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Germania erinnerte sich, wie unlösbar ihr
immer der Widerspruch gewesen zwischen den
Titan-Geschöpfen Shakespeares und dieser
Baumwollhändlerstochter, dieser Erbin.

2a, sie erinnerte sich . . . Plötzlich sah sie
auch den Herrn aus Wilna wieder, wie er zu-
erst an ihren Tisch gekommen. Er brachte den
melancholischen Zauber der Steppe mit, er schien
auf seinen Schultern das blutige Kreuz der
Unterdrückung zu tragen. Gierig sog sich sein
schmiegsamer Geist an deutsche Bildung an.
Man konnte ihm glauben, dnß er in einem
groß geordneten Staatswesen lernte, was die
ersehnte Freiheit war. Seine Unruhe war
schön, seine Trauer wurde getröstet, wo sie
sich zeigte. Die saubere Wirtin trug es ihm
nicht nach, daß er ihr alle Möbel mit Zigarelten-
asche beschmutzte, und den undefinierbaren Ge-
ruch, der ihm anhaftete, entschuldigte sie damit,
daß er von „Zuchten" stammen müsse. Ihr
jüngerer Sohn, der ein Künstler war, erglühte
für die Dichterwerke, die der Herr aus Wilna
mitbrachte. Ehrfürchtig sah sie deshalb in
diesem schwarzen Studeutenkopf den Bolks-
gcist Tolstois, Dostojewskis. Nun aber —
was geschah? Der jüngere Sohn vergaß seine
ganze Begeisterung für Dichterwerke — wäre
ihni kein Säbel zur Hand gewesen, er hätte
auch mit den Büchern Dostojewskis und Tol-
stois auf den Herrn aus Wilua eingehauen.

So konnte also jede Wühlmaus des Ostens
nicht unter dem Schutze ihrer Genies leben.
Und die schöne Melancholie — jetzt hielt man
sich nicht mehr dabei auf. Ein Spiel mit der
Freiheit gab es in Deutschland nicht. Der
Rausch des Herrn aus Wilna entstaminte
weniger einer guten Sehnsucht, als der Schuaps-
flasche. Warum blieb er noch immer das Opfer
von Väterchen Zar?

Unheimlich aber wurde es Mutter Ger-
mania bei der Erinnerung mi den kleinen,
au das seltsame Spielzeug aus dein „fernen
Osten", das sie wahrhaft als ihr Schoßkind
betrachtet. Hatte sie den lieben Schmnrotzi
Schlitzaugwntscha nicht an, wenigsten gekannt?

Es war ihr jetzt, als hätte sie lange Zeit ein
gelehriges Äffchen im Zimmer gehabt, das heim-
lich lauschen und schauen konnte, wie ein Mensch.
Es hatte so unschuldig gegrinst zu aller Aner-
kennung seiner Kunststücke. Es war so betroffen
gewesen, wenn deutsche Phantasie von den
Kirschengärten seiner Heinint ruid den Farben-
wunder» seiner Künstler schwärmte. Dann über-
dachte cs sich: Nun, schwärmt nur — das kostet
mich nichts. Ich stecke mir derweile praktische
Sachen ein. So erkletterte das Äffchen die höchsten
deutschen Bäume. Seine Wirli» sah zu und lobte
die Geschicklichkeit. Bis es Nüsse uiid Aste voii
oben hagelte— urplötzlich, aus feiger Verwegen-
heit. Aber unten wird nicht über Daiik und Uu-
dnnk nachgedacht. Ei» wohlgezielter Schuß kann
auch das schnellste Äffchen herunterholen.

Selten kamen an den Tisch der Wirtin Gäste
aus dein Westen. Deniioch fühlte sie, daß sie an
solche immer um meisten gedacht. Sie wußte von
ihnen, was jene nie von ihr gewußt. Deshalb
verkannte sie Gleichgültigkeit als Stolz, Beschrän-
kung als Kulturherrengefühl. Nichts macht doch
ungerechter gegen den Kern des eigenen Ich, als
die Sehnsucht nach fremder Gebärde. Seufzend
erkannte das Mutter Germania, als sie der Leute
im Westen gedachte, deren Bücher und Kleider
sie geliebt, die sie als Tänzer des Daseins ge-
sehen, von Gott um ein himmlisches Bruchteil
leichter geschaffen. Gern blieb sie die plumpe
Bärin, denn sie wußte, was Leichtigkeit war.
Nun aber — der unglücklich Geliebte drüben griff
zum zweitenmal nach ihren Jungen? Er strafte

Neue Blüte

Mährend des Rrieges schweigen die Musen.
lüot)l, sie schweigen, doch sd)>u»imern sie nicht.
Machst nicht schweigend rur 5onne die Rose,
Bis über Nach! die Knofpe bricht?

Meise führt uns in wechselndem Spiele
Zu den Sternen der Gottheit Gunst:

Reue Cat erblüht aus den Riinften,

JTus den (Taten blüht neue Runft.

