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Ein Wandertag

Bon Hermann Hesse

Das erste Dorf auf der Südseite der Berge.
Hier beginnt erst red)t das Wanderleben, das ich
liebe, das ziellose Schweifen, die sonnigen Rasten,
das befreite Vagabundentum. Ich neige sehr dazu,
aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den
Hosen zu haben.

Während ich mir Wein aus der Pinte ins
Freie bringen lasse, fällt mir plötzlich Ferruccio
Busoni ein. „Sie sehen so ländlich aus", sagte
mir der liebe Mensch mit einem Anflug von Ironie,
als wir uns das lctztemal sahen — cs ist gar
nicht lange her, in Zürich. Andrea hatte eine
Mahler-Symphonie dirigiert, wir sahen !m gewohn-
ten Restaurant zusammen, ich freute tnich wieder
an Busonis fahlem Geistergesicht und an der flotten
Bewuhtheit dieses glänzendsten Anliphilisters, den
wir heut noch haben. — Wie kommt diese Er-
innerung hierher?

Ich weih! Es ist nicht Busoni, an den ich
denke, und nicht Zürich, unb nicht Mahler. Das
find die üblichen Täuschungen des Gedächtnisses,
wentt es an Unbequemes kommt; es schiebt dann
gern harmlose Bilder in den Vordergrund. Ich
weis; jetzt! In jenem Restaurant sah auch eine junge
Frau, hellblond und sehr rotwangig, mit der ich
keilt Wort sprach. Engeld»! Sie anzusehen war
Genus; und Qual, wie liebte ich sie jene Stunde
lang! Ich war wieder achtzehn Jahre alt.

Plötzlich ist alles deutlich. Schöne, hellblonde,
luftige Frau! Ich weiß nicht mehr, wie du heißt.
Ich habe bid; eine Stunde lang geliebt, und liebe
dich heut am sonnigen Sträßchen des Bergdorfes
wieder, eine Stunde lang. Niemand hat dich mehr
geliebt als ich, niemand hat dir jemals so viel
Macht über siel; eingeräumt wie ich, unbedingte
Macht. Aber ict> bin zitr Untreue verurteilt. Ich
gehöre zu den Windbeuteln, welä>c nicht eine
Frau, sondern nur die stiebe lieben.

Wir Watiderer sind alle so beschaffen. Unser
Wandertrieb und Vagabundentum ist zu einem
großen Teil Liebe, Erotik. Die Reiseromantik
ist zur Hälfte nichts anderes als Erwartung des
Abenteuers. Zur andern Hälfte aber ist sie un-
bewußter Trieb, das Erotische zu verwandeln und
aufzulösen. Wir Wanderer sind bnrin geübt,
sticbeswünsche gerade tim ihrer Unerfüllbarkeit
willen zu hegen, und jene Liebe, welclie eigentlich
dem Weib gehörte, spielend zu verteilen an Dorf
und Berg, See und Schlucht, an die Kinder am
Weg, den Bettler an der Brücke, das Rind auf
der Weide, den Vogel, den Schmetterling. Wir
lösen die Liebe vom Gegenstand, die Liebe selbst
ist uns genug, ebenso wie wir im Wandern nicl)t
das Ziel suchen, sondern nur den Genuß des Man-
derns selbst, das Untcrwegssein.

Junge Frau mit dem frischen Gesicht, irl> will
deinen Namen nirijt wissen. Meine Liebe zu dir
will ich nicht hegen und mästen. Du bist nicht
das Ziel meiner Liebe, sondern ihr Antrieb. Ich
schenke diese Liebe weg, an die Blumen am Weg,
an den Sonncnblitz am Weinglas, an die rote
Zwiebel des Kirchturms. Du machst, daß ich in
die Welt verliebt bin.

Ad;, dummes Gerede!

Irl; habe heute Nacht in der Berghütte von
der blonden Frau geträumt. Ir>> war unsinnig in
sie verliebt. Ich hätte den Rest meines Lebens
samt allen Wandcrfreuden darum gegeben, wenn
sie bei mir gewesen wäre. An sic denke ich
heute den ganzen Tag. Für sie trinke ich Wein
und esse Brot. Für sie zeichne ich Dorf und
Turm in inein Büchlein. Für sic danke ich Gott —
daß sie lebt, daß ich sie sehen durfte. Für sie werde
ich ein Lied dichten und mich an diesem roten
Wein betrinken.

