Der Wanderer: „Es war bloß ... Ich leide etwas
an logischer Hypertrophie ... Wenn ich das schöne
Fräulein anschaue — ich kenne sie, ohne daß sie mich
kennt; ihre Frau Mutter wäscht für mich — und
sehen Sie: in dem Kraftwagen damals, wie das Un-
glück geschehen ist, da saß auch so ein Fräulein drin,
sehr prächtig verziert, genau dieselbe Art. Und seitdem
werd ich den Gedanken nicht los, ob mein armer
Junge nicht vielleicht doch — sagen wir: wichtiger
für die Nation geworden wäre; es war ein ganz
ungewöhnlich begabtes Kindl Und das ist mir nun
Mr fixen Idee geworden: so oft ich so ein verziertes
Fräulein in so einem gefährlichen Wagen sehe —
verzeihen Sie mir, aber ich muß jedesmal denken:
da fährt wieder so ein ... Luxusfräulein ein an-
gehendes Genie tot."
Der Herr (tiefbewegt, nachdenklich): „Fixe Idee, mein
Freund? Sagen Sie das nicht I"
Das Fräulein (erschüttert, flüstert): „Der Mann hat
ja recht. . . Recht hat der brave Mann . . . (Nach kurzem
Kampf, zu dem Herrn) Waldemar, gib mich frei! Ich
will... zu meiner Mutter. Auf Schusters Rappen.
Versuche nicht, mich zu halten: es ist beschlossen."
Der Heer: „Es ist ja wahr, er hat ja recht..
Und doch —! Nun, so nimm wenigstens dies (schreibt
einen Scheck und gibt ihn ihr) und empfiehl mich un-
bekannter Weise Deiner Frau Mutter. Achtzigtausend
— ist's genug?"
Das Fräulein (den Scheck in ihr hochelegantes Leder-
täschchen bergend, haucht): „O — zu viel . .. (Küßt ihm
die Hand, worauf er sie sanft auf die Stirn küßt.) Leb
wohl, Waldemar." (Sie geht, alle grüßend, ihrer sehr
hohen Stöckelabsätze wegen nicht ohne Mühe, rechts ab.)
Der Herr (nachdem sie entschwunden, plötzlich): „Glau-
ben Sie denn, daß wir, die Herren, wertvoller seien?"
Der Wanderer (zuversichtlich): „Nun, das wollen
wir doch voraussetzen. (Gerührt.) Edle Leutel Ja, so
ist das Mitmenschenherz — man muß nur richtig hinein-
schauen. Fahren Sie wohl, mein Herr, und Sie auch,
Lenker." (Drückt beiden die Hände. Links hinten ab.)
Der Lenker: „Also fahren wir, Herr! Man kann
nie wissen, ob nicht ein Gewitter kommt." (Macht den
Wagen zur Abfahrt bereit.)
Der Herr (steht gedankenvoll, abwechselnd nach rechts
und links nachblickend): „Gewitter? Alsdann los! (Steigt
ein.) Steigung kommt keine mehr."
Der Lenker (wieder auf dem Wagen. Fährt links
hinten ab.)
(Plötzlich hört man das Warnungszeichen der Autohuppe
zweimal heftig gellen, fast gleichzeitig einen doppelten Schreckens-
schrei und einen gedämpften Krach. Das Geräusch des Motors
verstummt. Rufen und Jammern des Herrn und des Lenkers,
sich nähernd.)
Der Herr und der Lenker (beide schluchzend, zwischen-
durch mit großen Taschentüchern ihre Tränen trocknend, tragen
den Wanderer. Seine Stirn blutet, und viel Leben ist nicht
mehr in ihm. Sic betten ihn bei dem Kreuzwegweiser. Der
Lenker eilt zweimal links ab und holt zuerst den zerbeulten
Hut des Wanderers, seinen zerbrochenen Wandcrstab und den
bestaubten Band Goethe, dann Wagenkiflen, Decken, Ver-
bandstoff und Sekt.)
Dev Herr (inzwischen, des Wanderers Kopf in seinem
Schoß, das Blut wegwaschend, schluchzend): „Ich — ver-
stehe die Welt nicht mehr.. . Wäre diese unglückselige
Kurve nicht gewesen! l — Wie befinden Sie sich, ärm-
ster Freund? Hören Sie mich?"
Der Wanderer (nickt mühsam).
Der Herr: „Sind Sie uns sehr böse?"
Der Wanderer (leise): „Erstens — Hab' ich —
gar keine — Zeit — böse zu sein. — Ich hab's
inner—lich. Außerdem — ich selber schuld — im
Gehen — Goethe gelesen . . ." (Sein Kopf sinkt ermattet
zurück.)
Der Herr: „Allbarmherziger — er stirbt doch
nicht schon?"
Der Lenker (wollte dem Verwundeten Sekt reichen,
horcht am Herzen): „Ein bißchen schlägt's schon noch."
