DOI Heft:
Nr. 25
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.4212#0461
Munitionsnachschub in den Karpathen
Alfons Purtscher (München)
zuletzt Midi vom Njemen machten Sprengung der
Weichsellinie vorerst aussichtslos. Ohne langes
Besinnen gruppierte sidi Hindendurg vom redtzen
Flügel herum, maskiert durch heftiges Rückzugs-
gefecht der Landwehr bei Rawa. 2m Flußwiukel
der Warthe lauerte sein genialer strategischer
Rückzug auf Blößen des russischen Vormarsd,es,
Wiederum stimmt nicht, daß Reuneukampf den
Großfürsten uidjt durch starke Diversion unter-
stützte. Radidem er sich Mitte Oktober erholte,
mußten die sthwad>en deutschen Kräfte vorr Ossowic
bis Arlgustowo zurückweidien, dod> Masienein-
brud) nordöstlid) voir Goldap endete am 4. No-
vember mit schrecklicher Niederlage bei Rominten.
Kaum sah so Hindendurg seine Linke frei-
gemad>t, als er mit erneut veränderter Taktik
fid) eng zusammenballte und ein altnapoleonisches
zentrales Durchbrechen anordnete. Die über-
raschend bei Wloklawek über den Haufen ge-
raunte russische Aiitte barg sid> hinter der Bsura,
dod) ihre südlid>c Linke schwenkte auf Lowitsch ein.
Bei dieser kunstvollen Operation wechselten
Linke und Rechte Hindenburgs im Angriffsver-
fahren ab. Da er im Oktoberrückzug planmäßig
alle Bahn-, Telegraphen- und Straßenverbindungen
zerstörte, fehlte den ungefügen russischen Massen
jede Manöverierfähigkeit. Ihre Mitte flog erneut
wie durd) Fußtritt eines Riesen auf Warschau
zurück, ihre Südgruppe wurde, während sic auf
Lowitsch umsassen wollte, abgesprcngt. Diesmal
setzte man den Stoß nidjt füböftlid) über Opatow
an, die weite Ausdehnung in Ridituug Iwangorod
blieb aus, dagegen uähcrle mau ftri) durd, die
Schlacht bei Sochatschew unmittelbar aus Westen
Warschau, während Mackensen am nördlichen
Ufer nordwestlich auf Plonsk herabstieß. Da die
Russen trotz ungeheurer Verluste beständig ihre
Reihen neu füllten und infolge abscheulicher Wit-
terung nach Neujahr das endlose Ringen von
Mount zu Monat abflaute, vcrziditete Hindendurg
auf weitere Offensive und leitete mit gleicher Sicher-
heit einen defensiven Positionskrieg. Es galt,
die eignen Truppen sdionend, den Feind zu nutz-
losen Ausfällen zu verlocken, was diesem die Un-
behaglichkeit seiner mit dem Rücken zur Weichsel
zusammengepreßten Stellung aufzwang, und ihn
so allmählidi zu zermürben. Warsdiau muß wie
eine reife Frucht in den Schoß fallen. Dabei
hielt der große Feldherr aber stets sein Auge offen,
wo etwa ein Offensivschlag zu führen sei. Während
mau ihn an die Weidisel gefesselt wähnte, stand
er plötzlich mit einem Sprunge in Masurien da
und bereitete dort der neuen Wilnaarmee ein neues
Tannenberg mit einem völlig unbemerkt heran-
gezogenen Reseroeheer, dessen Verschleierung und
jäh überraschendes Vorschiebeu mit allseiliger Um-
fassung wieder zu seinen Meisterstücken gehört.
Ob das erneute Zurückschleudern der Russen zum
Njemen die Möglichkeit gewährt, in der Lüche
zwischen Warschau-Georgiewsk und Grodno durch-
zustoßen und so die Weid)sellinie ganz nördlich
zu packen, oder ob Umgruppierung südöstlidi er-
folgt, um ouri) dort den anderen ruffifdjen Flügel
auszuhängen?