Und so war cs mir bestimmt, daß meine erste
.Rast im heitern Süden der Sehnsucht nach einer
hellblonden Frau jenseits der Berge gehört. Wie
schön war ihr frischer Mund! Wie schön, wie
dumm, wie verzaubert ist dies arme Leben!

Nocturno

(Sigbjörn Obstfelder)

Mühlenflügel henimeit ihr Saufen,
hell im Bach glanzt das Auge des Dunkels.
Demütig bitten die Lippen der Blumen,
Kronen der Bäume flüstern, flüstern.

Priester zündeir die bleichen Kerzen,
Nonnen summen die frommen Gebete,
Kinder fallen die schtnächtigen Hände,
Schwäne verstecken den Schnabel im Flügel.

Bald werden alle die Müden entschlummern,
betten das Harlpt geschmeidig in Kissen,
frei vvti grauen, trüben Gedanken,
schlummern, schlafen, träumen, schlafen.

Draußen schwebt eine Frari im Blauen,
Gottes Mutter, Maria, Maria,
liebend schließt sie die Augeir der Seele,
tritt behnlsam die Erdenwiege.

Aus dem Norwegischen übertragen von

Ernst Ludwig Schellenberg

*

Der Kronprinz

Bon Carl Marilan»

Der Herr Präzeptor steckte den Bleistift in
den kleinen, rotgcbundenen Handkatalog. Die hohe,
weißlackierte Tür mit den etwas srl;adhaficn golde-
nen Zierleisten hatte sich nämlich leicht geöffnet
und der Kammerdiener in der grauen Hauslivree
mit den silbernen Knöpfen blieb mit einer Ver-
beugung, die nicht dem Herrn Präzeptor galt, im
Hintergrund des etwas kahlen Gemaches flehen,
an dessen Wänden Altwiener Aquarelle, Iagd-
bilder, in einer etwas verschollenen Manier ge-
malt, und eine Unzahl braungebeizter Eichenholz-
schildchen, deren jedes ein umständlich mit dem
Datum des Echußtages bezeichnetes Rehkrickel
trug, hingen.

Der Kronprinz, faß mit angelnden Beinen, die
mit gelben Schnürschuhen und kurzen, bis zur
Wade reichenden Kinderstrümpfen bekleidet waren,
in dem rotgepolsterten Fauteuil, in den man ihn
gesetzt hatte, um den Bortrag des canä. pkU.
Serafin Bewctz entgegenzunehmen. Herr Bewetz
entnahm den Händen des blaurasierten alten Die-
ners, der so vornehm war, daß er seine melan-
cholische Schlechtausgelegtheit nidjt im mindesten
zu verbergen suchte, Überzieher, Hut und Regen-
schirm, und knöpfte mit seinen kalten Händen,
von denen er während der Unterrichtsstunde über
ausdrückliche Weisung die weißen Handschuhe mit
den schadhaften Fingerspitzen nicht entfernen durfte,
eilfertig die Knöpfe seines Schluhrockes zu. Er
verbeugte sich tief und gewann, rückwärts fä,rei-
tend, die offene Tür, die der etwas asthmatisch
schnaufende Diener, Herr Anton genannt, lautlos
hinter ihm schloß.

Der Kronprinz saß noch immer in seinem roten
Stuhl, dessen angenehme Weitläufigkeit er nun
dazu benützte, um das eine seiner beiden mageren
Beinchen heraufzuziehen. Anton ordnete mit ein
paar Handgriffen die auf dem grünbehangenen
Tisrljchen des Präzeptors liegenden, in blaues
Glanzpapier gebundenen Hefte, deren rotgeränderte
Schildchen in tadellosen, von Herrn Bewetz stam-
menden Rundzügcn den Namen Seiner Hoheit
des Kronprinzen trugen. Dann verschwand der
Diener, man hörte ihn im Nebenzimmer mit dem
Teegeschirr hantieren, und während der Knabe
nachdenklich auch das zweite Bein, was durchaus
verboten war, auf den etwas abgeschofscnen, aber

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Register
Sigbjörn Obstfelder: Nocturno
Hermann Hesse: Ein Wandertag
Albert Schlopsnies: Osterlamm
Karl Marilaun: Der Kronprinz
 
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