Die Ameise
Kein Märchen
Es war einmal eine Ameise. Die war winzig
klein. Groß gegen sie war das Hausdach, unter
dem sie auf die Welt kam, riesengroß. Am größten
aber war ihr Fleiß.
Unermüdlich zirkelten ihre sechs Beine über
den Dachboden, setzten über die Abgründe der
Bretterritzen, rannten über Berge von Gerümpel,
umliefen eine drohend polternde Wasserleitung,
überwanden eine Badewanne und schleppten Gut
um Gut für Brut und Art.
Nämlich ihre Art war nicht allein. Es gab
noch andre Arten auf dem Dachboden. Die waren
der kleinen Ameise gar nicht gut gesinnt. Denn
sie kam als letzte auf die Speicherwelt. Diese
Welt war eigentlich schon aufgeteilt. Es lebte sich
in ihr behaglich und gemächlich von allerlei Vor-
räten in Kisten und Kasten. Die hielten die alten
Geschlechter besetzt und riefen der kleinen Ameise
zu: „Sieh zu, wie du zurecht kommst!"
Da nahm sie die Arbeit zwischen Kopf und
Füße und werkelte und schuftete den ganzen Tag.
Kargen Mauerspalten rang sie Nahrung ab und
Bodensplittern eine harte Liegestatt.
„Na ja", lächelten die Vettern, die im Vollen
sahen, „ganz nett soweit, wir gönnen ihr die Tu-
gend."
Aber eines Tages lächelten sie nicht mehr. Die
winzige Ameise hatte Entdeckungen gemacht. Bei
ihren Schürfarbeiten im Gemäuer stieß sie auf
süße Nester, die der Kalk nach innen schwitzte.
Vorzügliche Gelasse schuf sie sich in nimmermüder
Minierarbeit. Gerümpel zernagte sie, mischte
Schweiß von ihrer Arbeit und formte nahrhaft
Brot für knappe Zeiten.
„Na ja," wollten die andern wieder sagen.
Aber es verzerrte ihr Gesicht. Gebrumm Hub an,
Gewimmel, Raten. Endlich auch ein Taten. Um
es halbwegs so zu haben, wie jetzt ihre jüngste
Schwester, hieß es arbeiten, schwer arbeiten, da
half alles nichts. Adiö Gemütlichkeit und Gehen-
lassen !
Das verziehen sie ihr nie.
Eines Tages tappte das Schicksal die Speicher-
treppe hoch und sah sich um und gähnte. Das
war der Augenblick. Ein Geschick ist lenkbar,
wenn es gähnt. Ameisen saßen ihm am Ohr
und flüsterten: „Das tu . . . und das . . . und
das. . ."
Halb bewußt spritzte das Geschick einen dicken
Wassertropfcn von der Leitung in die Wanne.
Gerade vor den Arbeitsweg fiel der kleinen
Ameise dieser Tropfen. Sie stutzte. Sie bog
nach links. Das Geschick zog den Wassertropfcn
auch nach links aus. Die Ameise bog nach rechts.
Das Geschick strich den Wasscrberg auch nach
rechts. Die Ameise kehrte um. Da schloß das
Geschick den Wasserzirkel auch nach rückwärts.
Die Ameise war eingeschlossen. Rings um sie
ein Wall von Wasser.
Sie lief dahin, dorthin. Immer wieder
tauchte ihre Stirne in die Nässe. Sie blieb
stehen. Sie überlegte. Sie ging methodisch
um den Inncnwall, schnell, schneller. „Irgendwo
wird dennoch eine Lücke sein", dachte sie. Sie
lief, sie rannte dreimal, viermal das Gefängnis
ab. Sie blieb wieder stehen. Ihre Fühler
zitterten. Aus den armen Äuglein glitzerte
sekundenlang der Schrecken: Eingesperrt!
Jetzt drehte sie Nim und lief in umgekehrter
Richtung um die Wassermauern, einmal, zwei-
mal, dreimal.
Jetzt dachte sie, der Wasserwall sei nur ein
Traum, der weiche, wenn man ihn bekannte.
Aus der Mitte lief sie blitzgeschwind ins Wasser.
Kein Traum. Einen nassen Streifen schleppte
sie müde auf dem Rückzug in das Innere.
Da schien sie zu erstarren. Das war lang-
weilig. Das Geschick gähnte wieder, tauchte
den Finger in die Flut und zog sie enger.
