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Spannbrett sein. Da fand ich ihn
denn auch: die braunen Flügel mit
schmalen Papierstreifen überspannt,
hing das Nachtpfauenauge am Brett,
ich beugte mich darüber und sah alles
aus nächster Nähe an, die behaarten
hellbraunen Fühler, die eleganten und
unendlich zart gefärbten Flügelränder,
die feine wollige Behaarung am Innen-
rand der unteren Flügel. Nur gerade
die Augen konnte ich nicht sehen, die
waren vom Papierstreifen verdeckt.

Mit Herzklopfen gab ich der Ver-
suchung nach, die Streifen loszumachen,
und zog die Stecknadeln heraus. Da
sahen mich die vier großen merkwür-
digen Augen an, weit schöner und
wunderlicher als auf der Abbildung,
und bei ihrem Anblick fühlte ich eine
so unwiderstehliche Begierde nach dem
Besitz des herrlichen Tieres, daß ich
unbedenklich den ersten Diebstahl meines
Lebens beging, indem ich sachte an
der Nadel zog und den Schmetterling,
der schon trocken war und die Form
nicht verlor, in der hohlen Hand aus
der Kammer trug. Dabei hatte ich
kein Gefühl als das einer ungeheuren
Befriedigung.

Das Tier in der rechten Hand
verborgen, ging ich die Treppe hinab.

Da hörte ich, daß von unten mir jemand ent-
gegen kam, und in dieser Sekunde wurde
mein Gewissen wach, ich wußte plötzlich, daß
ich gestohlen hatte und ein gemeiner Kerl
war, zugleich befiel mich eine ganz schreck-
liche Angst vor der Entdeckung, so daß ich
instinktiv die Hand, die den Raub um-
schlossen hielt, in die Tasche meiner Jacke
steckte. Langsam ging ich weiter, zitternd und
mit einem kalten Gefühl von Verworfenheit
und Schande, ging angstvoll an dem herauf-
kommenden Dienstmädchen vorbei und blieb
an der Haustüre stehen, mit klopfendem Herzen
und schwitzender Stirn, fassungslos und vor
mir selbst erschrocken.

Alsbald wurde mir klar, daß ich den Falter
nicht behalten könne und dürfe, daß ich ihn
zurücktragen und alles nach Möglichkeit un-
geschehen machen müsse. So kehrte ich denn,
trotz aller Angst vor einer Begegnung und Ent-
deckung, schnell wieder um, sprang mit Eile
die Stiege hinan und stand eine Minute später
wieder in Emils Kammer. Vorsichtig zog ich
die Hand aus der Tasche und legte den Schmet-
terling auf den Tisch, und noch ehe ich ihn
wieder sah, wußte ich das Unglück schon und
war dem Weinen nah, denn das Nachtpfauen-
auge war zerstört. Es fehlte der rechte Vorder-
flügel und der rechte Fühler, und als ich den
abgebrochnen Flügel vorsichtig aus der Tasche
zu ziehen suchte, war er zerschlissen und an
kein Flicken mehr zu denken.

Beinahe noch mehr als das Gefühl des
Diebstahls peinigte mich nun der Anblick des
schönen seltenen Tiers, das ich zerstört hatte.
Ich sah an meinen Fingern den zarten braunen
Flügelstaub hängen und den zerrissenen Flügel
daliegen, und hätte jeden Besitz und jede Freude
gern hingegeben, um ihn wieder ganz zu wissen.

Traurig ging ich nach Hause und saß den
ganzen Nachmittag in unsrem kleinen Garten,
bis ich in der Dämmerung den Mut fand,
meiner Mutter alles zu erzählen. Ich merkte
wohl, wie sie erschrak und traurig wurde, aber
sie mochte fühlen, daß schon dies Geständnis
mich mehr gekostet habe als die Erduldung
jeder Strafe.

„Du mußt zum Emil hinübergehen," sagte
sie bestimmt, „und es ihm selber sagen. Das
ist das Einzige, was Du tun kannst, und ehe
das geschehen ist, kann ich Dir nicht verzeihen.
Du kannst ihm anbieten, daß er sich irgend
etwas von Deinen Sachen aussucht, als Ersatz,
und Du mußt ihn bitten, daß er Dir verzeiht."

Wann will ich diese Nacht vollenden?

O Morgen, Morgen steig herauf —
Erinnrung deckt mit blassen Händen
Die Gräber meiner Toten auf.

Ein dunkler Chor, den ich besessen,

Ein Reigen ist es tief und dicht,

Ein holdes Heer, das ich besessen —

Und alles, alles ließ das Licht.

