Lebens verfügen zu können, frei wie der Vogel,
flüchtig und schnell wie die Schwalbe.
Er wird also auch heute eine Stunde vor dem
kleinen Kaffeehaus sitzen. Die Nacht ist warm,
die Gespräche der noch spät Vorübergehenden
werden an sein Ohr klingen, am Hafen trällert
eine junge Stimme irgendeine der unbekannten
Weisen, die hier in allen Gassen auftönen und
einen neugierig und sehnsüchtig machen. Die
großen, schweren, schmutzigen Boote nnt den haus-
hohen Segelmasten und den bleichen, von Wind
und Wellen verwaschenen Gallionsfiguren, die
einen fast an Gestalten im Panoptikum erinnern,
wiegen sich langsani und bedächtig im Wasser,
das voll Unrat ist. Bon der Uhr am schlanken
Turm des Municipio fallen die Biertelstunden-
schläge, wenige Sekunden später antwortet in der
Ferne die Kirchenuhr, heller, schleuniger, als ob
sie Nachkommen müßte.
Es ist eine Nacht, in der man wachend aus
einem Traum in den anderen sinken könnte.
Aber er wird wohl nicht von fernen, phantastischen
und gefahrvoll lockenden Dingen träumen, wie
sonst zu dieser Stunde. Das ist vorbei. Seine
Gedanken stoßen heute an eine Wand. Er fühlt
sich in einem Käfig. Oder er kommt sich vor
wie ein Vogel, den man noch mit gebundenen
Flügeln herumflattern läßt, bis man ihn hinein-
sperrt. Sie wurden von einer weichen linden
Hand gebunden. Es tat gar nicht weh, es tat
eigentlich wohl. Gewiß, gewiß, — aber sie sind
gebunden. Er könnte sie wohl lieben, diese Hand,
und die, der sie gehört. Vielleicht liebt er sie
sogar in Wirklichkeit.
Je tiefer er darüber ins Nachdenken gerät,
desto bestimmter glaubt er zu missen, daß ihni
Leontine ganz und gar nicht gleichgültig ist. Und
wenn es nicht sie ist, wird ja doch einmal eine
andere kommen, der er leichtsinnig und ohne jede
Überlegung seine Freiheit, sein Leben schenken
wird. Wäre es nicht besser, dies jetzt zu tun?
Wie würde diese andere anssehen, die mehr Glück
haben und der es gelingen wird ihn zu über-
rumpeln? Man könnte fast Angst haben vor
all dem. was einen, noch bevorsteht. Wir. sind
ja keine Stunde davor sicher uns zu verlieren
und etwas zu begehen, das nicht mehr aus der
Welt geschafft werden kann. Nur jetzt nicl,t, nur
jetzt nicht, — die Nacht ist so schön, so schön, —
mit einem einzigen Schwung meint nian sich über
den schwarzen See heben zu können, meilenweit
in einer einzigen Nacht, und am Morgen ist man
mitten unter tausend neuen Menschen. Wieviele
Herzen schlagen mir entgegen, ohne daß sie es
wissen? Ebenso unwissende, zitternde, erwartungs-
volle, wie es das meine ist.
Weiter: der nächste Tag. Er kommt nach
dem Frühstück ins Hotel. Er bringt Blumen.
Die Verkäuferin, die ein so hübsch gebrochenes
Deutsch spricht, hat sie ihm mit Blicken gebunden,
als ob sie sagen wollte: der ist für inich erledigt.
Leontine schreitet durch die Tür. Verschwärmte,
dunkle Augen empfangen ihn, beseligte, besitzende:
du bist mein! Sie müssen manche Stunde der
Nacht offen gewesen sein, Schatten liegen unter
ihnen. Was mag sich Leontine die ganze Nacht,
bald Schlaf suchend, vor Ermüdung, bald ihn
vern,eidend, da sie doch ihre Gedanken festhalten
wollte, für Bilder gebaut haben? Vom heutigen
Morgen an Wochen, Monate und Jahre hinaus,
— ein ganzes Leben sich gestaltend an seiner
Seite, nur Glück sehend, leichtfüßig über alle
kleinen Verdrießlichkeiten, über alle unvermuteten
Schwierigkeiten grauer, trüber Tage hüpfend.
