Die schöne Frau im dunklen Zimmerwinkel war vierzig Jahre und Kalle
nichts Derartiges erlebt. Sie saß noch immer auf dem alten Platz und
wandte nun emporblickend ihre großen dummen Augen gegen das offene
Fenster und den nächtlichen Frühlingshimmel. Ein Stern flammte herein —
von den Anlagen stieg würziger Atem der jungen Erde, und eine junge
Weiberstimme sagte wie ganz von weitem: „Er gehört zu mir, er gehört
doch mir. ..."
Da ging die Tür und ihr Mann trat ins Zimmer. Er wunderte sich,
daß seine Frau um halb neun Uhr noch im Finstern hockte.
Das Essen wartete schon, und man ging gleich hinüber ins Speisezimmer.
Es gab zarte Hammelkoteletten und junge Bohnen. Bei Tisch erzählte sie
von dem Krawall auf der Straße. Es fei unerhört, daß solches Gesindel
in diese gute Gegend komme, ereiferte er sich. Und er werde sich wegen des
lässigen Wachdienstes beschweren.
Dann ging man ins Rauchzimmer. Er setzte eine Importe in Brand
und vergrub sich in den Klubsessel. Und sie begann die Ergebnisse der
heutigen Teeschlacht genau zu erzählen. Er hörte anfangs mit halbem Ohre
hin, dann schlief er ein, die erloschene Zigarre zwischen den feiten Fingern.
Sie aber, nachdem sie mit ihrem Bericht zu Ende war, stand auf und schüt-
telte ihn, denn es war bereits nach zehn !thr und Zeit zum Schlafengehen.
Vom bittern Gram
(Rach dem Russischen)
Woher bist du, bittrer Gram, geboren worden?
Bist geboren aus der kalten Erde, Gram!
Bist geboren auf dem nackten Stein, dem grauen Stein,
Hinterm Weidenbusch, dem Weidenbüschletn silbergraul
Angetan bist du mit bastnen Schühlekn worden,
Und gekleidet in ein grobes Nöcklekn worden,
Bist geschnürt mit rauhem Gürtlekn worden . . .
Und dem wackren Burschen hingst du, Gram, dich an.
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus.
Flieht er vor dem Grame in das freie Feld,
In das freie Feld und als ein Häslein grau.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Iägerneh,
Trägt ein Iägerneh aus seidnem Garn:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus,
Springt er vor dem Grame in den schnellen Strom,
In den schnellen Strom und als ein Hechtenfisch.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Fischerneh,
Trägt ein Fischerneh aus seidnem Garn:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus,
Flieht er vor dem Grame kn ein Fkeberlein,
2n ein Fkeberlein und kn das Bett hinein.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und sitzt zu Füßen ihm:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus.
Flieht er vor dem Grame in den Sarg aus Holz,
In den Sarg aus Holz und in das Grab hinein.
2n das Grab hinein, unter die Erde tief.
Geht der Gram ihm auch schon eklig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Grabscheit mit,
Trägt ein Grabscheit mit und führt ein Fuhrwerk her:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Um den wackren Burschen war es da geschehn:
In dem Grüftlein scharrte tief der Gram ihn ein,
In der kühlen Mutter Erde Gruft.
Und hier ist das Lied vom wackren Burschen aus.
Leopold Weber
Im Hochgebirge
Ferdinand Hodler
nichts Derartiges erlebt. Sie saß noch immer auf dem alten Platz und
wandte nun emporblickend ihre großen dummen Augen gegen das offene
Fenster und den nächtlichen Frühlingshimmel. Ein Stern flammte herein —
von den Anlagen stieg würziger Atem der jungen Erde, und eine junge
Weiberstimme sagte wie ganz von weitem: „Er gehört zu mir, er gehört
doch mir. ..."
Da ging die Tür und ihr Mann trat ins Zimmer. Er wunderte sich,
daß seine Frau um halb neun Uhr noch im Finstern hockte.
Das Essen wartete schon, und man ging gleich hinüber ins Speisezimmer.
Es gab zarte Hammelkoteletten und junge Bohnen. Bei Tisch erzählte sie
von dem Krawall auf der Straße. Es fei unerhört, daß solches Gesindel
in diese gute Gegend komme, ereiferte er sich. Und er werde sich wegen des
lässigen Wachdienstes beschweren.
Dann ging man ins Rauchzimmer. Er setzte eine Importe in Brand
und vergrub sich in den Klubsessel. Und sie begann die Ergebnisse der
heutigen Teeschlacht genau zu erzählen. Er hörte anfangs mit halbem Ohre
hin, dann schlief er ein, die erloschene Zigarre zwischen den feiten Fingern.
Sie aber, nachdem sie mit ihrem Bericht zu Ende war, stand auf und schüt-
telte ihn, denn es war bereits nach zehn !thr und Zeit zum Schlafengehen.
Vom bittern Gram
(Rach dem Russischen)
Woher bist du, bittrer Gram, geboren worden?
Bist geboren aus der kalten Erde, Gram!
Bist geboren auf dem nackten Stein, dem grauen Stein,
Hinterm Weidenbusch, dem Weidenbüschletn silbergraul
Angetan bist du mit bastnen Schühlekn worden,
Und gekleidet in ein grobes Nöcklekn worden,
Bist geschnürt mit rauhem Gürtlekn worden . . .
Und dem wackren Burschen hingst du, Gram, dich an.
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus.
Flieht er vor dem Grame in das freie Feld,
In das freie Feld und als ein Häslein grau.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Iägerneh,
Trägt ein Iägerneh aus seidnem Garn:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus,
Springt er vor dem Grame in den schnellen Strom,
In den schnellen Strom und als ein Hechtenfisch.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Fischerneh,
Trägt ein Fischerneh aus seidnem Garn:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus,
Flieht er vor dem Grame kn ein Fkeberlein,
2n ein Fkeberlein und kn das Bett hinein.
Geht der Gram ihm auch schon eilig nach,
Geht ihm nach und sitzt zu Füßen ihm:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Sieht der Arme: nimmer kommt dem Gram er aus.
Flieht er vor dem Grame in den Sarg aus Holz,
In den Sarg aus Holz und in das Grab hinein.
2n das Grab hinein, unter die Erde tief.
Geht der Gram ihm auch schon eklig nach,
Geht ihm nach und trägt ein Grabscheit mit,
Trägt ein Grabscheit mit und führt ein Fuhrwerk her:
„Halt einmal, daß du mir nicht entspringst, du wackrer Bursch!"
Um den wackren Burschen war es da geschehn:
In dem Grüftlein scharrte tief der Gram ihn ein,
In der kühlen Mutter Erde Gruft.
Und hier ist das Lied vom wackren Burschen aus.
Leopold Weber
Im Hochgebirge
Ferdinand Hodler