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„Kommen Sie näher! Sie sind rein . . . .
Kommen Sie .... ich will Sie auf die Stirn
küssen .... ach, so ein Kind . . . ."

Er reißt mich an sich und küßt mich. Ich
nehme mein Taschentuch und reibe an meiner
Stirn.

Er stöhnte. Er war ein ganz verrückter Hund!

4- * *

Es ist Nachmittag. Ich arbeite seit einigen
Tagen nicht mehr viel. Ich sitze bei dem kranken
Russen und trinke Tee. Natürlich . . . wir haben
noch fünf Mark. E i n Stück Geld; es liegt auf
dem Tisch, neben dem Bett.

Es klopft. Ein langer Mensch tritt ein, ver-
beugt sich tief vor dein Kranken, verbeugt sich
am Ende eines jeden Satzes — wie ein Japaner.
Er steht an der Tür und redet — stundenlang

— natürlich auf Russisch.

Fedor hört ihm schweigend zu, zuerst ab-
weisend, dann ernst, tiefernst, gütig, bekümmert,
schwermütig kopfnickend, Beifall stöhnend. Er
sieht ihn nicht an, sondern blickt in die Höhe
zur schmutzigen Zimmerdecke.

Der Mann redet — eine Sprache ist das!
Elend, Not, Verfolgung, Verfolgung .... Wie
Pferdegetrampel in der Steppe .... Ich stütze
den Kopf in die Hand, kein Wort verstehe ich,

— aber es geht dem Mann da an der Tür
schlecht, immer ist es ihm schlecht ergangen.

Er ist zu Ende.

Fedor sagt etwas. Der Mann antwortet.
Fedor fragt noch einmal. Der Mann antwortet
ähnlich, verspricht sich, errötet, verbeugt und ver-
bessert sich.

Fedor greift nach unserm Geldstück und gibt
es dem Mann.

Großer Dank, Verneigung, Verneigung, Segen!
Alles auf russisch, versteht sich. Ich erhebe mich,
öffne dem Gast die Tür . . .

Fedor sagt garnichts, ich auch nicht. Fedor hat
viel zu denken. Geld haben wir nun keines mehr.

Ich schleiche hinaus und hole für Fedor die
Abendzeitung, — bevor die Wirtin sie lesen will,
es muß schnell geschehen.

Ich lese Fedor vor.

Viel Politisches. Dann den Lokalteil.

„Gewarnt wird die russische Kolonie unserer
Stadt vor einem Betrüger, der sich durch erlogene
Leidenserzählungen von seinen Landsleuten Geld
erschwindelt und bei dieser Gelegenheit Paletots
und dergleichen stiehlt. Der Betrüger 2c."

Fedor schlägt sich mit der Faust an die Stirn.

„Im Korridor!" schreit er, „sieh im Korridor
nach!"

Selbstverständlich ist mein Paletot nicht mehr da.

Der Russe weint. „Daß es so etwas gibt! . . .
Und du wirst jetzt frieren .... Ein Wolf! ....
Ein Wolf!_"

Ich fahre ihn an.

„Das ist doch nicht das Wichtigste!" schnauze ich.

Der Russe rauft sich die Haare, sein Kopf hängt
überm Bettrand.

„Nicht?. Was denn, Kindchen, was

denn . . ..?"

„Das Menschliche, Mensch!" schreie ich.

Der Russe weint.

Ach, sind das Geschichten ....

4- * 4:

Es ist Nacht geworden.

„So geht es nicht weiter..." sagt Fedor.

„Sie müssen ins Krankenhaus..."

„Sie läßt mich nicht."

„Wer?"

„Die Wirtin. Sie macht Geschrei. Ich habe
Angst. . ."

Er setzt hinzu: „Ich kann nicht in die Armen-
abteilung . . . Allein muß ich liegen. . ."

„Ja, Sie sind ein Aristokrat," sage ich böse.

Die Wirtin gibt keine Kerze mehr, nur von
der Straße dringt etwas Licht ein. Es ist Winter;
schmutziger Schnee liegt auf allen Wegen.

Fedor bettet seinen Kopf auf den gelben be-
haarten Arm.

„Jeden Augenblick kann ich Geld haben," er-
klärt er grübelnd.

Ich ziehe eine Grimasse.

„So — ? Ach! Du bist ein Held! . . . Denn
man zu!"

Er schweigt.

„Ein Telegramm müßte man schicken . . ."
sagt er nach einer Stunde.

Ich bin eingeschlafen.

„Was — ?"

Er erzählt: Die alte russische Geschichte erzählt
er da! Er ist ein Fürst, ein großer Herr! Er
hat im Pagenkorps gedient, seine Vettern, seine
Brüder sind bei der Garde, — Regiment Preo-
brashenski! Zarenhof! In revolutionäre Zirkel
ist er geraten. Rußlands Befreiung lag ihm am
Herzen! Fourier, Marx sind seine Helden!
Verurteilt. . . Verbannung. . . Besitztümer kon-
fisziert . . . Flucht, Flucht. . . Bei vielen barm-
herzigen Menschen untergeschlüpft. . . Mit dem
Paß eines toten Kleinrussen, eines Fellhändlers,
über die Grenze entwischt... Er heißt garnicht
Fedor X. X. . . . Nur ein Telegramm braucht's,
daß er ein Gnadengesuch einreicht, und die Namen
der Barmherzigen angibt, die ihn verborgen haben,
— gleich soll er dann von den Brüdern und
Vettern Geld bekommen, alles soll er wieder
haben, ins heilige Rußland darf er wieder zurück ..