Jedenfalls tritt uns beim Überblick dieser Stra-
tegie ein Reichtuin der Formen entgegen, wie
kaum in Napoleons bedeutendsten Feldzüge».
Dieser Virtuose zieht das ganze Register der
Kriegsorgel, Toute la lyre. Konzentrische Um-
fassung oder Zentrumstoß, auseinanderziehen oder
zufammeuballen der Front, alles wird jeweiligen
Umständen angepaßt, nirgends au angelernter Me-
thode haftend, mit souveräner künstlerischer Frei-
heit jede Schablone fernhaltend. Dem Kenner
aber entgeht nirijt, daß hier die wahren Gesetze
der Kriegskunst durchaus in Napoleons Sinne
festgehalten werden, von Moltkcs angeblich allein-
gültig für moderne Verhältnisse zugeschnittcnem
System gründlich abweichend. Nirgends gibt es
hier exzentrische Anmärsche getrennter Heere, die
Bereinigung zur Schlacht geschieht stets vor, nicht
„in," Feind, der Aufmarsch bleibt in lückenlosem
Zusammenhang. Der Fuudameutalsatz des rasche»
Zusammeuraffeus aller Hauptkraft am Entschei-
dungspunkt unter Preisgabe aller Nebeupuukte
wird aufs äußerste getrieben, denn die späteren
russischen Einbrüche in Ostpreußen hätte man ver-
mieden, wenn man sich schwächlich teilte und alles
dcdren wollte. Diese echtuapoleonische Kriegführung
sieht immer die Dinge im Großen, ohne dabei die
Einzelheiten zu vergessen, die jedoch stets dem stra-
tegischen Hauptzweck untergeordnet werden, und
dieser Hauptzweck wechselt und) der Lage, da solche
biegsame Geschmeidigkeit freier ungebundener Auf-
fassung nie starr an vorgefaßtem Plaue festklebt,
sidi nie in eine bestimmte Absicht verliebt, sondern
467
Alfons Purtscher (München)
zuletzt Midi vom Njemen machten Sprengung der
Weichsellinie vorerst aussichtslos. Ohne langes
Besinnen gruppierte sidi Hindendurg vom redtzen
Flügel herum, maskiert durch heftiges Rückzugs-
gefecht der Landwehr bei Rawa. 2m Flußwiukel
der Warthe lauerte sein genialer strategischer
Rückzug auf Blößen des russischen Vormarsd,es,
Wiederum stimmt nicht, daß Reuneukampf den
Großfürsten uidjt durch starke Diversion unter-
stützte. Radidem er sich Mitte Oktober erholte,
mußten die sthwad>en deutschen Kräfte vorr Ossowic
bis Arlgustowo zurückweidien, dod> Masienein-
brud) nordöstlid) voir Goldap endete am 4. No-
vember mit schrecklicher Niederlage bei Rominten.
Kaum sah so Hindendurg seine Linke frei-
gemad>t, als er mit erneut veränderter Taktik
fid) eng zusammenballte und ein altnapoleonisches
zentrales Durchbrechen anordnete. Die über-
raschend bei Wloklawek über den Haufen ge-
raunte russische Aiitte barg sid> hinter der Bsura,
dod) ihre südlid>c Linke schwenkte auf Lowitsch ein.
