.
Dieser Junge hatte das Laster der Tadellosig-
keit, das bei Kindern doppelt unheimlich ist.
Er besaß eine kleine unbedeutende Sammlung,
die aber durch ihre Nettigkeit und exakte Er-
haltung zu einem Juwel wurde. Er verstand
sogar die seltene und schwierige Kunst, be-
schädigte und zerbrochene Falterflügel wieder
zusammenzuleimen, und war in jeder Hinsicht
ein Musterknabe, weshalb ich ihn denn mit
Neid und halber Bewunderung haßte.
Diesem jungen Idealknaben zeigte ich meinen
Schillerfalter. Er begutachtete ihn fachmännisch,
anerkannte seine Seltenheit und sprach ihm
einen Barwert von etwa zwanzig Pfennigen
zu; denn der Knabe Emil wußte alle Sammel-
objekte, zumal Briefmarken und Schmetterlinge,
nach ihrem Geldwert zu taxieren. Dann sing
er aber an zu kritisieren, fand meinen Blau-
schiller schlecht aufgespannt, den rechten Fühler
gebogen, den linken ausgestreckt, und entdeckte
richtig auch noch einen Defekt, denn dem
Falter fehlten zwei Beine. Ich schlug zwar
diesen Mangel nicht hoch an, doch hatte mir
der Nörgler die Freude an meinem Schiller
einigermaßen verdorben und ich habe ihm nie
mehr meine Beute gezeigt.
Zwei Jahre später, wir waren schon große
Buben, aber meine Leidenschaft war noch in
voller Blüte, verbreitete sich das Gerücht, jener
Emil habe ein Nachtpfauenauge gefangen.
Das war nun für mich weit aufregender als
wenn ich heute höre, daß ein Freund von mir
eine Million geerbt oder die verlorenen Bücher
des Livius gefunden habe. Das Nachtpfauen-
äuge hatte noch keiner von uns gefangen,
ich kannte es überhaupt nur aus' der Ab-
bildung eines alten Schmetterlingsbuches, das
ich besaß und dessen mit der Hand kolorierte
Kupfer unendlich viel schöner und eigentlich
auch exakter waren als alle modernen Far-
bendrucke. Bon allen Schmetterlingen, deren
Namen ich kannte und die in meiner Schachtel
noch fehlten, ersehnte ich keinen so glühend
wie das Nachtpfauenauge. Oft hatte ich die
Abbildung in meinem Buch betrachtet, und
ein Kamerad hatte mir erzählt: Wenn der
braune Falter an einem Baumstamm oder Felsen
sitze und ein Vogel oder anderer Feind ihn an-
greifen wolle, so ziehe er nur die gefalteten
dunkleren Vorderflügcl auseinander und zeige
die schönen Hinterflügel, deren große helle Augen
so merkwürdig und unerwartet aussähen, daß
der Vogel erschrecke und den Schmetterling in
Ruhe lasse.
Dieses Wundertier sollte der langweilige
Emil haben! Als ich es hörte, empfand ich
im ersten Augenblick nur die Freude, endlich
das seltene Tier zu Gesicht zu bekommen, und
eine brennende Neugierde darauf. Dann stellte
sich freilich der Neid ein und es schien mir
schnöde zu sein, daß gerade dieser Langweiler
und Mops den geheimnisvollen kostbaren Falter
hatte erwischen müssen. Darum bezwang ich
mich auch und tat ihm die Ehre nicht an,
hinüberzugehen und mir seinen Fang zeigen zu
lassen. Doch brachte ich meine Gedanken von
der Sache nicht los und am nächsten Tage, als
das Gerücht sich in der Schule bestätigte, war
ich sofort entschlossen, doch hinzugehen.
Nach Tische, sobald ich von Hause weg
konnte, lief ich über den Hof und in den
dritten Stock des Nachbarhauses hinauf, wo
neben Mägdekammern und Holzverschlägen der
Lehrerssohn ein oft von mir beneidetes kleines
Stübchen für sich allein bewohnen durfte. Nie-
mand begegnete mir unterwegs, und als ich
oben an die Kammertüre klopfte, erhielt ich
keine Antwort. Emil war nicht da, und als
ich die Türklinke versuchte, fand ich den Ein-
gang offen, den er sonst während seiner Ab-
wesenheit peinlich verschloß.
Ich trat ein, um das Tier doch wenigstens
zu sehen, und nahm sofort die beiden großen
Schachteln vor, in welchen Emil seine Samm-
lung verwahrte. In beiden suchte ich vergebens,
bis mir einfiel, der Falter werde noch auf dem
rT
Der Tanz
gezogen und betrachtete die Unterseite seiner
Flügel.
