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Fieber

Von Emil Gradl (P-ic»)

2lls der Zug in einer Station längere Zeit
hielt, begab fid) ^ldolf Hart zur Maschine und
betrachtete sie eingehend Es war eine modern
gebaute Maschine, sie sah auf den mächtig hoch-
gewölbtenRädern wie ein sprungbereites Kängu-
ruh, während sie die winzig kleinen vordem wie
graziöse Pfötchen vor sich hingesetzt hatte. Hart
schritt rings um sie herum wie einer, der keine
Gelegenheit vorübergehen lägt, seinen Gesichts-
kreis zu erweitern und dachte: ungewöhnlich
stark, ja, das nenne ich Kraft. So sehr lieg
er fid) imponieren, dag er bei jedem kleinsten
Fauchen der Maschine ängstlich zusammen-
schreckle und die Flucht ergreifen wollte.

Der -Lokomotivführer betrachtete ihn von
oben wie ein Turmbewohner und aß aus einem
fettigen Papier Wurst. Da Hart hoffte, einige
interessante Angaben über die Leistungsfähigkeit
dieser Maschine zu erfahren, lieg er sich mit
dem Manne in ein Gespräch ein, obwohl er
sah, daß dieser die Mundhöhle beständig mit
Brot und Wurst angefüllt hatte und daher der
Weg für Worte so ziemlich verstopft war.

„Das muß man sagen," warf Hart hin und
hielt den Blick auf die Transmissionen gerich-
tet, „wir leben in einer raschen Zeit."

Der Mann wagte offenbar nicht, ob die
Aeugerung an ihn gerichtet oder als Selbstge-
spräch aufzufassen sei, denn er enthielt sich einer
Antwort und schälte, über die Brüstung des
Heizraumes gelehnt, eine neue Scheibe Wurst.

Der schmale Hautstreifen flatterte vor Hart's
Füge und er betrachtete ihn eine Weile, ohne
etwas Besonderes zu denken. So verging die Zeit.
Hart fdjnnte auf feine Uhr, es war eine Gewohn-
heit von ihm, häufig nach der Uhr zu sehen, be-
sonders auf Reisen. Leider stimmte sie mit der
Stationsuhr vollkommen überein, er hatte gehofft,
dag sie etwas zu rasch gelaufen sei, aber damit war
es nun wohl nichts.

„Schon fünf Uhr fecl>zehn," sagte er und stand
weiter bei der Lokomotive.

Aus dem Paketwagen streckten sich in immer
gleichen Zeitabständen zwei gebreitete Hände heraus
mit einer verlangenden Gebärde, wie man sie
häufig auf Heiligenbildern sieht. Sie nahmen ein
hochgeworfenes Paket in Empfang und verschwan-
den damit hn Innern des Wagens. Das war
sehr komisch anzuschalten, aber leider gelang es
Hart nicht, darüber zu lachen.

„Bring mir ein Bier mit," rief der Lokomotiv-
führer dem davoneilenden Heizer nach. Er ge-
dachte also noch ein Bier zu trinken. Es war
ganz begreiflich, daß cr von der Nähe des Kessels
eitle trockene Kehle halte, die er nun befeuchten
mußte, der Tag war auch nicht besonders kühl.
Bielleicl,t war auch die Wurst stark gesalzen, dachte
Hart, obwohl es ihm im Grunde genommen gleich-
gültig sein konnte, woher der Durst des Lokomo-
tivführers rührte

„Sie trinken noch ein Bier?" fragte er.

Der Lokomotivführer antwortete: Ja, so ein
Krüger! könne nie schaden, und luchte gemütlicl).
Es war ein gutmütiger Menschj das konnte man
jetzt, da er gesättigt war, deutlicl) erkennen, und
Hart setzte große Hoffnungen auf ihlt.

Eine vollbeladene Postkarre rumpelte heran
und Hütte Hart fast über den Haufen geworfen.
„O — a—o," rief der Schieber, er schnellte das
letzte o kurz aus der Kehle wie eitlen Gummiball,
sein grüner Leinenkittel flatterte im Winde. Hart
zog den Hllt und entschuldigte fid), denn es lag
ihm viel daran, im Bahnverkehr keinerlei Störung
zu verursachen, er hatte ein hohes Interesse daran,
daß sich alles glatt abwickelte.

„Hören Eie," sagte er zu dem Lokomotiv-
führer vertraulich, inbem er ganz nahe an die
Maschine herantrat, „mein Freund liegt im Ster-
ben. Glauben Sie, daß wir die Verspätung nocl)
einholen können? Es sind jetzt 47 Minuten." Er
timßte detl Kopf ganz zurücklegen und senkrecht

Thor Ferdinand Licbcrmnnh (München)

2) e t 21 p f e I

Wie rundest du dich kühl in meiner Hand,
rotgoldne Frucht, in Mvrczenreif getaucht,
die ich im unbewegten Grase fand:
vom ersten Strahle sehnlich überhaucht.
Nährender Frnhlingsdufk ging in dich ein,
des SommermvndeS Nieseln und die Glut
des Mittags und des Herbstes seidner Schein —

gereistes Jahr, das mir in Hände» ruht!

Ernst Ludwig Schellenberg

W i n t e r t r a u m

Stiller Mittag ist im Tnrmgemach^,
llnergründlich märchenhaft ein Schweigen.
Aus dem Eis am Fensterglase steigen
Gräser, Farren und mit Nadelpveigen
Niegeseh'ne Bäume, hundertfach.

Reiche, die vor ungezählten Jahren
Einmal Paradiese waren,

Werden in der Seele wieder wach.

Draußen die Wipfel, weiß Mit Reis besäumt.
Sind ans einmal sremd und kalt.