Karl kttiinger

den Glauben an seine Grazie, an die höhere
Menschlichkeit seiner Kultur schrecklich Lügen unb
kam als offener Raubgast an ihren Tisch? Also
keine Ahnung von der, die ihm immer Grüße
geschickt? Also lieber eine dürre Büß umarmt,
als ein warmes, mächtiges Weib? Gar kein
Widerwille gegen den falschen Melancholiker aus
Wiliia? Gut! Hole der Teufel deine Bücher,
deine Kleider, deine „Leichtigkeit"! Drauf, Iun-
gens! Haut ihn zurück in sein iiiorsches Reich
Arrogantia! Er hat es veidient, denn ich, eure
Müller, wäre beinahe einem echte» Schinerz um
ihn verfallen!

Germania stand auf. Jetzt war der Eriune-
rungstrauni mit seinen Spukgestalten von ihr ge-
wichen. Als Wirtin hniidelte sic weiter, aber nur
noch für die Ihrigen. Ganz allein schob sie den
langen Tisch, an dem so viele Gäste gesessen, zu-
sammen. Er wurde scheinbar kleiner, aber er war
nun völlig ihr Tisch. Daiiu deditc sie lächelnd für
die, die einst heimkommen würden, hungerig »ach
ihren geretteten Gaben. Sie sollte» alle vorhanden
sein — nichts wollte sie zurückhalten. Die Quelle
war ja so wundervoll, daß sie nicht versiegen
konnte. Wenir Granaten und Gewehrkolben
Tiefen aufschlugen, aus denen ein neues Wisse»,
neue Kunst, neuer Arbeitssegen flammen würden!
Die Symbolik der Werte mußte man hinuehnien
in dieser Zeit — ihre Erforschung stand »och aus.
Eine wartende Mutter, ein hoffendes Weib da-
heim wußte bis jetzt nur die alte Gewißheit, daß
vom Eisen gepflügt werdeii inußte, was zartesten
Keim versprach.

SolclLlenblut

Eine Ballade

Horst Klützow, siebzehn Jahr' ist er alt
Und als Fähnrich zur Truppe gestellt
Durch des Kaisers feldherrlich' Gnad' und

Gewalt

Am Tag vor dem Ausmarsch ins Feld.

Der Morgen ist kühl, Niid das Licht ist fahl,
Und der Vortrupp marschiert durch den Tau,
Des Fähnrichs Lippen sind glatt und schmal.
Und seine Aligen sind blau.

Der Marschschritt klirrt, und ein Häher

schreit —

Drei Tage erst zogen iiis Land,

Da stand der Vater im Waffenkleid
Und hielt ihn fest an der Hand.

„So geh', mein Junge, und halte dich gut
Und tu' vor den, Feind deiiie Psticht —
Wir Klützows haben Soldatenblnt,

Alt werden wir Klntzows nicht.

Alt werden wir nicht," und er tastet am Nock,
Da birgt er das Bild einer Fra»,

Weiß war ihre Stirne und blond das Gclock,
Und ihre Augen blau.

Der Marschschritt klirrt, unb Horst Klützow

sinnt:

Oft saß mir die Mutter am Bett,

Gut war ihr Wort, unb die Hand so lind -
lind daiiii — dann war ich Kadett.

Unb ein Häher kräht — und ein Feuer bricht
Mit knatterndem Schlag aus dem Taiiii,
Unb der Vortrupp steht, und der

Hauptmann spricht:
„Freiwillige Späher — fünf Mann!"

Und ein Junker, siebzehn Jahr' ist er alt,
Tritt festen Schrittes mit vor:

Horst Klützow, Fähnrich durd) Kaisers Gewalt,
Und mein Vater bient als Major."

Der Hanptmann zögert mit ernstem Mliiid,
Doch die Augen des Jungen steh'n —

Da nickt der Hanptnian» Gewährung, und
Die fünf Freiwilligen gehn —

Das Schießen wachst, und sie schießen

nicht schlecht —

Ihr Späher, was saht ihr im Tann:? —

Jetzt steht der Vortrupp selbst im Gefecht,
lind Hilfe rückt ihnen heran.

Und die Masse» wachsen hier unb dort,

Unb sie kämpfen mit zornigem Mut,

Unb sie treiben den Feind ans den

Stellungen fort,

lind der Tau ist rot und ist Blut.

Der Morgen ist hell, und der Nebel schwand
Ihr Späher, wann kommt ihr hervor? —

Wir halten den leuchtenden Sieg in der Hand,
Als Helfer kam ei» Major! — —

Viel Marker ruhen mit bleichem Gesicht,

Sind Jugend und Reife dabei —

Von Bülvw, Hnssow uiid Basscwitz
lind von den Klützows — zwei.

2\cul Ros» er
Register
Karl Rosner: Soldatenblut
Karl Ettlinger: Neue Blüte
Ferdinand Staeger: Zeichnung ohne Titel
 
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