Der Herr (ingrimmigst, doch gedämpft): „Ich will
es nicht mehr sehen, das Mordinstrument auf Rädern
— ich schenk es Dir. (Hebt die Hand zum Schwur.) Nie
mehr fahre ich in solchem Fahrzeug I I"
Schützenfest im Hunsrück
Josse Goossens (München)
an logischer Hypertrophie ... Wenn ich das schöne
Fräulein anschaue — ich kenne sie, ohne daß sie mich
kennt; ihre Frau Mutter wäscht für mich — und
sehen Sie: in dem Kraftwagen damals, wie das Un-
glück geschehen ist, da saß auch so ein Fräulein drin,
sehr prächtig verziert, genau dieselbe Art. Und seitdem
werd ich den Gedanken nicht los, ob mein armer
Junge nicht vielleicht doch — sagen wir: wichtiger
für die Nation geworden wäre; es war ein ganz
ungewöhnlich begabtes Kindl Und das ist mir nun
Mr fixen Idee geworden: so oft ich so ein verziertes
Fräulein in so einem gefährlichen Wagen sehe —
verzeihen Sie mir, aber ich muß jedesmal denken:
da fährt wieder so ein ... Luxusfräulein ein an-
gehendes Genie tot."
Der Herr (tiefbewegt, nachdenklich): „Fixe Idee, mein
Freund? Sagen Sie das nicht I"
Das Fräulein (erschüttert, flüstert): „Der Mann hat
ja recht. . . Recht hat der brave Mann . . . (Nach kurzem
Kampf, zu dem Herrn) Waldemar, gib mich frei! Ich
will... zu meiner Mutter. Auf Schusters Rappen.
Versuche nicht, mich zu halten: es ist beschlossen."
Der Heer: „Es ist ja wahr, er hat ja recht..
Und doch —! Nun, so nimm wenigstens dies (schreibt
einen Scheck und gibt ihn ihr) und empfiehl mich un-
bekannter Weise Deiner Frau Mutter. Achtzigtausend
— ist's genug?"
Das Fräulein (den Scheck in ihr hochelegantes Leder-
täschchen bergend, haucht): „O — zu viel . .. (Küßt ihm
die Hand, worauf er sie sanft auf die Stirn küßt.) Leb
wohl, Waldemar." (Sie geht, alle grüßend, ihrer sehr
hohen Stöckelabsätze wegen nicht ohne Mühe, rechts ab.)
Der Herr (nachdem sie entschwunden, plötzlich): „Glau-
ben Sie denn, daß wir, die Herren, wertvoller seien?"
Der Wanderer (zuversichtlich): „Nun, das wollen
wir doch voraussetzen. (Gerührt.) Edle Leutel Ja, so
ist das Mitmenschenherz — man muß nur richtig hinein-
schauen. Fahren Sie wohl, mein Herr, und Sie auch,
Lenker." (Drückt beiden die Hände. Links hinten ab.)
Der Lenker: „Also fahren wir, Herr! Man kann
nie wissen, ob nicht ein Gewitter kommt." (Macht den
Wagen zur Abfahrt bereit.)
Der Herr (steht gedankenvoll, abwechselnd nach rechts
und links nachblickend): „Gewitter? Alsdann los! (Steigt
ein.) Steigung kommt keine mehr."
Der Lenker (wieder auf dem Wagen. Fährt links
hinten ab.)
(Plötzlich hört man das Warnungszeichen der Autohuppe
zweimal heftig gellen, fast gleichzeitig einen doppelten Schreckens-
schrei und einen gedämpften Krach. Das Geräusch des Motors
verstummt. Rufen und Jammern des Herrn und des Lenkers,
sich nähernd.)
Der Herr und der Lenker (beide schluchzend, zwischen-
durch mit großen Taschentüchern ihre Tränen trocknend, tragen
den Wanderer. Seine Stirn blutet, und viel Leben ist nicht
mehr in ihm. Sic betten ihn bei dem Kreuzwegweiser. Der
Lenker eilt zweimal links ab und holt zuerst den zerbeulten
Hut des Wanderers, seinen zerbrochenen Wandcrstab und den
bestaubten Band Goethe, dann Wagenkiflen, Decken, Ver-
bandstoff und Sekt.)
Dev Herr (inzwischen, des Wanderers Kopf in seinem
Schoß, das Blut wegwaschend, schluchzend): „Ich — ver-
stehe die Welt nicht mehr.. . Wäre diese unglückselige
Kurve nicht gewesen! l — Wie befinden Sie sich, ärm-
ster Freund? Hören Sie mich?"
Der Wanderer (nickt mühsam).
Der Herr: „Sind Sie uns sehr böse?"
Der Wanderer (leise): „Erstens — Hab' ich —
gar keine — Zeit — böse zu sein. — Ich hab's
inner—lich. Außerdem — ich selber schuld — im
Gehen — Goethe gelesen . . ." (Sein Kopf sinkt ermattet
zurück.)
Der Herr: „Allbarmherziger — er stirbt doch
nicht schon?"
Der Lenker (wollte dem Verwundeten Sekt reichen,
horcht am Herzen): „Ein bißchen schlägt's schon noch."
Der Herr (ingrimmigst, doch gedämpft): „Ich will
es nicht mehr sehen, das Mordinstrument auf Rädern
— ich schenk es Dir. (Hebt die Hand zum Schwur.) Nie
mehr fahre ich in solchem Fahrzeug I I"
Schützenfest im Hunsrück
Josse Goossens (München)