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Wieder einen der größten Klumpen aussuchend.

Ich frage mich vergeblich, wie der Bursche an
den Schnaps gelangte: ich weiß, die Verabreichung
vvn Spirituosen an Militärpersonen ist verboten.

Er bemerkt jetzt, daß ich ihn bcobadjtc, stößt
einige Male schnell mit dem Daumen über die
Schulter, dann legt er den Zeigefinger auf den
Mund — zum Zeichen, daß ich ihn nicht verrate.

Erst jetzt gewahre ich in einiger Entfernung
einen Aufseher. Er ist alt, Gefreiter, auf einer
der bequemen Bänke hockt er gemütlich.

Ich glaube sogar, er schläft ein bißchen, vielleicht
mit einem Auge. . . .

Das andere gehört ja seinen Gefangenen.

Während ich dem Russen, (er heißt Leon),
einige Zigaretten hinreiche, fängt er, hinter dem
Wagen außer Sicht, an zu erzählen.

Geboren ist er im Gouvernement Petrikau,
22 Jahre alt, Student der Medizin.

Gefangen bei.

Ich kann den Namen nicht behalten.

„Berlinserrscheene — Petcrsb rgschöner. Ruß-
land schönstes Land auf Erde".

Leon lacht teuflisch auf. Teuflisch-ehrlich.

Er freu sich, seine Lippen zucken.

Leon mutß auf Frauen starken Eindruck machen,
der gerade, prüfende Blick (bestechende Augen,
schwarz wie Anthraeit). Das spielende Uebcrwm-
den jeder Situation — er ist Student und balanciert
hier seit Monaten mit der Vehemenz eines Ueber-
feetrimmers Kohlenklumpen, — schwere, wohlge-
merkt — „Balancierend", unter Verausgabung
von Nur-Momentkräften!

Sein Gehirn erspart ihm so physische Energie-
vergeudung, Prinzipien des Denkens. —

Leon freut sich. Solnge er hinter den Wagen
verdeckt geht, tanzt er vor Freude wie ein täppi-
scher Bär, die Fingerspitzen von den Schenkeln
abspreizend, mit hochgezogenen Schultern.

„Berlin getanzt — so!"

Dann kommt er wieder: „Deutsche Soldat, ich
lieben ganzes Erde. Frieden!"

Seine Gefährten rufen ihm etwas zu, er gibt
ihnen lachend Zigaretten ab.

Diese gehen schweigender, ernster ihrer Arbeit nach.

Der Student kommt wieder, schiebt die Teller-
mütze in den Nacken, seine weißen Zähne schim-
mern aus dem kohlengeschwärzten ovalen Kopf:
„Schnaps gegeben feine Frau, oft abladen .Koh-
len. Hat sie gelacht, Hab iri) gemacht so!" Er
macht die Bewegung des Trinkenden. Lacht.
Lacht infam.

* *

*

— Die Sonne sinkt allmählich tiefer, der
Garten liegt still, es ist um Mittag. Leon
füttert die Gäule, klatscht ihre Hülse ab, ihnen
russische Kosenamen zurufend.

Dann kauert er neben mir auf einem
Holzscheit und erzählt, gebrochen, lebhaft gesti-
kulierend. einerlei.

Am Ende kommen wir auf Dostojewskij.

Er kennt ihn — er kennt alle großen Russen,
fast alle großen Deutschen.

„O, serr vill gelesen, serr vill."

Darauf wird er stille, nach einiger Zeit zieht
er die Augenbrauen hoch wie ein Mensch, der
angeregt über etwas nachdenkt, intensiv nach-
denkt. —

„Kennen deutsche Soldat Dostojewskijs
Raskolnikow?

Raskolnikow hat gemacht alte Frau tot,
weil er gewesen groß, am Ende geht er Si-
birien, büßen. Ist nicht gut, daß er geht Si-
birien, ist . . ."

Er sucht nach einem passenden Wort.

Endlich haben wir es gefunden.

„Ist inkonsequent!"

„Nicht. gut!"

Er hat jetzt wieder sein Lachen, aber es ist
mehr ein nachdenkendes Lächeln.

Er wird etwas stiller, auf seine schmutzigen
Hände sehend:

„Russe ist wie großes Kind, Mensch muß
Schicksale dulden."

Hierbei deutet er nach oben: ob ich ihn ver-
stände. —

Ich denke über das Gesagte nach und weiß,
er hat in beiden Fällen recht.

Leon, der gefangene russische Soldat, Leon der
Kohlenarbeiter ist wertvoll — er hat eigene spü-
rende Gedanken. — Er scheint unendlich mensch-
lich zu sein.

Mir fallen Worte ein:

„Liebet Eure Feinde."

Dann wieder sehe id) brennende zerschossene
Scheunen, im Rückzug verwüstete Landstraßen,
Brände, flackernd und gelb in der Dämmerung.

