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Bon Georg Hirschfeld

Der Tisch war immer gedeckt. Man erinnere sich an diesen idealen
Mittagstisch: Zn jeder Stunde konnten die Gäste kommen, einander und der
Wirtin unbekannt, ohne Erlaubnis, ohne Gebühr, und dafür umso freier im
Unerlaubten, Ungebührlichen. Hingeflegeltsein, soweit als möglich ausgestreckte
Füße, welche die sittsamen Füßchen der Wirtin zerstießen, räkelnde Anne, die
zwei Plätze für ein Individuum beanspruchten, Zähnestochern, mangelhafte Aus-
dünstung, Spucken sogar — cs waren nationale Eigentümlichkeiten, die in
„Kauf" genommen wurden. Oh, welch ein Kauf, teuerste Wirtin! Dir ist ja
nie etwas bezahlt worden. Jetzt hast Du den Betrug gemerkt, und Deine Gäste
haben es bei Dir verspielt. Der gewaltigste Hinauswurf erfolgte, rind nun
kommt das Nachdenken.

Diese Zeit schmeichelt nicht. Aber ließ sich eine tüchtigere Wirtin denken,
als Mritter Germania? Sie hat höchstselbst in der Küche gestanden und gekocht,
und der Schweiß ist ihr unter deni Eichenkranz über das gute Gesicht gelaufen.
Darm, wenn das Essen fertig war, hat sie es noch zu stairde gebracht, sich ins
„Gesellschaftskleid" zu werfen und als liebevoller Dolmetsch zwischen ihren
bunten Pensionären zu sitzen, ohne daß die Schmausenden merkten, daß diese
geduldete Bescheidenheit nicht nur über die Dinge sprach, sondern sie auch
geschaffen hatte. Die Gäste mußten cs wohl, aber sie waren immer groß im
„Nichtmerken". Doch vor allem verstanden sie es nie, daß ihre Anerkennung
unnötig war. Das eigentlich Produktive des großen Mittagstisches blieb ihnen
verschlossen, eben weil es nur ein Mittagstisch für sie war. Sie fraßen sich an
der Seele der Frau vorbei, die für sie gekocht hatte. Sie langten mit plumpen
Händen über die Triebkraft des Hauses fort, um etwas Pfeffer zu ergattern.
Sie hatten keine Ahnung vom Deutschen.

Und kamen doch jahraus, jahrein, zu Tausenden, zu Hundertlausenden.
Bon den Egoismusinseln der Nordsee, aus dem morschen Paris, aus dem
brandigen Rußland und weit von den falschen Märchengestaden des „fernen
Ostens". Sie kamen mit einem Eifer, der Verständnis vorspiegeln konnte. Be-
sonders einer so gutherzigen Wirtin, die nicht etwa töricht war, sondern viel zu
weise in ihrem Schillerglauben an die Menschheit. Wer darf eine wahre Mutter
„dumm" schelten? Sie opfert denen, die sie schützt und aufnimmt. Sie kann
nicht anders, es ist ihr Muß, cs bedeutet ihre Freude anr Leben. Diese Mutter-
meisheit wird immer mißbraucht — Germania hat in ihren friedlichsten Tagen
nichts anderes erwartet. Sie glaubte nur ein gutes Bett für de» Strom ihres
Reichtums zu brauchen. Sie wollte sich nur ausgeben, weil sie cs „dazu hatte".
Eines freilich hatte sie nie erwartet: Nach dem langen, köstlichen Mahl, das
die Kältesten zu erwärmen, die Fernsten zu vereinigen schien, nach all dem
Lächeln, Nicken, Händedrücken, Geloben, Versichern ein jähes Aufspringen, die
„Serviette" ins geheiligte Gesicht der Wirtin schleudern, die Beiire voti den
Stühlen brechen ntid damit einhauen wollen! Wollen! ... Es kam anders.
Der Gatte der Wirtin und ihre Söhne erschienen. Der Hinauswurf erfolgte,
vier Treppen hinunter — nach draußen, vor das Haus, gehörte der Kampf.

In ihrem stillen Speisezimmer aber, wo cs noch lange nach den (Säften
roch, blieb Frau Wirtin allein. Tränen würgten sie — sie gesteht es ein, denn
sie hat ihre Absichten nicht zu verbergen Biele von denen, die draußen weiter
verhauen werden, hat sie wirklich geliebt. Doch ihr beschämter Schmerz mischt
sich mit steigender Empörung. Sie kann ihre Güte nicht gegen bcn Wunsch
aufrichten, daß Miß Soundso eins auf die zierlichen Klavierfinger bekommen
möge, daß der Herr aus Wilna endlich einmal mit eisernem Besen gereinigt
werde, unb daß der kleine Schtuarotzi Schlitznugwatscha noch schneller laufen
lerne. Denn, wie gesagt, das Nachdenken komnit tiach dem Hinauswurf.
Mutter Germania sitzt allein an ihrem Tisch, nimmt den Eichenkrauz ab und
stützt das heiße, blonde Haupt in die Hand. Ihr Schmerz gcruinnt allmählich
die wahre Richtung. Er folgt mit den Schwingen der Hoffnung dem Manne
unb den Söhnen im Feld. Ihre Gäste aber, die Ntttl Feinde heißen, ziehen
noch einmal an ihrer Erinnerung vorbei. Seltsam verwandeln sie sich in Farbe
und Form. Aber die Träumende weiß, daß sie jetzt wacher ist, als je. So,
wie sie ihr in dieser Stunde erscheinen, sind die Gäste wirklich

Miß Soutidso. Sie kam wegen der deutschen Musik. Sicherlich — sic
hatte keine andere Ursache. Aber das war es eben. Mutter Germania hatte den
Fleiß des zart-strenge» Fräuleins mitleidig bewundert unb hatte sich geschmeichelt
gefühlt, wenn dieser Schwati Beethoven, Mozart und Richard Wagner pries.
Leider entpuppte sich der Schwan als Gans. Warum? Das Bemühen von
Miß Soundso um die deutsche Musik war unzweifelhaft ernst gewesen. Aber
— wie ein Blitz durchfuhr es das Gehirn der zornigen Gastgeberin — halte
die fleißige Miß ein einziges Mal ehrlich nach den Quellen geforscht, aus denen
die deutsche Musik stanuute? War ihr dünkelhafter Gleichmut nicht immer den
bequemsten Weg geschritten? Nicht durch das Volk zur Kutift, sondern von
der Kunst — vielleicht — zum Volke. Es hatte ihr nie daran gelegen, dort
anzukommen, denn sie lernte ja nicht einmal die Muttersprache ihrer augebeteten
Meister. Sebastian Bach hätte englisch mit ihr sprechen müssen. Was sie genoß,
war schließlich nicht mehr als ein Rausch der Tiefe und Größe. Was ihr Strebet,
sich aneignete, konnte nur die Befriedigung heimatloser Kraftsinne sein. Mutter

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MAX FELDBAUER (MÜNCHEN)
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