Und im Laufe des morgigen Tages wird er
mit der Mutter sprechen. Der Bruder wird alles
erfahre». Der wird stolz sein, nun zu ihm du
sagen zu können, und froh, einen Schwager zu
haben, der seine Dummenjungenstreiche gutmütig
mitmacht. Im Laufe des Tages wird es sich
weiter geben, daß er mit Leontine Arni in Arni
durch die Stadt geht, am Hafen herumstreift, zu
dem man schließlich aus all den kleinen, dunkle»,
gekrümmten Gaffe» immer wieder herausschreitet,
den Blick auf einmal von hohen Häusern, von
Fenstern und Pflastersteinen befreit und in die
blaue Weite losgelassen. Die wälschen Mädchen,
die hier zu zweit und dritt in unermüdlichem,
wichtigsten Geplauder flanieren, und denen er
mitten in ihre lebhaften Gespräche hinein oft ein
leichtes, lustiges Wort zuwarf, werden ihn nicht
mehr mit ihren weißen, blanken Zähnen anlachen,
werden ihni das Wort nicht mehr keck erwidern,
ihni lächelnd über ihre Schulter nachblicken und
sich im geheimen darauf freuen, daß er ihnen
wieder in den Weg trete. Er ist gestrichen, er
geht Arm in Arm. Nicht lässig und niit einer
ihresgleichen. Vornehm und solid, mit einer
Fremden, die wirklich zu ihm gehört. Verhei-
ratet, verlobt, — gleichviel. Er war ein Schwind-
ler. Wenn er eine Frau oder Braut besitzt, was
lachte er uns an? Sie werden ihm Worte zu-
werfen, die armen, schönen, schnellfüßigen Mäd-
chen dieses Volkes, über die er erröten müßte.
In einer Woche will die kleine Familie, Mut-
ter, Tochter und Sohn, abreisen, nach dem Nor-
den zurück. Das werden für Leontine noch sieben
Tage himmelblauesten Glückes sein. Man wird
viel von der Zukunft sprechen, die Mama wird
sich hineinniengcn, die Gespräche werden sich bald
um Wohnung, Möbel und Dienstboten, um Be-
suche und Polterabend, Hochzeitsreise und Ber-
mählungsanzeigen drehen. O Gott, o Gott, o
Gott! — Diese warme, geheimnisvolle, dunkel
funkelnde Nacht!
Und in sieben Tagen begleitet er seine Braut,
die Mama und den Bruder zum Bahnhof. Er
bleibt noch hier und Leontine wird es wahr-
scheinlich unbegreiflich, rücksichtslos, rätselhaft fin-
den, daß er sie allein reisen lasse. Aber das ließe
er sich nicht nehmen. Er bleibt noch eine Woche
hier und kann nun ruhig Nachdenken, ohne daß er
darin täglich zwölf Stunden lang von ihr be-
einflußt wird. Aber die Woche wird nicht ewig
dauern, wie er sich das gedacht hat, und dann
ist auch er zuhause.
Dann kommt das tägliche Beisammensein.
Und dann rückt die Stunde immer näher, und
zum Schluß wird er statt in seiner bisherigen
Wohnung, die so feierlich einsani und von einer
stummen Nachgiebigkeit ist, wie ein vornehmer,
treuer, alter Diener, in einer unangenehm neuen,
blitzblank nusgestatteten sein, in der kleine, schmale
Frauenfüße über die Teppiche huschen, die Türen
aber umso geräuschvoller geöffnet und geschlossen
werden, — und ein anderer Wille wird neben
dem seinen inaßgebend und bald überhaupt stärker
sein, als sein eigener, der in der alten, stillen,
verlassenen Wohnung zurückblieb. Und wenn er
in seinem Zimmer sitzt und einmal recht froh ist,
wieder allein zu sein, streicht eine liebkosende
Jos. Faßnacht (München)
Hand über seinen Kopf, verschließen warme Fin-
ger seine Augen, ein Frauenkörper, den er —
ach! — so gut und gründlich kennen wird, drängt
sich an den seinen, ein Duft fließt um ihn,
der ihn weich und schwach macht. Und wenn er
auch gerade zu dieser Stunde im Innersten kühl
und stark bliebe, — Zärtlichkeiten werden gegeben,
»m erwidert zu werden.
Er wird nie allein sein, wenn er es möchte.