Wieder fing die Ameise zu laufen an. Wieder
enger zog den Wasserkreis der Finger. Ver-
zweifelter rannte die Ameise. Enger, immer enger
wurde Wasserkreis und Spielraum. Jetzt drehte
sie sich um sich selbst. Die Fühler machten einen
kleinen Wirbel auf der Wasserfläche. Verloren?
Aber die tapfere Ameise dachte: „Ich gebe
nichts verloren als die Toten. Ich lebe!" Sie
stürzte sich mit Heldenmut in die Wasserwüste.
Weit hinein. Land, wo war jenseits Land? Weit
strich der Schjcksalsfinger den Wassertropfen auS:
Land war nirgends. Zurück, zurück zur letzten
Inneninsel!
Auch diese aber hatte spielerisch der Finger
überflutet.
Vorbei! Ameise, ergib dich, deine Stunde ist
gekommen! Auf den Rücken falle, recke flehend
deine Händchen gegen Himmel! Flehen, winseln?
Niemals, wo ich Rechte fordern darf von droben,
Lebensrechte!
Und sie reckte sich mit letzten Kräften hoch.
Ihre stolze Seele hob sich. Hoch gingen — Flü-
gel. O, daß sie Flügel hatte, war ihr in den
Arbeitsjahren ganz entschwunden. Ja, Flügel,
Flügel! Leise summend flog sie über Neid und
Wüste und Geschick und setzte ihren Arbeitsweg
am andern Ufer fort: ruhig, unermüdlich, unbe-
irrt den Blick nach vorne. . .
Deutscher, recke dich mit letzten Kräften hoch.
Hebe deine stolze Seele. Hach laß gehn die Flü-
gel deiner Seele! O, daß deine Seele Flügel hat,
das war dir in den Arbeitsjahren ganz ent-
schwunden. Ja. Flügel, Flügel! Leise summend
fliege über Neid und Wüste und Geschick und
setze deinen Arbeitsweg am andern Ufer fort:
ruhig, unermüdlich, unberirrt den Blick nach vorne
untern, Dach der Welt. . . Müller
*
Aphorismen
Und wenn man noch so glücklich ist, man
ist es doch erst, wenn ein Andrer drum weiß!
Einen vergessen wollen, heißt an ihn denken.
* -
Judith, die Tugend, schneidet den, Holo-
fernes den Kopf ab. Dalila, das Laster,
kürzt Simson nur die Haare.
Alfred Friedmann
Subordination
Es war im Jahre 1913. Ich diente damals
einjährig. Eines Tages kam der kommandierende
General und besichtigte. Am Schluffe der Be-
sichtigung sagte er zum Musketier Knollendümmel:
„Geh mal ans hintere Tor, mein Sohn, bleib
dort stehen, bis mein Wagen vorfährt, und dann
kommst Du her und meldest das."
Knollendümmel setzte sich in Trab und rannte
an das bezeichnete Tor. Kurz darauf fuhr der
Wagen durch den Haupteingang herein und mit
seiner Exzellenz davon.
Als wir Einjährigen bald darauf entlassen
wurden und bei dieser Gelegenheit durchs hintere
Tor hinaus gingen, stand Knollendümmel immer
noch da. Wir erfuhren von ihm, daß er sich seit
dem Tage der Besichtigung nicht vom Platze ge-
rührt habe, denn er hatte ja den Befehl bekom-
men, so lange stehen zu bleiben, bis der Wagen
seiner Exzellenz vorführe.
Knollendümmel sah nicht gut aus. Er war
stark abgemagert und blaß. Kein Wunder, wenn
man sechs Wochen am selben Flecke steht!
Nicht Güte, nicht Gewalt vermochten ihn, hier
fortzugehen und seinen Dienst zu tun. Der Unter-
offizier vom Dienst brachte seine ganze freie Zeit
bei ihm zu, um ihn zu überreden, doch endlich in
die Kaserne zurückzukehren, der Leutnant, der
Kompagniechef, der Bataillonskommandeur und
der Regimentskommandeur hatten alle Register
von der sänftlichsten Überredung bis zur über-
menschlichsten Grobheit gezogen — Knollendümmel
wich nicht. Er hatte Befehl vom kommandierenden
General und kannte seine Pflicht.
So ließ man ihn schließlich stehen und suchte
seinem Dasein einen Zweck zu geben.
Jeden Morgen von 7—10 Uhr zogen die
Kompanien nacheinander zu ihm hinaus. Dann
war Unterricht über die Pflichten des Soldaten,
und Knollendümmel wurde als Muster der Subor-
dination vorgestellt, — eigentlich ein etwas ge-
wagtes pädagogisches Stückchen.