„Merkwürdig," sagte er, „kein Anblick weckt
die Kindheitserinnerungen so stark in mir wie
der von Schmetterlingen."
Und, indem er den Falter wieder an seinem
Ort ansteckte und den Kastendeckel schloß: „Ge-
nug davon!"
Er sagte es hart und rasch, als wären diese
Erinnerungen ihm unlieb. Gleich darauf, da
ich den Kasten weggetragen hatte und wieder
hereinkam, lächelte er mit seinem braunen,
lchmalen Gesicht und bat um eine Zigarette.
„Du mußt mir's nicht übel nehmen," sagte
er dann, „wenn ich Deine Sammlung nicht
genauer angeschaut habe. Ich habe als Junge
natürlich auch eine gehabt, aber leider habe
ich mir selber die Erinnerung daran verdorben.
Ich kann es Dir ja erzählen, obwohl es eigentlich
schmählich ist."
Er zündete seine Zigarette über dem Lampen-
zylinder an, setzte den grünen Schirm auf die
Lampe, sodaß unsre Gesichter in Dämmerung
sanken, und setzte sich auf das Gesimse des offenen
Fensters, wo seine schlanke hagere Figur sich
kaum von der Finsternis abhob. Und während
ich eine Zigarre rauchte und draußen das
hochtönige ferne Singen der Frösche die Nacht
erfüllte, erzählte mein Freund das Folgende.
Das Schmetterlingssammeln fing ich mit acht
oder neun Jahren an und trieb es anfangs
ohne besonderen Eifer wie andre Spiele und
Liebhabereien auch. Aber im zweiten Sommer,
als ich etwa zehn Jahre alt war, da nahm dieser
Sport mich ganz gefangen und wurde zu einer
solchen Leidenschaft, daß man ihn mir mehr-
mals meinte verbieten zu müssen, da ich alles
andere darüber vergaß und versäumte. War
ich auf dem Falterfang, dann hörte ich keine
Turmuhr schlagen, sei es zur Schule oder zum
Mittagessen, und in den Ferien war ich oft,
mit einem Stück Brot in der Botanisierbüchse,
vom frühen Morgen bis zur Nacht draußen,
ohne zu einer Mahlzeit heimzukommen.
Ich spüre etwas von dieser Leidenschaft
noch jetzt manchmal, wenn ich besonders schöne
Schmetterlinge sehe. Dann überfällt mich für
Augenblicke wieder das namenlose, gierige Ent-
zücken, das nur Kinder empfinden können und
mit dem ich als Knabe meinen ersten Schwalben-
schwanz beschlich. Und dann fallen mir plötzlich
ungezählte Augenblicke und Stunden der Kinder-
zeit ein, glühende Nachmittage in der trockenen,
stark duftenden Heide, kühle Morgenstunden im
Garten oder Abende an geheimnisvollen Wald-
rändern, wo ich mit meinem Netz auf der Lauer
stand wie ein Schatzsucher und jeden Augen-
blick auf die tollsten Überraschungen und Be-
glückungen gefaßt war. Und wenn ich dann
einen schönen Falter sah, er brauchte nicht ein-
mal besonders selten zu sein, wenn er auf einem
Blumenstengel in der Sonne saß und die far-
bigen Flügel atmend auf und ab bewegte und
mir die Iagdlust den Atem verschlug, wenn ich
näher und näher schlich und jeden leuchtenden
Farbensleck und jede kristallene Flügelader und
jedes feine braune Haar der Fühler sehen konnte,
das war eine Spannung und Wonne, eine
Mischung von zarter Freude mit wilder Be-
gierde, die ich später im Leben selten mehr
empfunden habe.
Meine Sammlung mußte ich, da meine Eltern
arm waren und mir nichts dergleichen schenken
konnten, in einer gewöhnlichen alten Karton-
schachtel ausbewahren. Ich klebte runde Kork-
scheiben, aus Flaschenpfropfen geschnitten, auf
den Boden, um die Nadeln darein zu stecken,
und zwischen den zerknickten Pappdeckelwänden
dieser Schachtel hegte ich meine Schätze. An-
fangs zeigte ich gern und häufig meine Samm-
lung den Kameraden, aber andere hatten Holz-
kästen mit Glasdeckeln, Naupenschachteln mit
grünen Gazewänden und anderen Luxus, so daß
ich mit meiner primitiven Einrichtung mich nicht
eben brüsten konnte. Auch war mein Bedürfnis
darnach nicht groß und ich gewöhnte mir an,
sogar w'.chtige und aufregende Fänge zu ver-
schweigen und die Beute nur meinen Schwestern
zu zeigen. Einmal hatte ich den bei uns seltenen
blauen Schillerfalter erbeutet und aufgespannt,
und als er trocken war, trieb mich der Stolz,
ihn doch wenigstens meinem Nachbarn zu zeigen,
dem Sohn eines Lehrers, der überm Hof wohnte.