Kinder kommen, — das Leben wird so voll, daß
man keine leere Stunde mehr haben wird, keine
Zeit »lehr, in der nichts liegt als diese berückend
schöne, schweigsame, einen erwartende Leere, die
inan nach Wunsch und Verlangen erst füllen niuß.
Das wird er nicht mehr können, so wie jetzt.
Denn käme wirklich einmal eine solche Stunde
über ihn, so wird er traurig sehen, daß er diese
Kunst verlernt hat, daß er diese Lücke mit nichts
inehr ausfülleii kann, — es sei denn der Schmerz,
mit dem man etwas Verlorenem nachsieht. Und
iiicht einmal der wird sich einstellen. Denn man
rauft sich mit Sorgen herum, und erführt, daß
es ja doch keinen einzigen Menschen geben kann,
mit dein man in allem und jeden, ein Einver-
nehmen besitzen würde. Die Kinder werden groß,
Lärm und Unruhe treten in sein Leben und ver-
lassen es nicht mehr, in dieses Leben, das jahre-
lang vvii tiefer, heimlicher Ruhe war, und dem
danii jede Möglichkeit genommen sein wird, will-
kürlich sich zu wendeii, zu steigen, zu fallen. Nicht
einmal vernichte» dürfte er es. Es wird seine
Bahn haben, eine gerade, glatte Bahn, auf der
inan das Ende als einen fernen Punkt sieht, wie
den Punkt, in dem sich zwei Schienen treffen,
die durch flaches, weites Land laufen. Es gibt
kein Abirren aus solchem Geleise. Das wäre
eine Katastrophe. Er haßt Katastrophen.
Die beiden zupfe» noch immer an ihren Instru-
menten. Er wundert sich, daß sie noch hier sind.
Er hat sie ganz vergessen, gar nicht mehr gehört,
als ob einer seiner Sinne ausgeschaltet gewesen
wäre. Der eine fängt jetzt gar ein italienisches
Liebeslied zu singen an. Leontinens Hand wartet.
Die seine ist reglos und kalt. Er fühlt kein
Zucken mehr im Arm, i» den Fingern, dieses
lockende, warme Stück Körper, das sich von dem
weißen Kleid ganz dunkelbraun abhebt, zu be-
rühren. Ein Blick streift ihn. Er ist traurig und
voll der Borwürfe. Er sagt ihm vieles, aber
er weiß dies alles. Er ist froh, daß er auf diese
stummen Fragen, auf diese Anklagen keine Ant-
wort zu geben braucht, und denkt sich gleichzeitig,
wie merkwürdig dies sei, daß mmi nur Worte
zu beantworten habe und jede andere Sprache,
so eindringlich sie auch sein nmg, als nicht vor-
handen betrachten könne. Sie will doch, daß ich
rede. Aber er schweigt, ©ein Mund schweigt,
seine Hand schweigt. Nun schweigt auch endlich
der Sänger und geht von Tisch zu Tisch, um
abzusammeln. Man beginnt wieder zu sprechen,
nach einer kleinen Pause. Es ist, als ob sich
alle erst recht besinnen müßten auf die Wirklich-
keit. So stark wirkte der stille Abend, das Ge-
zirpe der Saiten, die Stimme des Sängers, das
Schwirren der kleinen Tiere, die an die Bogen-
lampen stießen.
Er schlügt einen leichten, lustigen Ton an,
wie aus einem schweren Traum erwacht, den
man für ein Erlebnis hielt und der ja doch nur
ein Traum war, wieder frei geworden und be-
weglich. Leontine ist stumm, er muß sich an die
Mutter, an den Knaben halten, der ihm aus-
nehmend gefällt, und zu dem er ein steigendes
Gefühl wirklicher guter Freundschaft empfindet.
Der Knabe geht, als ob nicht das mindeste ge-
schehen wäre, auf seine Gedanken und Einfälle
ein. Es war ja nur ein ganz heimliches, unsicht-
bares Geschehen. Nur die zwei wissen davon,
kein anderer.
Noch kommt ein schweres Stück: der Heim-
weg. Natürlich geht er mit Leontine, die Mutter
und der Bruder voran. So war es ja immer.
Aber sonst war dies ein schöner, stiller Abschluß
sonniger, bewegter Tage. Man ging in einer
angenehmen Müdigkeit, man empfand sich nahe
und zugehörig, man streifte mit manchem Worte
flüchtig und schnell wie die Schwalbe.
