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herzoglich Sächsischem ©cljcimrat. Das Buch hat
einen solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich
noch jetzt manchmal vom Teufel träume und im
Schlaf stark schwitze. Ich habe also einen dauern-
den Schaden an meiner Gesundheit genommen,
und ich wünsche nicht, daß mein braver Anton
etwas Ähnliches erleben möchte."

Anton hörte dem Vater aufmerksam zu. „Wie
alt uiuß ich denn sein, bis ich alle die schönen
Bücher lesen darf?" fragte er.

„Das richtet sich nach Deiner geistigen Reife,
mein Sohn. Du siehst hier zum Beispiel das
Bürgerliche Gesetzbuch. Es ist ein erhabenes,
geheimnisvolles Iaubcrbuch, ein Wunderwerk des
menschlichen Geistes, in dem die Weisheit aller
Zeiten und Völker eingeschloffen ist, ausgezeichnet
durch herrlichen Inhalt und blühende Sprache.
Nur die Begnadeten, die als Studenten der
Rechtswissenschaft an einer deutschen Fakultät
eingeschrieben sind, erleuchtete Männer in vorge-
rückten Jahren, die in strenger Selbsterziehung
alt geworden sind, dürfen dieses Buch aufschlagen
und bnriu lesen. Ihnen bereitet cs alsdann die
heiligsten Stunden der Andacht und jenen Schatz
von Kenntnissen, mit denen man nach Anleitung
eines sogenannten Einpaukers Rechtsanwalt oder
selbst Oberamtsrichter werden kann. Wer jedoch
allzu früh in kindlichem Unverstand an dieses
Buch herantritt, den befällt ein unheimlicher und
gefährlicher Zustand, den die Wissenschaft „me-
schugge" nennt und aus dem cs keine Rettung
mehr gibt."

Der brave Anton richtete seine großen blauen
Augen auf den Vater. Es schauderte ihm bei
dem Gedanken, daß er jemals das Verbot des
guten Vaters übertreten könne. Er hoffte zwar ini
Stillen, daß mul) er einmal Student werden und
in den Kreis der Auserwählten eintrctcn dürfe,
die in dem Zauberbuch lesen. Er wußte aber,
daß diese Zeit noch fern sei und daß er sich vor-
erst noch gedulden müsse. Inzwischen nahm er
sich vor, weiterhin ein musterhafter Schüler zu
fein und seine lieben Eltern mit guten Noten zu
erfreuen. Er betrarl>tete von nun an das ge-
heimnisvolle Buch mit scheuer Ehrfurcht; er wagte
es nicht, in seine Nähe zu gehen, geschweige denn
es zu berühren.

Nun wohnte in dem selben Gcrichtsgebäude,
in dem der Herr Oberamtsrichter hauste, auch
der Hausbeschließer und
Gerichtsdiener Mehlwurm.

Dieser hatte ebenfalls einen
Sohn, der aber, weil er
weniger begabt war als der
brave Anton, nicht das
Gymnasium besuchte, son-
dern die Volksschule. Er
hieß der böse Friedrich, denn
er war nicht brav und folg-
sam wie Anton, sondern er
beging Streiche, wie sie bei
den Kindern untergeord-
neter Beamten und gewöhn-
licher Leute oftmals vor-
kommen. Er stahl in den
Nachbargärten die Apfel
von den Bäumen, setzte
seinem Lehrer Maikäfer
hinten auf den Rock und
rauchte Zigaretten, sodaß
schon die Damen, die am
Jugendgericht ehrenamtliche
Fürsorgetätigkcit verrichte-
ten, ihr Augenmerk auf ihn
gelenkt hatten. Der Herr
Oberamtsrichter sah es des-
halb nicht gern, wenn der
böse Friedrich mit seinem
brave» Anton spielte. Auch
die Frau Oberamtsrichter
konnte den Friedrich nicht
leiden, weil seine Mutter
an allen hohen Feiertagen
eine Gans oder ein anderes
Flügeltier am Fenster hän-

gen hatte und überhaupt den Hochmut so weit trieb,
daß sie Sonntags sogar mit einem Fedcrnhut
spazieren ging. Weil sie aber mit der Frau
Mehlwurm wegen der Benutzung der Waschküche
und des Trockcnspcichers in Frieden leben mußte,
drückte sie gleichwohl ein Auge zu und duldete
es, daß der böse Friedrich manchmal den braven
Anton besuchte und ihm bei der Herstellung von
Feuerwerk nach eigenen bewährten Rezepten be-
hilflich war. Der böse Friedrich lachte nun den
braven Anton nicht selten wegen seiner Folgsam-
keit aus und streute damit giftigen Samen in
die Seele des arglosen, wohlgearteten Knaben.
Ein altes Sprichwort, das der Herr Oberamts-
richter in dienstfreien Stunden seinen Kindern
häufig predigte, lautet: Böse Beispiele verderben
tjute Sitten.

Auch Anton sollte die Wahrheit dieses Spru-
ches an sich erfahren. Denn als er einftmals
dem Friedrich erzählte, daß ihm eine ganze Reihe
schöner und angenehmer Dinge, wie Biertrinken,
Fenstereinschmeißen und dergleichett verboten sei,
da lachte der Freund ganz dreckig und meinte,
man müsse so was nur heimlich tun, damit nichts
herauskomme und der Alte nichts merke. Dann
könne einem nichts passieren.