Die Erde mag die Schar noch haben,
Wir sind einander doch so tot —

Auch ich, auch ich bin längst begraben
Von manches Herzens Haß und Not.
Auch ich mag wohl in Mitternächten
Zu blassem Wandel auferstehn
Und durch die Träume der Gerechten
Als ein verlorener Toter gehn.

Wie sind wir fern uns, die wir leben,
Zu selben Sünden doch versucht,

Von Mördern nur, uns gleich, umgeben,
Wo jeder seinem Mörder flucht
Und Opfer ist und blasse Hände
Zum Himmel ringt um Recht und Ruh.
O, daß sich diese Nacht vollende,

Komm, Morgen, komm, o Morgen, du!

Victor Hardung

Das wäre mir nun bei jedem anderen Ka-
meraden leichter gefallen als bei dem Muster-
knaben. Ich fühlte im voraus genau, daß er
mich nicht verstehen und mir womöglich gar
nicht glauben würde, und es wurde Abend und
beinahe Nacht, ohne daß ich hinzugehen ver-
mochte. Da fand mich meine Mutter unten im
Hausgang und sagte leise: „Es muß heut noch
sein, geh jetzt!"

Und da ging ich hinüber und fragte im
untern Stock nach Emil, er kam und erzählte

sofort, es habe ihm jemand das Nachb
Pfauenauge kaput gemacht, er wisse
nicht, ob ein schlechter Kerl oder viel-
leicht ein Vogel oder die Katze, und
ich bat ihn, mit mir hinaufzugehen
und es mir zu zeigen. Wir gingen
hinauf, er schloß die Kammertüre auf
und zündete eine Kerze an, und ich
sah auf dem Spannbrett den verdor-
benen Falter liegen. Ich sah, daß er
daran gearbeitet hatte, ihn wieder her-
zustellen, der kapute Flügel war sorg-
fältig ausgebreitet und auf ein feuchtes
Fließpapier gelegt, aber er war un-
heilbar, und der Fühler fehlte ja auch.

Nun sagte ich, daß ich es gewesen
sei, und versuchte zu erzählen und zu
erklären.

Da pfiff Emil, statt wild zu werden
und mich anzuschreien, leise durch die
Zähne, sah mich eine ganze Weile
still an und sagte dann: „So so, also
so einer bist Du."

Ich bot ihm alle meine Spielsachen
an, und als er kühl blieb und mich
immer nur verächtlich ansah, bot ich
ihm meine ganze Schmetterlingssamm-
lung an. Er sagte aber:

„Danke schön, ich kenne Deine
Sammlung schon. Man hat ja heut
wieder sehen können, wie Du mit
Schmetterlingen umgehst."

In diesem Augenblick fehlte nicht viel, so
wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen. Es
war nichts zu machen, ich war und blieb ein
Schuft, und Emil stand kühl in verächtlicher
Gerechtigkeit vor mir wie die Weltordnung.
Er schimpfte nicht einmal, er sah mich nur an
und verachtete mich.

Da sah ich zum erstenmal, daß man nichts
wieder gut machen kann, was einmal verdorben
ist. Ich ging weg und war froh, daß die
Mutter mich nicht ausfragte, sondern mir einen
Kuß gab und mich in Ruhe ließ. Ich sollte
zu Bett gehen, es war schon spät für mich.
Vorher aber holte ich heimlich im Eßzimmer
die große braune Schachtel, stellte sie aufs Bett
und machte sie im Dunkeln auf. Und dann
nahm ich die Schmetterlinge heraus, einen nach
dem andern, und drückte sie mit den Fingern
zu Staub und Fetzen.

Das Zugpferd

Die Sehnen straff, so eilt es vor dem Knall
Der Peitsche, die ihm auf den Rücken fällt,
Und vor der Last, die es gefangen hält,
Und bebt vor jedem jähen Widerhall.

Doch raffeln ihm die Räder Melodien,
Musik des Lebens zu dem schnellen Tanz
Der Häuser und der Bäume Flimmerglanz,
Die es nach beiden Seiten eilends fliehn.

Die Deichselspitze und der Hund, der bellt,
Begleiten seiner Augen feuchten Schein
Durch Gräserdust und durch Alleenreihn
Zum fernen Stall, vom Lampenlicht erhellt.

Die Klänge, die ihm noch im Ohre sind,
Der Räder Lärmen, das es fliehend schuf,
Entlocken ihm ein Scharren mit dem Huf.
Dann steht es müd und lauscht dem

Abendwind.
Adolf Ryba

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Register
Ferdinand Staeger: Zeichnung zum Text "Tote"
Adolf Ryba: Das Zugpferd
Victor Hardung: Tote
 
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