Er wird also auch heute eine Stunde vor dem
kleinen Kaffeehaus sitzen. Die Nacht ist warm,
die Gespräche der noch spät Vorübergehenden
werden an sein Ohr klingen, am Hafen trällert
eine junge Stimme irgendeine der unbekannten
Weisen, die hier in allen Gassen auftönen und
einen neugierig und sehnsüchtig machen. Die
großen, schweren, schmutzigen Boote nnt den haus-
hohen Segelmasten und den bleichen, von Wind
und Wellen verwaschenen Gallionsfiguren, die
einen fast an Gestalten im Panoptikum erinnern,
wiegen sich langsani und bedächtig im Wasser,
das voll Unrat ist. Bon der Uhr am schlanken
Turm des Municipio fallen die Biertelstunden-
schläge, wenige Sekunden später antwortet in der
Ferne die Kirchenuhr, heller, schleuniger, als ob
sie Nachkommen müßte.
Es ist eine Nacht, in der man wachend aus
einem Traum in den anderen sinken könnte.
Aber er wird wohl nicht von fernen, phantastischen
und gefahrvoll lockenden Dingen träumen, wie
sonst zu dieser Stunde. Das ist vorbei. Seine
Gedanken stoßen heute an eine Wand. Er fühlt
sich in einem Käfig. Oder er kommt sich vor
wie ein Vogel, den man noch mit gebundenen
Flügeln herumflattern läßt, bis man ihn hinein-
sperrt. Sie wurden von einer weichen linden
Hand gebunden. Es tat gar nicht weh, es tat
eigentlich wohl. Gewiß, gewiß, — aber sie sind
gebunden. Er könnte sie wohl lieben, diese Hand,
und die, der sie gehört. Vielleicht liebt er sie
sogar in Wirklichkeit.
Je tiefer er darüber ins Nachdenken gerät,
desto bestimmter glaubt er zu missen, daß ihni
Leontine ganz und gar nicht gleichgültig ist. Und
wenn es nicht sie ist, wird ja doch einmal eine
andere kommen, der er leichtsinnig und ohne jede
Überlegung seine Freiheit, sein Leben schenken
wird. Wäre es nicht besser, dies jetzt zu tun?
Wie würde diese andere anssehen, die mehr Glück
haben und der es gelingen wird ihn zu über-
rumpeln? Man könnte fast Angst haben vor
all dem. was einen, noch bevorsteht. Wir. sind
ja keine Stunde davor sicher uns zu verlieren
und etwas zu begehen, das nicht mehr aus der
Welt geschafft werden kann. Nur jetzt nicl,t, nur
jetzt nicht, — die Nacht ist so schön, so schön, —
mit einem einzigen Schwung meint nian sich über
den schwarzen See heben zu können, meilenweit
in einer einzigen Nacht, und am Morgen ist man
mitten unter tausend neuen Menschen. Wieviele
Herzen schlagen mir entgegen, ohne daß sie es
wissen? Ebenso unwissende, zitternde, erwartungs-
volle, wie es das meine ist.
Weiter: der nächste Tag. Er kommt nach
dem Frühstück ins Hotel. Er bringt Blumen.
Die Verkäuferin, die ein so hübsch gebrochenes
Deutsch spricht, hat sie ihm mit Blicken gebunden,
als ob sie sagen wollte: der ist für inich erledigt.
Leontine schreitet durch die Tür. Verschwärmte,
dunkle Augen empfangen ihn, beseligte, besitzende:
du bist mein! Sie müssen manche Stunde der
Nacht offen gewesen sein, Schatten liegen unter
ihnen. Was mag sich Leontine die ganze Nacht,
bald Schlaf suchend, vor Ermüdung, bald ihn
vern,eidend, da sie doch ihre Gedanken festhalten
wollte, für Bilder gebaut haben? Vom heutigen
Morgen an Wochen, Monate und Jahre hinaus,
— ein ganzes Leben sich gestaltend an seiner
Seite, nur Glück sehend, leichtfüßig über alle
kleinen Verdrießlichkeiten, über alle unvermuteten
Schwierigkeiten grauer, trüber Tage hüpfend.