Anton horchte auf, als er diese Reden ver-
nahm. In der Einfalt seines Herzens glaubte
er, daß seine Eltern ihm nur aus Sparsamkeit
oder Dummheit die Vergnügungen nicht gönnten,
nach denen er sich sehnte. Er bildete sich fest
ein, sein Vater habe ihm das geheimnisvolle
Zauberbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch, nur ver-
boten, damit es nicht durch Fettflecken oder Esels-
ohren verdorben würde. In seiner Verblendung
schlug er die wohlmeinenden Mahnungen seines
Vaters in den Wind und beschloß, bei der ersten
besten Gelegenheit einmal nachzuprüfen, welche
Bewandtnis es mit der Weisheit aller Zeiten
und Völker wirklich habe. Seine Vermessenheit
ging so weit, daß er sogar glaubte, er werde
durch das Studium des verbotenen Buches den
Schlüssel zu allen Wissenschaften erlangen und
noch gescheiter werden als sein würdiger Lehrer,
Professor Or. Mopp. So frijrediUd) hatte ihn
die Hoffart gepackt, so verderblich wucherte schon
die Giftpflanze, die in ihm aufgegangen war und
durch den bösen Friedrich fortgesetzt genährt und
gepflegt wurde.

Da brach eines Tages das Verhängnis über
den unglücklichen Anton herein. Er saß über
einer quadratischen Gleichung und kriegte sie nicht
heraus. Er strich die Rechnung durch und fing
nocheinmal von vorne an. Es gelang nicht. Er
begann mit den Füßen zu trampeln, stützte den
Kopf in die beiden Fäuste und starrte auf sein
Heft. Er rechnete und rechnete, die Ungeduld
packte ihn, daß er am liebsten das Tintenfaß
gegen die Wand geworfen hätte. Da sä>oß es
plötzlich durch sein Gehirn: Sollte er am Ende
gar im Bürgerlichen Gesetzbuch die Lösung finden?
Sollte dieses Buch, das der Weisheit letzten
Schluß enthielt, feinen armen Schädel erhellen
und ihn auf den Weg der richtigen Lösung führen?

Er sprang auf, zitternd ging er an das Büchcr-
brett des Vaters. Er streckte seine eiskalte Hand
aus, langte sich das Vürgcrliche Gesetzbuch he-
runter, schlug es auf und las: § 164 Abs. 2:
„Tritt der Wille, in fremdem Namen zu handeln,
nicht erkennbar hervor, so kommt der Mangel
des Willens, im eigenen Namen zu handeln, nicht
in Betracht." Anton stieß einen entsetzlichen Schrei
aus! es war ihm, als hätte er mit einer eisernen
Keule einen fürchterlichen Schlag bekommen. Er
wurde schwindelig, das ganze Zimmer drehte sich
um ihn herum, dann stürzte er zu Boden. Seilte
Ettern, die gerade beim Mittagskaffee fafjen,
eilten herbei. Sie schaffte>i ihn in seine Stube
und legten ihn zu Bett. Als er wieder zu sich
kam, schwatzte er verworrenes Zeug und erklärte,
daß er nicht mehr an den Storch glaube. Der
Vater sagte zur Mutter: „Gib dem Anton einen
Löffel Rhizinusöl, das hilft immer!" Die Mutter
war aber dagegen uitd stimmte für einen warmen
Deckel auf den Bauch, >uid weil firi) die beiden
Eltern über die Kur nicht einigen konnten, so
geschah überhaupt nichts. Als nach zwei oder
drei Tagen der Zustand sich nicht gebessert hatte,
beschloß der Vater, der auf 3cidjen und Wunder
vertraute, dem Anton den bösen Geist austreiben
zu lassen, der vermutlich in ihn gefahren war.
Da er als Oberamtsrichter kein Geld hatte, um
einen Arzt zn holen, so ließ er einen großen und
berühmten Zauberer kommen. Dieser Mann war
ein Kollege von ihm, es war der Herr Amtsge-
richtsrat Käsebier, der wirklich wunderbar zaubern
konnte. Er machte großartige Kartenkunststücke,
konnte Geldmünzen verschwinden lassen und holte
in Gesellschaften den Damen
Eier und Apfelsinen aus
Naslöchern. Als er kam
unb in das Zimmer des
braven Anton geführt wur-
de, ging dem Zauberer das
Herz auf über die Denk-
mäler deutscher Kunst, die
er da zu sehen bekam. Sinn-
reiche Sprüche, auf Kisten-'
brettern eingebrannt, hingen
an den Wänden, reizvolle
Lichtbilder mit Ereignissen
aus dem „Trompeter von
Säckingen" zierten die Fen-
ster, Kerbschnitt und Nagel-
arbeit gaben der ganzen
Einrichtung den verklären-
den Schimmer hünftlerifdjer
Ausgestaltung von der Sitz-
gelegenheit bis hinab zum
Nachttopfdeckel. Der Zau-
berer Käsebier begrüßte den
Anton, schloß fid) mit ihm
ein, hieß in aufstehen und
fid) ankleiden. Alsdann zog
er ein zierliches Rohrstöck-
cl>en hervor und sprach:
„Lieber Anton, dies ist mein
Zauberstab!" Die Eltern, die
ängstlich und besorgt vor der
Türe standen, hörten als-
bald, dahAnton ein fürchter-
liches Geheul und Gebrüll
anstimmte, und nickten fid)
bedeutungsvoll zu, weil sic

Besorgt

„Bevor De Dir noch weiter hinaus tränst, Lnuna, sag iner erst,
wo De die Lier versteckt hast!"

Richard Rosl

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Richard Rost: Besorgt
 
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