Da brach der Krieg aus. Ich kam von der
Kaserne durchs hintere Tor. Narrte nüch ein
Spuk? Da stand ja Knollendümmel! Aber kaum
noch zu erkennen. An allen Gliedern mit Binden
umwickelt, hing er in einem eisernen Gerüst —
wie eine Art Laufkorb für Kinder — und lugte
nach der Richtung, woher der Wagen Seiner
Exzellenz kommen sollte.
Er war allen Angriffen auf sein Pflichtgefühl
gegenüber fest geblieben und stand hier seine Dienst-
zeit ab, — was andre in etwas andrer Form
ja auch tun. — Man hatte wegen des sonst
unvermeidlichen Aufsehens keine Meldung aw
höherer Stelle gemacht. So konnte man Knol-
lendümmel nicht ans Leder.
Als ich dann 1915 zum ersten Mal auf Ur-
laub kam, wagte ich nicht, das hintere Tor zu
benutzen, aus Furcht, Knollendümmel in einem
furchtbaren Zustand anzutreffen, denn seine
Dienstzeit war noch nicht abgelaufen. Von
weitem sah ich aber schon, er stand noch im-
mer da.
1916 war ich wieder daheim. Meine erste
Frage galt Knollendümmel. „Der ist lange tot,"
sagte der Unteroffizier, den ich gesragt hatte. „Wo-
ranist er gestorben?" fragte ich erschüttert weiter,
„sicher an Entkräftung." „Warten Sie mal,"
antwortete er, „er soll eine Geisteskrankheit ge-
habt haben. Als seine Dienstzeit um war, holte
man ihn mit Gewalt von feinem Platze. Er
starb aber schon wenige Minuten darauf, weil
nichts mehr da war, dem er gehorchen konnte."
„Eigentlich eine Frechheit von Knollendüm-
mel," wandte ich ein, „sich ohne ausdrücklichen
Befehl ins Jenseits zu stehlen! Aber was war
es eigentlich für eine Krankheit?"
„Das habe id) mir zufällig ganz genau ge-
merkt," sagte der Unteroffizier, „denn ich habe
Knollendümmel damals zum Regimentsarzt ge-
schafft. Der Arzt sagte ,8ubord,nil>8 germa-
n'"a-'" Artur Wagner
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Kein Märchen
Es war einmal eine Ameise. Die war winzig
klein. Groß gegen sie war das Hausdach, unter
dem sie auf die Welt kam, riesengroß. Am größten
aber war ihr Fleiß.
Unermüdlich zirkelten ihre sechs Beine über
den Dachboden, setzten über die Abgründe der
Bretterritzen, rannten über Berge von Gerümpel,
umliefen eine drohend polternde Wasserleitung,
überwanden eine Badewanne und schleppten Gut
um Gut für Brut und Art.
Nämlich ihre Art war nicht allein. Es gab
noch andre Arten auf dem Dachboden. Die waren
der kleinen Ameise gar nicht gut gesinnt. Denn
sie kam als letzte auf die Speicherwelt. Diese
Welt war eigentlich schon aufgeteilt. Es lebte sich
in ihr behaglich und gemächlich von allerlei Vor-
räten in Kisten und Kasten. Die hielten die alten
Geschlechter besetzt und riefen der kleinen Ameise
zu: „Sieh zu, wie du zurecht kommst!"
Da nahm sie die Arbeit zwischen Kopf und
Füße und werkelte und schuftete den ganzen Tag.
Kargen Mauerspalten rang sie Nahrung ab und
Bodensplittern eine harte Liegestatt.
„Na ja", lächelten die Vettern, die im Vollen
sahen, „ganz nett soweit, wir gönnen ihr die Tu-
gend."
Aber eines Tages lächelten sie nicht mehr. Die
winzige Ameise hatte Entdeckungen gemacht. Bei
ihren Schürfarbeiten im Gemäuer stieß sie auf
süße Nester, die der Kalk nach innen schwitzte.
Vorzügliche Gelasse schuf sie sich in nimmermüder
Minierarbeit. Gerümpel zernagte sie, mischte
Schweiß von ihrer Arbeit und formte nahrhaft
Brot für knappe Zeiten.
„Na ja," wollten die andern wieder sagen.
Aber es verzerrte ihr Gesicht. Gebrumm Hub an,
Gewimmel, Raten. Endlich auch ein Taten. Um
es halbwegs so zu haben, wie jetzt ihre jüngste
Schwester, hieß es arbeiten, schwer arbeiten, da
half alles nichts. Adiö Gemütlichkeit und Gehen-
lassen !
