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Der -liefe HDuifofij und der Lwerg Schirokij

Als ich am Abend des 3. November den Vlis-
singer Danlpfer in Folkestone verließ und, am
Londoner Zug entlang gehend, ein Abteil suchte
— ich hatte mich nach England geschmuggelt,
weil ich sehen wollte, was die Hauptstadt sämt-
licher Briten über ben Krieg dachte — gewahrte
ich etwas Merkwürdiges. Ich sah durch ein seit
langem nicht mehr gereinigtes Fenster in einen
Wartesaal. Dort bewegte sich eine aufgeregte
Masse von Menschen unter einer Lampe und ein
Mann stand hoch über sie hinaus auf einem Tisch.
Dann dachte ich mir aber gleich: Ein Sonntag-
Hydepark-Prediger. . . und wollte in den Zug
steigen.

In diesem Augenblick kamen zwei englische
Soldaten aus dem Wartesaal, mit lachenden Ge-
sichtern, rückten an den zahllosen Lederbehängen
über ihrer Uniform und einer warf das Wort
hin: Blutiger Verrückter! . . .

Da sah ich noch einmal hin im Gedanken,
da drinnen auf dem Tisch geschähe etwas Mensch-
licheres, als die Predigt eines Hydepark Christen.

Die Tür war hinter den Soldaten offen ge-
blieben. düstern Lampenlicht hoch aus der
Schaar Menschen heraus ragte die Gestalt ganz
unbeweglich. Sie sprach ja nicht. Ich ging zur
Tür. Auf der Gestalt auf dem Tisch saß ein
ungeheurer Kopf, ein Kopf, der so groß und dick
war, wie ein runder Kachelofen. Ein mächtiger
Zylinderhut hockte drauf. Ich warf meine Reise-
tasche auf eine Bank in den Wagen und ging
rasch in den Wartesaal. Ich trat auf die Menschen
zu, sah wie der Kopf immer größer wurde. Ich
bemerkte keine Beine des Mannes auf dem Tisch.
Cr war nur wie ein plumpes Gestell über die
andern erhoben.

Was für ein blöder Scherz! dachte ich mir.
Es ist eine Fastnachtspuppe! Das ist englisch:
sie lassen drüben Blut fließen und machen hier
ihre idiotischen Maskeraden. Aber da nickte der
Kopf. Er nickte ganz schwer und faul. Ich er-
schrak. Ich zwängte mich durch die Menschen
durch. Ich sah den Kopf hoch über mich sich
niederneigen. Eine Nase wie eine weiße Rübe
hing unter dem Rand des Zylinderhuts. Kleine
Augen schauten blau und schwammig herab. Der
Mund sprach wie in einem wesenlosen Baß. ganz
weichlich und trag, und unverständliche Worte.
Es war ein Mensch, der dort stand.

Er stand auch nicht auf einem Tisch. Er ftatib
auf seinen Beinen. Er war ein Riese. Er maß
einen Meter mehr als der Größte von uns, und
es waren in der Versammlung einige pappelhafte
London Scotch. Er muß fast drei Meter hoch
sein. Sein Körper stand da wie ein riesenhafter
Sack, schwer, breit, willkürlich geformt, mit einem
ausgekrümmten Rückgrat. Ich drückte mich ganz
durch. Ich fragte ihn auf Französisch.

„Ich bin der Riese Wuisokij!" antwortete der
wesenlose Baß aus dem trägen Mund droben
und die blauen kleinen Augen schauten wehmütig
zu mir herab. Sonst machte dies unwahrschein-
liche Gestell keine Bewegung. Auf einmal fuhr
ein Balken von einem Arm, so als ob er nicht
zum Körper gehörte, sondern etwa dort hinten
über der Tür in der dunklen Ecke angewachsen
wäre, langsam und faul zum Zylinderhut. Er
hob ihn von einem blonden Gestrüpp ab und

setzte ihn nieder auf einen Stuhl, der vor ihm
in die Menschenmenge eingeklemmt stand.

Kaum aber lag der Hut auf dem Stuhl, als
jener in eine schaukelnde Bewegung geriet. Er
ruckelte hin und her, während, wie aus einem
Rohr, kleine jämmerliche und böse Schreie drunter
ertönten.

Da setzte sich auch das blasse schwanuuige
Gesicht, das so groß und leblos wie eine ge-
kalkte Tür war, in Bewegung. Schwerfällige
fette Falten kämen hinein. Die Augen kniffen
sich zu. Die Tür lachte wie ein Brei. Der Mund
sagte leis und fettig: „Oh, pardon!“ Der Balken
des Arms hob den Zylinderhut wieder vom Stuhl
und da saß drunter ein Männchen mit einem
weißen Bart und ohne Arme. Das Männchen
war so groß wie mein Arm. Es hockte wie ein
angebundener Spaß auf dem Stuhl, der dicht in
die Menschenmasse eingeklemmt war, sodaß bis
dahin nienmnd den Kleinen gesehen hatte. Das
Männchen schimpfte mit einem flötenden Schnabel.
Die Tür des Riesengesichts beugte sich über ihn
hernieder, wie eine Wolke, und sagte träg und
scherzend: „Kusch. Zwerg Schirokij!"

Der russische Riese Wuisokij und der serbische
Zwerg Schirokij. Im Bahnhof von Folkestone,
von wo die einzigen Züge von Mitteleuropa nach
London, dem Heizkessel des großen Kriegs fuhren.
Der Krieg hatte den Riesen und den Zwergen
aus Deutschland vertrieben; es war kein Ver-
langen dort nach Schaubuden. Der Krieg hatte
sie aus Belgien vertrieben; denn die Kanonen
machten dort die Kirchweih. Der Krieg hatte üe
aus Frankreich vertrieben; denn den Franzosen
stand der Sinn nicht nach Kirmeß und Kuriosität.
Nun fuhren Riese und Zwerg nach London, das
dies Kirmeßvolk brauchte, um seine flatternd ge-
wordenen Nerven zu beruhigen.

Wie ein Spuk saßen die beiden „Alliierten":
Riese und Zwerg im Wartesaal in Folkestone,
wie ein Spuk, den der Krieg aus einein un-
wahrscheinlichen Winkel aufgescheucht hatte.

Norbert Iacgucs

Biareille

3\\s Du ein Rnabe warft, da zog in Deinen (Traum
Gin waNenzug durch graue Drückenbogen,
Und Wimpel halterten mit goldnem 5aum,
Die sich in graue llbendwolken Hoben.

Da Halt du wachend diesen Craum umwoben
Mit all' dem glanze, dem die Jugend gilt,

Gs waren Hohe Streiter mitgezogen,

Die Dir verwandt in Blut und Bild.

Der Morgen kam. wo Dir das Leben schwand,
Das Dich umglüht in zahllos stolzen Jarben,
JFTuf Deinem Herzen lag ein rotes Band
gleich lichten Nelken, die im winde starben.

Nun wiegt die Grde Dich im Kühlen (Traum,
gelassen sinkt die Nacht auf Zchmerz und Eod
Da ziehet ernst durch sommermüden Baum
Gin wassenzug ins letzte Abendrot.

Lothringen, 12. l 15. Gmll Danner

z. Zt. im leide
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