Dieser Junge hatte das Laster der Tadellosig-
keit, das bei Kindern doppelt unheimlich ist.
Er besaß eine kleine unbedeutende Sammlung,
die aber durch ihre Nettigkeit und exakte Er-
haltung zu einem Juwel wurde. Er verstand
sogar die seltene und schwierige Kunst, be-
schädigte und zerbrochene Falterflügel wieder
zusammenzuleimen, und war in jeder Hinsicht
ein Musterknabe, weshalb ich ihn denn mit
Neid und halber Bewunderung haßte.
Diesem jungen Idealknaben zeigte ich meinen
Schillerfalter. Er begutachtete ihn fachmännisch,
anerkannte seine Seltenheit und sprach ihm
einen Barwert von etwa zwanzig Pfennigen
zu; denn der Knabe Emil wußte alle Sammel-
objekte, zumal Briefmarken und Schmetterlinge,
nach ihrem Geldwert zu taxieren. Dann sing
er aber an zu kritisieren, fand meinen Blau-
schiller schlecht aufgespannt, den rechten Fühler
gebogen, den linken ausgestreckt, und entdeckte
richtig auch noch einen Defekt, denn dem
Falter fehlten zwei Beine. Ich schlug zwar
diesen Mangel nicht hoch an, doch hatte mir
der Nörgler die Freude an meinem Schiller
einigermaßen verdorben und ich habe ihm nie
mehr meine Beute gezeigt.
Zwei Jahre später, wir waren schon große
Buben, aber meine Leidenschaft war noch in
voller Blüte, verbreitete sich das Gerücht, jener
Emil habe ein Nachtpfauenauge gefangen.
Das war nun für mich weit aufregender als
wenn ich heute höre, daß ein Freund von mir
eine Million geerbt oder die verlorenen Bücher
des Livius gefunden habe. Das Nachtpfauen-
äuge hatte noch keiner von uns gefangen,
ich kannte es überhaupt nur aus' der Ab-
bildung eines alten Schmetterlingsbuches, das
ich besaß und dessen mit der Hand kolorierte
Kupfer unendlich viel schöner und eigentlich
auch exakter waren als alle modernen Far-
bendrucke. Bon allen Schmetterlingen, deren
Namen ich kannte und die in meiner Schachtel
noch fehlten, ersehnte ich keinen so glühend
wie das Nachtpfauenauge. Oft hatte ich die
Abbildung in meinem Buch betrachtet, und
ein Kamerad hatte mir erzählt: Wenn der
braune Falter an einem Baumstamm oder Felsen
sitze und ein Vogel oder anderer Feind ihn an-
greifen wolle, so ziehe er nur die gefalteten
dunkleren Vorderflügcl auseinander und zeige
die schönen Hinterflügel, deren große helle Augen
so merkwürdig und unerwartet aussähen, daß
der Vogel erschrecke und den Schmetterling in
Ruhe lasse.
Dieses Wundertier sollte der langweilige
Emil haben! Als ich es hörte, empfand ich
im ersten Augenblick nur die Freude, endlich
das seltene Tier zu Gesicht zu bekommen, und
eine brennende Neugierde darauf. Dann stellte
sich freilich der Neid ein und es schien mir
schnöde zu sein, daß gerade dieser Langweiler
und Mops den geheimnisvollen kostbaren Falter
hatte erwischen müssen. Darum bezwang ich
mich auch und tat ihm die Ehre nicht an,
hinüberzugehen und mir seinen Fang zeigen zu
lassen. Doch brachte ich meine Gedanken von
der Sache nicht los und am nächsten Tage, als
das Gerücht sich in der Schule bestätigte, war
ich sofort entschlossen, doch hinzugehen.
Nach Tische, sobald ich von Hause weg
konnte, lief ich über den Hof und in den
dritten Stock des Nachbarhauses hinauf, wo
neben Mägdekammern und Holzverschlägen der
Lehrerssohn ein oft von mir beneidetes kleines
Stübchen für sich allein bewohnen durfte. Nie-
mand begegnete mir unterwegs, und als ich
oben an die Kammertüre klopfte, erhielt ich
keine Antwort. Emil war nicht da, und als
ich die Türklinke versuchte, fand ich den Ein-
gang offen, den er sonst während seiner Ab-
wesenheit peinlich verschloß.
Ich trat ein, um das Tier doch wenigstens
zu sehen, und nahm sofort die beiden großen
Schachteln vor, in welchen Emil seine Samm-
lung verwahrte. In beiden suchte ich vergebens,
bis mir einfiel, der Falter werde noch auf dem
rT
Der Tanz
gezogen und betrachtete die Unterseite seiner
Flügel.