Das verziehen sie ihr nie.
Eines Tages tappte das Schicksal die Speicher-
treppe hoch und sah sich um und gähnte. Das
war der Augenblick. Ein Geschick ist lenkbar,
wenn es gähnt. Ameisen saßen ihm am Ohr
und flüsterten: „Das tu . . . und das . . . und
das. . ."
Halb bewußt spritzte das Geschick einen dicken
Wassertropfcn von der Leitung in die Wanne.
Gerade vor den Arbeitsweg fiel der kleinen
Ameise dieser Tropfen. Sie stutzte. Sie bog
nach links. Das Geschick zog den Wassertropfcn
auch nach links aus. Die Ameise bog nach rechts.
Das Geschick strich den Wasscrberg auch nach
rechts. Die Ameise kehrte um. Da schloß das
Geschick den Wasserzirkel auch nach rückwärts.
Die Ameise war eingeschlossen. Rings um sie
ein Wall von Wasser.
Sie lief dahin, dorthin. Immer wieder
tauchte ihre Stirne in die Nässe. Sie blieb
stehen. Sie überlegte. Sie ging methodisch
um den Inncnwall, schnell, schneller. „Irgendwo
wird dennoch eine Lücke sein", dachte sie. Sie
lief, sie rannte dreimal, viermal das Gefängnis
ab. Sie blieb wieder stehen. Ihre Fühler
zitterten. Aus den armen Äuglein glitzerte
sekundenlang der Schrecken: Eingesperrt!
Jetzt drehte sie Nim und lief in umgekehrter
Richtung um die Wassermauern, einmal, zwei-
mal, dreimal.
Jetzt dachte sie, der Wasserwall sei nur ein
Traum, der weiche, wenn man ihn bekannte.
Aus der Mitte lief sie blitzgeschwind ins Wasser.
Kein Traum. Einen nassen Streifen schleppte
sie müde auf dem Rückzug in das Innere.
Da schien sie zu erstarren. Das war lang-
weilig. Das Geschick gähnte wieder, tauchte
den Finger in die Flut und zog sie enger.
Wieder fing die Ameise zu laufen an. Wieder
enger zog den Wasserkreis der Finger. Ver-
zweifelter rannte die Ameise. Enger, immer enger
wurde Wasserkreis und Spielraum. Jetzt drehte
sie sich um sich selbst. Die Fühler machten einen
kleinen Wirbel auf der Wasserfläche. Verloren?
Aber die tapfere Ameise dachte: „Ich gebe
nichts verloren als die Toten. Ich lebe!" Sie
stürzte sich mit Heldenmut in die Wasserwüste.
Weit hinein. Land, wo war jenseits Land? Weit
strich der Schjcksalsfinger den Wassertropfen auS:
Land war nirgends. Zurück, zurück zur letzten
Inneninsel!
Auch diese aber hatte spielerisch der Finger
überflutet.
Vorbei! Ameise, ergib dich, deine Stunde ist
gekommen! Auf den Rücken falle, recke flehend
deine Händchen gegen Himmel! Flehen, winseln?
Niemals, wo ich Rechte fordern darf von droben,
Lebensrechte!
Und sie reckte sich mit letzten Kräften hoch.
Ihre stolze Seele hob sich. Hoch gingen — Flü-
gel. O, daß sie Flügel hatte, war ihr in den
Arbeitsjahren ganz entschwunden. Ja, Flügel,
Flügel! Leise summend flog sie über Neid und
Wüste und Geschick und setzte ihren Arbeitsweg
am andern Ufer fort: ruhig, unermüdlich, unbe-
irrt den Blick nach vorne. . .
Deutscher, recke dich mit letzten Kräften hoch.
Hebe deine stolze Seele. Hach laß gehn die Flü-
gel deiner Seele! O, daß deine Seele Flügel hat,
das war dir in den Arbeitsjahren ganz ent-
schwunden. Ja. Flügel, Flügel! Leise summend
fliege über Neid und Wüste und Geschick und
setze deinen Arbeitsweg am andern Ufer fort:
ruhig, unermüdlich, unberirrt den Blick nach vorne
untern, Dach der Welt. . . Müller
*
Aphorismen
Und wenn man noch so glücklich ist, man
ist es doch erst, wenn ein Andrer drum weiß!
Einen vergessen wollen, heißt an ihn denken.
* -
Judith, die Tugend, schneidet den, Holo-
fernes den Kopf ab. Dalila, das Laster,
kürzt Simson nur die Haare.