Geschütze brüllen auf, Leuchtraketen tauchen iri-
sierend in die Gestirne, ihre Blendung zeigt mir,
dem Posten, ferne schwarze Linien.

Mein Apparat summt, Signale!

„Starke Streitkräfte sind in südwcstlidier Rich-
tung im Rückzuge ... die Armee des . . ."

Schwarze fluchtartige Linien, ungeordnet, in
wahnsinniger Hast, den rettenden Sümpfen ent-
gegen.

Es ist Naclst und hin und wieder tasten die
weißglühenden Augen der Scheinwerfer, abwechselnd
nach Südwest: Schwarze fluchtartige Linien . . .

Den Tod im Nacken.

Und id) weiß Leon darunter. Er ist wahr-
scheinlid) still, zerfetzt und hungrig, bemüht, eini-
gen Verwundeten viellcidit letzte zwecklose Dienste
zu erweisen.

Und dann gegen Morgen rücken die Preußen
näher, immer näher und schneiden sie ab. Leon
hebt die Hände hod> und lad)t. —

Er mad)t sid> verständlicl), verschenkt seine Pa-
tronen, da! Man gibt ihm zu essen. Er hilft an-
packen. Die beutfdjert Soldaten verstehen ihn
nid)t — viellcidit ist er wahnsinnig. —

— Wissend, daß er jetzt wenig oder nidsts be-
sitzt, will id) ihm etwas Geld zustecken.

Aber er wehrt ab:

„Nid)t so gemeint."

Er deutet nacl> dem Kohlenhaufep: „Ich serr
stark, kann arbeiten, wir haben Essen, Schlafen,
Trinken."

Er klopft auf die Taschen — „Trinken!"

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Gesprengte Sclieldebrücke Karl Hapke

bei Audenarde (Unteroffizier)

Endlich nimmt er das Geldstück.

Dann grübelt er, kramt im Rockfutter herum,
lockert den Kittel und reid)t mir eine Kopeke —
diese Kopeke, Arabesku, die hier liegt.

„Soldat werden denken an russische Soldat!"
Dann starrt er mid) durdidringend an:

„Will id> bewahren deutsches Geld — auch
wenn id) fortgehe." Ich verstehe ihn.

— Die viere kommen jetzt näher, einige Worte
wediselnd richten sie die Zuggurte, die Gäule ziehen
an. Die Rädergelenke knacken.

Leon drückt sid) nod) einen Moment, hüpft zu
mir und sagt:

„Preuße ist verwundet? Bon Russen? Tut mir
serr weh!"

Er zögert nod) und geht dann, auf den Wa-
gen springend, gleid) den anderen.

Im Hinausfahren sieht er nidjt nach mir, er
grüßt nicht. Seine Mundwinkel zucken.

Er lacht.

Der Aufseher ist unter ihnen.

Leon will uns nicht verraten.

Schnaps, Tabak, Geld! — Er ist Gefangener!
Dann bin ich allein im Garten. —

„Id) habe einmal einen süßen Weißrussen ver-
setzt", sagt Arabeska, die Tänzerin.

In Erwartung irgend einer phantastischen Ge-
sd>id)te frage id):

„Wie hieß er denn?"

„Es war ein Hermelin aus Petersburg. Er
kostete 2000 Rubel."

Dann blickt sie träumerisd) zur Decke, lullt
sid) tiefer, weid)er in ihr türkisches Gewand und
sagt:

„Dein Russe war ein liebes Kerld)en, id) will
die Kopeke am Fußgelenk tragen!"

Es ist so sd)ön bei uns. —

4

Gedankensplitter

Der Spruch „Keine Regel ohne Aus-
nahme" ist ein volkstümliches Verdikt gege))
alle von Menschen formulierten Erkennt-
nisse und Prinzipien.

*

Sonderbar, daß die Herzensgüte »och
nicht besteuert wurde, obschon sie unstreitig
der größte Luxus ist, den man sich heut-
zutage leisten kann.

*

Man darf als Künstler keine Künstler-
natur sein, wenn man schon bei Lebzeiten
Erfolg haben soll.

Der Trost des Himmels pflegt in der
Demonstration zu bestehen, daß wir noch
viel empfindlicher gequält werden könnten.

*

Die kurzen Beine der Lügen können
sehr lang werden, wenn sie auf die Stelzen
der Phrase steigen.

v *

Auch moderne Geistesakrobaten stei-
gern die Wirkung ihrer Vorführungen,
wenn sie sich als grelle Clowns mas-
kieren. *

Schicksalsfragen zählt man am zu-
verlässigsten an den Knöpfen ab.

Hauus v Gumppcnberg:

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Register
Hanns Theodor Karl Wilhelm Frh. v. Gumppenberg: Gedankensplitter
Karl Hapke: Gesprengte Scheldebrücke bei Audenarde
 
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