„Merkwürdig," sagte er, „kein Anblick weckt
die Kindheitserinnerungen so stark in mir wie
der von Schmetterlingen."
Und, indem er den Falter wieder an seinem
Ort ansteckte und den Kastendeckel schloß: „Ge-
nug davon!"
Er sagte es hart und rasch, als wären diese
Erinnerungen ihm unlieb. Gleich darauf, da
ich den Kasten weggetragen hatte und wieder
hereinkam, lächelte er mit seinem braunen,
lchmalen Gesicht und bat um eine Zigarette.
„Du mußt mir's nicht übel nehmen," sagte
er dann, „wenn ich Deine Sammlung nicht
genauer angeschaut habe. Ich habe als Junge
natürlich auch eine gehabt, aber leider habe
ich mir selber die Erinnerung daran verdorben.
Ich kann es Dir ja erzählen, obwohl es eigentlich
schmählich ist."
Er zündete seine Zigarette über dem Lampen-
zylinder an, setzte den grünen Schirm auf die
Lampe, sodaß unsre Gesichter in Dämmerung
sanken, und setzte sich auf das Gesimse des offenen
Fensters, wo seine schlanke hagere Figur sich
kaum von der Finsternis abhob. Und während
ich eine Zigarre rauchte und draußen das
hochtönige ferne Singen der Frösche die Nacht
erfüllte, erzählte mein Freund das Folgende.
Das Schmetterlingssammeln fing ich mit acht
oder neun Jahren an und trieb es anfangs
ohne besonderen Eifer wie andre Spiele und
Liebhabereien auch. Aber im zweiten Sommer,
als ich etwa zehn Jahre alt war, da nahm dieser
Sport mich ganz gefangen und wurde zu einer
solchen Leidenschaft, daß man ihn mir mehr-
mals meinte verbieten zu müssen, da ich alles
andere darüber vergaß und versäumte. War
ich auf dem Falterfang, dann hörte ich keine
Turmuhr schlagen, sei es zur Schule oder zum
Mittagessen, und in den Ferien war ich oft,
mit einem Stück Brot in der Botanisierbüchse,
vom frühen Morgen bis zur Nacht draußen,
ohne zu einer Mahlzeit heimzukommen.
Ich spüre etwas von dieser Leidenschaft
noch jetzt manchmal, wenn ich besonders schöne
Schmetterlinge sehe. Dann überfällt mich für
Augenblicke wieder das namenlose, gierige Ent-
zücken, das nur Kinder empfinden können und
mit dem ich als Knabe meinen ersten Schwalben-
schwanz beschlich. Und dann fallen mir plötzlich
ungezählte Augenblicke und Stunden der Kinder-
zeit ein, glühende Nachmittage in der trockenen,
stark duftenden Heide, kühle Morgenstunden im
Garten oder Abende an geheimnisvollen Wald-
rändern, wo ich mit meinem Netz auf der Lauer
stand wie ein Schatzsucher und jeden Augen-
blick auf die tollsten Überraschungen und Be-
glückungen gefaßt war. Und wenn ich dann
einen schönen Falter sah, er brauchte nicht ein-
mal besonders selten zu sein, wenn er auf einem
Blumenstengel in der Sonne saß und die far-
bigen Flügel atmend auf und ab bewegte und
mir die Iagdlust den Atem verschlug, wenn ich
näher und näher schlich und jeden leuchtenden
Farbensleck und jede kristallene Flügelader und
jedes feine braune Haar der Fühler sehen konnte,
das war eine Spannung und Wonne, eine
Mischung von zarter Freude mit wilder Be-
gierde, die ich später im Leben selten mehr
empfunden habe.
Meine Sammlung mußte ich, da meine Eltern
arm waren und mir nichts dergleichen schenken
konnten, in einer gewöhnlichen alten Karton-
schachtel ausbewahren. Ich klebte runde Kork-
scheiben, aus Flaschenpfropfen geschnitten, auf
den Boden, um die Nadeln darein zu stecken,
und zwischen den zerknickten Pappdeckelwänden
dieser Schachtel hegte ich meine Schätze. An-
fangs zeigte ich gern und häufig meine Samm-
lung den Kameraden, aber andere hatten Holz-
kästen mit Glasdeckeln, Naupenschachteln mit
grünen Gazewänden und anderen Luxus, so daß
ich mit meiner primitiven Einrichtung mich nicht
eben brüsten konnte. Auch war mein Bedürfnis
darnach nicht groß und ich gewöhnte mir an,
sogar w'.chtige und aufregende Fänge zu ver-
schweigen und die Beute nur meinen Schwestern
zu zeigen. Einmal hatte ich den bei uns seltenen