Weit entrückt iiiiC' schweben ohne Halt
Rings im Raume wie geträumt.

Dinge von heute sind nur Schein.

Aus der llnvelt blühen schlanke
Blumen ini Eise, hängt ein Geranke
Wnnöersani zu mir herein.

Vorzeit und Geziveige dieser Tage
Schlingt sich in Eines, zart gegliedert,

Duftig weiß besiedelt:

.Schau, es zittert schon —

Kam ein Hauch jetzt, Alles stiegt davon.

Josef Schänder!

hinaufschauen; in dieser unbequemen Stellung
wartete er die Antwort ab. Es nmchte ihm
ilichts aus, daß er im Genick eineil Krampf be-
kam, wenn er nur die Hoffnung schöpfen durfte,
rechtzeitig an seinem Ziel anzukommen. 47 Mi-
nuten sind schließlich keiiie Ewigkeit, dachte er,
die kann man leicht wieder hereinbringen, ja,
es ist wahrhaftig kein überwältigender Zeitraum.

Der Lokomotivführer blickteeineWeiletrau-
rig vor sich hin, und Hart begann sich Bor-
würfe zu machen, auf sein Gemüt einen Schatten
geworfen zu haben, dann fragte er: „Wie alt
war er denn?"

„Wer?"

„Nun, Ihr Herr Freund."

Hart sagte, daß er 45 Jahre alt sei, dieses
Alter habe er bis jetzt crreiri)(, denn cr sei ja
noch nicht gestorben. Vielleicht werde er auch
jetzt noch nicht sterben, sagte er, das sei gut
möglich, denn viele Ärzte haben fiel) schon ge-
irrt. „Ich könnte Ihnen da einen Fall er-
zählen, einen ganz merkwürdigen Fall . . . ."

Der Heizer erschien mit dem Bier, und der
Lokomotivführer tat einen tiefen Schluck, wäh-
rend Hart deti Fall erzählte. „Sehen Sie, solche
Ditige kommen vor," sagte er und behandelte
den Lokomotivführer ganz als Seinesgleichen,
um ihn in guter Stimmung zl, erhallen. „<2lber
hier wäre es immerhin übereilt, einen großen
Optimismus an den Tag zu legen, denn bei
meinem Freund handelt es sich um ein Darm-
geschwür, ein sehr hartnäckiges Darmgeschwür,
müssen Sie wissen, das ihn seit — wie? Ja,
der Tod nähert sich nidjt immer auf den appetit-
lichsten Wegen, verzeihen Sie mir." Der Lo-
komotivführer spritzte etwas Speichel ab. Hart
sah wohl ein, das; er da eine Taktlosigkeit be-
gangen habe und beeilte fid), den schlechten Ein-
druck wieder zu verwischen, deti seine Worte hcr-
vorgerufen hatten. Deshalb sagte er, es sei ihm
nur darum zu tun, feinen Freund auf alle Fälle
noch lebend anzutreffen. „Ich muß ihn noch sprechen,
ehe er auf immer verstummt," rief er beschwörend
und ließ geschickt durchblicken, daß es sich um die
Ordnung einer mysteriösen Liebesgeschichte handle.

Der Lokomotivführer hörte jetzt aufmerksam
zu, Hart konnte feststellen, das; sein Interesse für
diesen Fall erwacht sei und fuhr eifrig fort: „Bcr-
slehen-S!e nun, daß ich meineZeit nicht verjchleu-
dern darf? Daß es mir nicht erlaubt ist, die Mi-
nuten in alle Winde zu verstreuen?" In feiner
Lebhaftigkeit erglomm er eine cifcrnc Sprosse, die
zum Tender hinaufsührte und schrie senkrecht
empor: „Sie müssen jetzt fahren wie der Teufel.
Hören Sie? Geben Sie vollen Dampf."

Vom Perron ertönten scl>rille Pfiffe, und Hart
mußte von seinem erhöhten Stand heruntersteigen.
„Denken Sie an das Darmgeschwür," rief er noch
zurück mid rannte zu seinem Abteil.

Die Türen klappten zu, der Zug setzte sich mit
metallischem Ächzen in Bewegung. Die Puffer
klangen zusammen, dann glitten die Wageti in
ruhigem Fluß über die Schienen.

Etwas erschöpft lehnte fid) Hart in seine Ecke
zurück und horchte gierig auf das Rattern der
Räder, er zählte die Stöße und hielt sich entzückt
an seinem Polstersitz fest, denn nun mußte ja die
höchste Geschwindigkeit kommen, ja, jetzt sollte es
fid) Herausstellen, ob der Lokomotivführer wirklich
der verfluchte Kerl war, für den cr ihn hielt.
Platz da! dachte er, wir brausen alles nieder wie
eiir Gott. Hallo, das war eine Weiche. Die ge-
genübersitzende Dame zog die Augenbrauen bis an
die Haarwurzeln hinauf und machte ein kleines:
„Gott!", ein ganz kleines, allerliebstes „Gott!"
Der Hund konnte auf ihren erschlllterten Schenkeln
keinen Halt mehr finben und sprang ab. „Haha,
Ihr seid wohl das rasche Reiset) nidjt gut ge-
wöhnt?" rief Hart und nannte vor lauter tleber-
legenheit den Hund und die Dame in einem Eltern.
Sie blickte ihn verwundert an und fuhr dann
fort, den Hund mit Marzipan zu füttern, den sie
in allen Formen aus einer Düte nahm. Vor-
wiegend waren es Herzen, es gab aber and) Fische,
Blätter und Königskronen, diese trugen in der
Register
Ernst Ludwig Schellenberg: Der Apfel
Emil Gradl: Fieber
Josef Schanderl: Wintertraum
Ferdinand Liebermann: Thor
 
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