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Eugen

Osswald (München!

Gefunden

nicht mehr sah, reute ihn augenblicklich seine
Entschlußunsähigkeit. Was ihm noch eben un-
ausführbar dünkte, erschien ihm leicht, wo
er sich sagte, das; es bereits hätte geschehen
sein können. Er überlegte fortwährend, daß
er zurückgehen wolle, aber seine Füße schritten
weiter, wie ohne seinen Willen, und die surcht-
bare Spannung seiner Seele lieh nach, das er-
drückende Gewicht ward leichter.

Wie ist dies nur möglich! dachte er: Nichts
hat sich doch geändert, alles liegt genau so
grauenvoll vor mir! Ist es nichts als das
arme, gegenwärtige, nackte Dasein, das die
Seele wieder ausatmen läßt? — So mußte
jemandem zu Mute sein, der von Wilden zum
Marterpfahl gesührt wird: Er glaubt ihn schon
erreicht, und dann läßt der jagende Pulsschlag
nach, wenn er mit einem Male merkt, daß er
sich irrte, daß es noch unbestimmbar lange
dauern wird.

Nun mußte er also zum Walde hinaus. —
Er fühlte mit der Hand in seine Manteltasche:
da war sie, die kleine Waffe aus hartem Stahl,
er fühlte deutlich ihre gefällig abgeschliffenen
Kanten. Fast hätte er gewünscht, sie wäre
fort ...

Alberne Gedanken! sprach er laut zu sich,
ich schäme mich wahrhaftig vor mir selber!
Andere haben es doch auch getan und sich darum
nicht so angestellt wie ich! Es kann doch gar-
nicht so schwer fein! ... oder hatten sie alle,
alle dieselben Kämpfe durchgemacht wie er.

Er batte die lekten Häuserreihen verl

alle dieselben Kämpfe durchgemacht wie er r
Er hatte die letzten Häuserreihen verlassen
und kam auf die Landstraße, die sich grau und
unendlich im Nebel vor ihm ausdehnte, naß-
kalt und trübe.

Ob ihn vorhin jemand auf der Brücke be-
obachtet hatte? Dann würde an einem der
nächsten Tage in der Zeitung zu lesen sein:
„Man sah ihn am Morgen der Tat von der
Brücke aus ins Wasser starren, offenbar über-
legte er eine andere Todesmöglichkeit." ....
Für nächsten Sonntag hatte er eine Einladung
angenommen zu einer Gesellschaft; — da würde
er schon unter der Erde sein. Er rechnete noch:
Samstag, Samstag in der Frühe, spätestens,
war das Begräbnis.. . Dies Wort schauerte
dumps in ihm auf. — Und nächste Woche, um
denselben Tag wie heute, lag er schon hundert

Stunden unter der Erde.

Schweigend zog Stamm für Stamm an ihm
vorbei. Ans einmal blieb er stehn: War dies
alles nicht ein Traum? Stand er hier wirklich
auf der Landstraße? War er nicht ganz wo
anders? Mußte er nicht ganz wo anders sein?
— Er trat auf einen der Bäume zu und faßte
an seine Rinde. — Ein hartes, wirkliches Ge-
fühl war in seinen Fingern, der Baum war da,
die Landstraße war da, und er selber stand im
grauenden Tage mitten aus dieser Straße, mit
seinem leibhaftigen, wirklichen Körper, der ihm
kaum noch angehörte, vor dem er ein Grausen
empfand. — Und doch war ihm, als könne die-
ses alles nicht möglich fein, als müsse er er-
wachen. Gab es denn garkeine Rettung, gar-
keinen andern Ausweg? — Abgedroschene, hun-
dertmal überlegte Gedanken: Ein Leben im Ge-
fängnis, Schande über die Familie, llnb als
was für ein Feigling würde er dastehn! Es
mußte sein, es gab keinen anderen Weg für ihn.

Wieder schritt er weiter, und jeder Schritt
mußte ihn dem Walde näher bringen. — Ich

hätte mir wärmere Stiefel anziehen sollen, -
dachte er plötzlich ganz mechanisch — man er-
friert ja fast in dieser Kälte; diese letzten Stunden
könnte ich doch wenigstens noch warm haben;
meine Füße sind wie Eis; vielleicht — so schoß
es ihm durch den Kopf — vielleicht werden sic
nie im Leben wieder warm, und bald wird

alles Uebrige auch so sein.

Er senkte den Kopf, er wollte nichts mehr

denken, das Denken war entsetzlich. So schritt
er vorwärts, setzte er Fuß vor Fuß, im ewigen

Einerlei, eine Viertelstunde lang.

Ob wohl der Wald immer noch nicht zu
sehen war? — Er wollte nicht emporblicken,

aber endlich sah er dennoch ans.

Still lag im nebeligen Nichts ein dunkler

Streif, so, wie ein Meer. — Ihm mar, als
striche eine Hand, die ihn nicht berührte, hoch
über seinen Scheitel. Seine Schritte wurden
langsamer, und doch rückte dieser Streifen nun
schnell näher, bald ließen sich die Formen der
einzelnen Bäume unterscheiden. Und nun kam
endlich der kleine Seitenpfad, der von der
Landstraße abzweigle und gradewegs auf ihn

zuführte.

Ihm war mit einemmal, als sehe er sein
ganzes Leben wie auf einer Karte dargestcllt.
Die Bcrgangenheit lag hinter ihm zurück, und
dieser Weg, der hier abzweigte, war der letzte
Tag in seinem Leben, er führte von dem Haupt-
weg ab, zum Tod, zum Walde.

Und vor diesem Wald befiel ihn jetzt ein
Granen. Es war, als warte dort ein Richt-
block auf ihn, zu dem man ihn gebunden und
geknebelt führen würde; als könne hier draußen
noch mehr freiwillig, mehr aus eigener Ent-

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Eugen Osswald (Oßwald): Gefunden
 
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