Es wird Morgen, da ist er fertig mit seiner
Geschichte.

Ich schlafe zwei Stunden in Kleidern, gehe
dann in die Schule.

* * *

Mit Fedor wird es sich zu Ende schleichen.
Er ißt, trinkt, spricht nichts mehr.

Die Freunde können nicht helfen, keiner hat
einen Pfennig. Kirchenmäuse sind sie. Alles
haben sie ihm schon hingegeben, ihre Kleider
yaben sie für ihn verkauft, ich auch. Der eine
ist Mediziner. Der „behandelt" Fedor.

„Ins Krankenhaus, ins Krankenhaus!" sagt
er immerzu auf russisch.

„Ich kann nicht!" schreit Fedor und Schweiß
bedeckt sein Gesicht. „Die Wirtin läßt mich nicht!
. . . Es gibt Szenen ... ich habe solche Angst!
. . . Sie wird sich an meine Krankenbahre hängen
und auf der Treppe vom Geld brüllen, wenn sie
mich abholen! -Du Hund/ wird sie schreien, ich
kenne das . . . und wenn ich gesund werde, —
ich kann das alte Leben nicht mehr aushalten
mit solch einem Weib!"

Wieder ist es Nacht.

Schmale Kerze tropft, wir sprechen nichts mehr.

..Schreib auf!" sagt er.

Das fehlt noch!

„Aber, Impresario, was treibst denn Du da?"
— „Ich bin eben dabei, für München eine
streng konfessionelle, echt katholische Ronzert-
Saison zusammenzustellen!"

_ Er diktiert. Russische Namen: Michailoff . .
Issai . . . . Berghain .... Kalitin . ... was
weiß ich!

„Michailoffs Tochter, die kleine blonde Sonja
. . . in Troer . . . hat mir ein Heiligenbild ge-
schenkt . . . acht Jahre war sie alt . .." sagt er
und zittert.

Ich schreibe. Ich merke, was das für Na-
men sind.

„Sie sind ein Schuft," sage ich.

„Petroff, ach Petroff! . . . Koch ... Na-
stassja Iwanowna . . ."

„. . . sollen alle nach Sibirien, damit Sie
leben können . . ."

Ich schreibe, er zittert.

„Lawretzky, Mendel Treip . . .."

Ich werfe ihm Blatt und Bleistift ins Gesicht,
drehe mich um.

„Sterben Sie doch!" brülle ich und schlage
die Tür zu.

4-4-4-

Ich gehe zwei Tage nicht zu ihm. Mag er
sterben.

Am dritten Morgen um sechs klopfe ich an.
Es ist Sonntag. Ich habe die ganze Nacht ge-
lauscht, er hat nicht mehr gestöhnt. Er schläft
friedlich. Er erwacht.

„Nun?" frage ich.

Nie habe ich solch einen Blick gesehen, aus
Schlaf und Tod gemischt, von weit, weit her.

„. . . . Sie kommen heut mit dem Haus-
arzt .. ." flüstert er und schläft friedlich ein.

Ich gehe fort, den ganzen Tag bin ich auf
den Straßen. Ich spreche vor mich hin und balle
die Fäuste.

„Dreitausend fünfhundert Mark!" rufe ich ins
Gewühl der Sonntagsmenschen.

Die Menschen lachen.

„Seht den Jungen," sagen sie.

Um drei Uhr nachts komme ich vor das Haus,
verstaubt, verheult und müde.

Horch! ein Höllenlärm!

Ich stürze ins Zimmer. Die Russen sind drin,
alle umringen mich, küssen mich, reden auf mich
ein . . . Pferde in der Steppe.

Fedor steht von- seinem Bett auf und geht
im Nachthemd auf mich zu.

„Lieber!" sagt er und gleitet an mir herunter,
mit der Stirn auf meinen Schuhen. Ich trage
ihn ins Bett.

* * *

Wir sind allein.

„Wie hast du es getan?" frage ich ernst.

Er brüllt vor Lachen und Schmerzen.

„Sie sind angekommen..."

„Nun -?"

„Nachmittags."

„Nun — ?"

„Mein Vetter X. X. und der Familienarzt..."

„Nun — ?"

„Ich habe sie herausgeschmissen! — Gib mir
zu trinken!"

Er trinkt. Es ist französischer Champagner.

„Noch ein Glas!"

Er wird ungeheuer lebendig, seine schlanken
Gebärden stoßen Worte heraus.

„Der hat mich gerettet!"

Er deutet. ..

„Wer?" frage ich erstaunt.

„Der Champagner!"

Ich schüttele den Kopf.

„Du phantasierst. Trink nicht so viel."

„Höre: Ich habe an den Redakteur der S.
Zeitung geschrieben. Schmitt, meinen Feind!
Folgendes: -Ich sterbe, Schmitt, in der Matratzen-
gruft! Ich will aber noch einmal Champagner
saufen! Mensch, bestiehl Deine Kasse und gib
mir vierzig Mark! Christus segne Dich!‘ — Luka
habe ich hingeschickt. Es ist Sonntag. Schmitt
geht ins Büro und nimmt es aus der Kasse.
Ich saufe . . . allein . . . mit Träumen, Menschen-
sohn . . . Ziehe mich im Nebel an. . . fein, fein
. . . gehe auf den Korridor . . . klopfe an ..."

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