Und im Laufe des morgigen Tages wird er
mit der Mutter sprechen. Der Bruder wird alles
erfahre». Der wird stolz sein, nun zu ihm du
sagen zu können, und froh, einen Schwager zu
haben, der seine Dummenjungenstreiche gutmütig
mitmacht. Im Laufe des Tages wird es sich
weiter geben, daß er mit Leontine Arni in Arni
durch die Stadt geht, am Hafen herumstreift, zu
dem man schließlich aus all den kleinen, dunkle»,
gekrümmten Gaffe» immer wieder herausschreitet,
den Blick auf einmal von hohen Häusern, von
Fenstern und Pflastersteinen befreit und in die
blaue Weite losgelassen. Die wälschen Mädchen,
die hier zu zweit und dritt in unermüdlichem,
wichtigsten Geplauder flanieren, und denen er
mitten in ihre lebhaften Gespräche hinein oft ein
leichtes, lustiges Wort zuwarf, werden ihn nicht
mehr mit ihren weißen, blanken Zähnen anlachen,
werden ihni das Wort nicht mehr keck erwidern,
ihni lächelnd über ihre Schulter nachblicken und
sich im geheimen darauf freuen, daß er ihnen
wieder in den Weg trete. Er ist gestrichen, er
geht Arm in Arm. Nicht lässig und niit einer
ihresgleichen. Vornehm und solid, mit einer
Fremden, die wirklich zu ihm gehört. Verhei-
ratet, verlobt, — gleichviel. Er war ein Schwind-
ler. Wenn er eine Frau oder Braut besitzt, was
lachte er uns an? Sie werden ihm Worte zu-
werfen, die armen, schönen, schnellfüßigen Mäd-
chen dieses Volkes, über die er erröten müßte.
In einer Woche will die kleine Familie, Mut-
ter, Tochter und Sohn, abreisen, nach dem Nor-
den zurück. Das werden für Leontine noch sieben
Tage himmelblauesten Glückes sein. Man wird
viel von der Zukunft sprechen, die Mama wird
sich hineinniengcn, die Gespräche werden sich bald
um Wohnung, Möbel und Dienstboten, um Be-
suche und Polterabend, Hochzeitsreise und Ber-
mählungsanzeigen drehen. O Gott, o Gott, o
Gott! — Diese warme, geheimnisvolle, dunkel
funkelnde Nacht!
Und in sieben Tagen begleitet er seine Braut,
die Mama und den Bruder zum Bahnhof. Er
bleibt noch hier und Leontine wird es wahr-
scheinlich unbegreiflich, rücksichtslos, rätselhaft fin-
den, daß er sie allein reisen lasse. Aber das ließe
er sich nicht nehmen. Er bleibt noch eine Woche
hier und kann nun ruhig Nachdenken, ohne daß er
darin täglich zwölf Stunden lang von ihr be-
einflußt wird. Aber die Woche wird nicht ewig
dauern, wie er sich das gedacht hat, und dann
ist auch er zuhause.
Dann kommt das tägliche Beisammensein.
Und dann rückt die Stunde immer näher, und
zum Schluß wird er statt in seiner bisherigen
Wohnung, die so feierlich einsani und von einer
stummen Nachgiebigkeit ist, wie ein vornehmer,
treuer, alter Diener, in einer unangenehm neuen,
blitzblank nusgestatteten sein, in der kleine, schmale
Frauenfüße über die Teppiche huschen, die Türen
aber umso geräuschvoller geöffnet und geschlossen
werden, — und ein anderer Wille wird neben
dem seinen inaßgebend und bald überhaupt stärker
sein, als sein eigener, der in der alten, stillen,
verlassenen Wohnung zurückblieb. Und wenn er
in seinem Zimmer sitzt und einmal recht froh ist,
wieder allein zu sein, streicht eine liebkosende
Jos. Faßnacht (München)
Hand über seinen Kopf, verschließen warme Fin-
ger seine Augen, ein Frauenkörper, den er —
ach! — so gut und gründlich kennen wird, drängt
sich an den seinen, ein Duft fließt um ihn,
der ihn weich und schwach macht. Und wenn er
auch gerade zu dieser Stunde im Innersten kühl
und stark bliebe, — Zärtlichkeiten werden gegeben,
»m erwidert zu werden.
Er wird nie allein sein, wenn er es möchte.