Bei dieser kunstvollen Operation wechselten
Linke und Rechte Hindenburgs im Angriffsver-
fahren ab. Da er im Oktoberrückzug planmäßig
alle Bahn-, Telegraphen- und Straßenverbindungen
zerstörte, fehlte den ungefügen russischen Massen
jede Manöverierfähigkeit. Ihre Mitte flog erneut
wie durd) Fußtritt eines Riesen auf Warschau
zurück, ihre Südgruppe wurde, während sic auf
Lowitsch umsassen wollte, abgesprcngt. Diesmal
setzte man den Stoß nidjt füböftlid) über Opatow
an, die weite Ausdehnung in Ridituug Iwangorod
blieb aus, dagegen uähcrle mau ftri) durd, die
Schlacht bei Sochatschew unmittelbar aus Westen
Warschau, während Mackensen am nördlichen
Ufer nordwestlich auf Plonsk herabstieß. Da die
Russen trotz ungeheurer Verluste beständig ihre
Reihen neu füllten und infolge abscheulicher Wit-
terung nach Neujahr das endlose Ringen von
Mount zu Monat abflaute, vcrziditete Hindendurg
auf weitere Offensive und leitete mit gleicher Sicher-
heit einen defensiven Positionskrieg. Es galt,
die eignen Truppen sdionend, den Feind zu nutz-
losen Ausfällen zu verlocken, was diesem die Un-
behaglichkeit seiner mit dem Rücken zur Weichsel
zusammengepreßten Stellung aufzwang, und ihn
so allmählidi zu zermürben. Warsdiau muß wie
eine reife Frucht in den Schoß fallen. Dabei
hielt der große Feldherr aber stets sein Auge offen,
wo etwa ein Offensivschlag zu führen sei. Während
mau ihn an die Weidisel gefesselt wähnte, stand
er plötzlich mit einem Sprunge in Masurien da
und bereitete dort der neuen Wilnaarmee ein neues
Tannenberg mit einem völlig unbemerkt heran-
gezogenen Reseroeheer, dessen Verschleierung und
jäh überraschendes Vorschiebeu mit allseiliger Um-
fassung wieder zu seinen Meisterstücken gehört.
Ob das erneute Zurückschleudern der Russen zum
Njemen die Möglichkeit gewährt, in der Lüche
zwischen Warschau-Georgiewsk und Grodno durch-
zustoßen und so die Weid)sellinie ganz nördlich
zu packen, oder ob Umgruppierung südöstlidi er-
folgt, um ouri) dort den anderen ruffifdjen Flügel
auszuhängen?
Jedenfalls tritt uns beim Überblick dieser Stra-
tegie ein Reichtuin der Formen entgegen, wie
kaum in Napoleons bedeutendsten Feldzüge».
Dieser Virtuose zieht das ganze Register der
Kriegsorgel, Toute la lyre. Konzentrische Um-
fassung oder Zentrumstoß, auseinanderziehen oder
zufammeuballen der Front, alles wird jeweiligen
Umständen angepaßt, nirgends au angelernter Me-
thode haftend, mit souveräner künstlerischer Frei-
heit jede Schablone fernhaltend. Dem Kenner
aber entgeht nirijt, daß hier die wahren Gesetze
der Kriegskunst durchaus in Napoleons Sinne
festgehalten werden, von Moltkcs angeblich allein-
gültig für moderne Verhältnisse zugeschnittcnem
System gründlich abweichend. Nirgends gibt es
hier exzentrische Anmärsche getrennter Heere, die
Bereinigung zur Schlacht geschieht stets vor, nicht
„in," Feind, der Aufmarsch bleibt in lückenlosem
Zusammenhang. Der Fuudameutalsatz des rasche»
Zusammeuraffeus aller Hauptkraft am Entschei-
dungspunkt unter Preisgabe aller Nebeupuukte
wird aufs äußerste getrieben, denn die späteren
russischen Einbrüche in Ostpreußen hätte man ver-
mieden, wenn man sich schwächlich teilte und alles
dcdren wollte. Diese echtuapoleonische Kriegführung
sieht immer die Dinge im Großen, ohne dabei die
Einzelheiten zu vergessen, die jedoch stets dem stra-
tegischen Hauptzweck untergeordnet werden, und
dieser Hauptzweck wechselt und) der Lage, da solche
biegsame Geschmeidigkeit freier ungebundener Auf-
fassung nie starr an vorgefaßtem Plaue festklebt,
sidi nie in eine bestimmte Absicht verliebt, sondern
467