Alfred Friedmann
Subordination
Es war im Jahre 1913. Ich diente damals
einjährig. Eines Tages kam der kommandierende
General und besichtigte. Am Schluffe der Be-
sichtigung sagte er zum Musketier Knollendümmel:
„Geh mal ans hintere Tor, mein Sohn, bleib
dort stehen, bis mein Wagen vorfährt, und dann
kommst Du her und meldest das."
Knollendümmel setzte sich in Trab und rannte
an das bezeichnete Tor. Kurz darauf fuhr der
Wagen durch den Haupteingang herein und mit
seiner Exzellenz davon.
Als wir Einjährigen bald darauf entlassen
wurden und bei dieser Gelegenheit durchs hintere
Tor hinaus gingen, stand Knollendümmel immer
noch da. Wir erfuhren von ihm, daß er sich seit
dem Tage der Besichtigung nicht vom Platze ge-
rührt habe, denn er hatte ja den Befehl bekom-
men, so lange stehen zu bleiben, bis der Wagen
seiner Exzellenz vorführe.
Knollendümmel sah nicht gut aus. Er war
stark abgemagert und blaß. Kein Wunder, wenn
man sechs Wochen am selben Flecke steht!
Nicht Güte, nicht Gewalt vermochten ihn, hier
fortzugehen und seinen Dienst zu tun. Der Unter-
offizier vom Dienst brachte seine ganze freie Zeit
bei ihm zu, um ihn zu überreden, doch endlich in
die Kaserne zurückzukehren, der Leutnant, der
Kompagniechef, der Bataillonskommandeur und
der Regimentskommandeur hatten alle Register
von der sänftlichsten Überredung bis zur über-
menschlichsten Grobheit gezogen — Knollendümmel
wich nicht. Er hatte Befehl vom kommandierenden
General und kannte seine Pflicht.
So ließ man ihn schließlich stehen und suchte
seinem Dasein einen Zweck zu geben.
Jeden Morgen von 7—10 Uhr zogen die
Kompanien nacheinander zu ihm hinaus. Dann
war Unterricht über die Pflichten des Soldaten,
und Knollendümmel wurde als Muster der Subor-
dination vorgestellt, — eigentlich ein etwas ge-
wagtes pädagogisches Stückchen.
Da brach der Krieg aus. Ich kam von der
Kaserne durchs hintere Tor. Narrte nüch ein
Spuk? Da stand ja Knollendümmel! Aber kaum
noch zu erkennen. An allen Gliedern mit Binden
umwickelt, hing er in einem eisernen Gerüst —
wie eine Art Laufkorb für Kinder — und lugte
nach der Richtung, woher der Wagen Seiner
Exzellenz kommen sollte.
Er war allen Angriffen auf sein Pflichtgefühl
gegenüber fest geblieben und stand hier seine Dienst-
zeit ab, — was andre in etwas andrer Form
ja auch tun. — Man hatte wegen des sonst
unvermeidlichen Aufsehens keine Meldung aw
höherer Stelle gemacht. So konnte man Knol-
lendümmel nicht ans Leder.
Als ich dann 1915 zum ersten Mal auf Ur-
laub kam, wagte ich nicht, das hintere Tor zu
benutzen, aus Furcht, Knollendümmel in einem
furchtbaren Zustand anzutreffen, denn seine
Dienstzeit war noch nicht abgelaufen. Von
weitem sah ich aber schon, er stand noch im-
mer da.
1916 war ich wieder daheim. Meine erste
Frage galt Knollendümmel. „Der ist lange tot,"
sagte der Unteroffizier, den ich gesragt hatte. „Wo-
ranist er gestorben?" fragte ich erschüttert weiter,
„sicher an Entkräftung." „Warten Sie mal,"
antwortete er, „er soll eine Geisteskrankheit ge-
habt haben. Als seine Dienstzeit um war, holte
man ihn mit Gewalt von feinem Platze. Er
starb aber schon wenige Minuten darauf, weil
nichts mehr da war, dem er gehorchen konnte."
„Eigentlich eine Frechheit von Knollendüm-
mel," wandte ich ein, „sich ohne ausdrücklichen
Befehl ins Jenseits zu stehlen! Aber was war
es eigentlich für eine Krankheit?"
„Das habe id) mir zufällig ganz genau ge-
merkt," sagte der Unteroffizier, „denn ich habe
Knollendümmel damals zum Regimentsarzt ge-
schafft. Der Arzt sagte ,8ubord,nil>8 germa-
n'"a-'" Artur Wagner
50