Kinder kommen, — das Leben wird so voll, daß
man keine leere Stunde mehr haben wird, keine
Zeit »lehr, in der nichts liegt als diese berückend
schöne, schweigsame, einen erwartende Leere, die
inan nach Wunsch und Verlangen erst füllen niuß.
Das wird er nicht mehr können, so wie jetzt.
Denn käme wirklich einmal eine solche Stunde
über ihn, so wird er traurig sehen, daß er diese
Kunst verlernt hat, daß er diese Lücke mit nichts
inehr ausfülleii kann, — es sei denn der Schmerz,
mit dem man etwas Verlorenem nachsieht. Und
iiicht einmal der wird sich einstellen. Denn man
rauft sich mit Sorgen herum, und erführt, daß
es ja doch keinen einzigen Menschen geben kann,
mit dein man in allem und jeden, ein Einver-
nehmen besitzen würde. Die Kinder werden groß,
Lärm und Unruhe treten in sein Leben und ver-
lassen es nicht mehr, in dieses Leben, das jahre-
lang vvii tiefer, heimlicher Ruhe war, und dem
danii jede Möglichkeit genommen sein wird, will-
kürlich sich zu wendeii, zu steigen, zu fallen. Nicht
einmal vernichte» dürfte er es. Es wird seine
Bahn haben, eine gerade, glatte Bahn, auf der
inan das Ende als einen fernen Punkt sieht, wie
den Punkt, in dem sich zwei Schienen treffen,
die durch flaches, weites Land laufen. Es gibt
kein Abirren aus solchem Geleise. Das wäre
eine Katastrophe. Er haßt Katastrophen.
Die beiden zupfe» noch immer an ihren Instru-
menten. Er wundert sich, daß sie noch hier sind.
Er hat sie ganz vergessen, gar nicht mehr gehört,
als ob einer seiner Sinne ausgeschaltet gewesen
wäre. Der eine fängt jetzt gar ein italienisches
Liebeslied zu singen an. Leontinens Hand wartet.
Die seine ist reglos und kalt. Er fühlt kein
Zucken mehr im Arm, i» den Fingern, dieses
lockende, warme Stück Körper, das sich von dem
weißen Kleid ganz dunkelbraun abhebt, zu be-
rühren. Ein Blick streift ihn. Er ist traurig und
voll der Borwürfe. Er sagt ihm vieles, aber
er weiß dies alles. Er ist froh, daß er auf diese
stummen Fragen, auf diese Anklagen keine Ant-
wort zu geben braucht, und denkt sich gleichzeitig,
wie merkwürdig dies sei, daß mmi nur Worte
zu beantworten habe und jede andere Sprache,
so eindringlich sie auch sein nmg, als nicht vor-
handen betrachten könne. Sie will doch, daß ich
rede. Aber er schweigt, ©ein Mund schweigt,
seine Hand schweigt. Nun schweigt auch endlich
der Sänger und geht von Tisch zu Tisch, um
abzusammeln. Man beginnt wieder zu sprechen,
nach einer kleinen Pause. Es ist, als ob sich
alle erst recht besinnen müßten auf die Wirklich-
keit. So stark wirkte der stille Abend, das Ge-
zirpe der Saiten, die Stimme des Sängers, das
Schwirren der kleinen Tiere, die an die Bogen-
lampen stießen.
Er schlügt einen leichten, lustigen Ton an,
wie aus einem schweren Traum erwacht, den
man für ein Erlebnis hielt und der ja doch nur
ein Traum war, wieder frei geworden und be-
weglich. Leontine ist stumm, er muß sich an die
Mutter, an den Knaben halten, der ihm aus-
nehmend gefällt, und zu dem er ein steigendes
Gefühl wirklicher guter Freundschaft empfindet.
Der Knabe geht, als ob nicht das mindeste ge-
schehen wäre, auf seine Gedanken und Einfälle
ein. Es war ja nur ein ganz heimliches, unsicht-
bares Geschehen. Nur die zwei wissen davon,
kein anderer.
Noch kommt ein schweres Stück: der Heim-
weg. Natürlich geht er mit Leontine, die Mutter
und der Bruder voran. So war es ja immer.
Aber sonst war dies ein schöner, stiller Abschluß
sonniger, bewegter Tage. Man ging in einer
angenehmen Müdigkeit, man empfand sich nahe
und zugehörig, man streifte mit manchem Worte