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Der Mann im Schrank

Bon Beda Hafen

Gaston Silvain war Bolksschullehrer in War-
Iencourt, einem kleinen Dorfe am Anerebach in
der Pikardie und zu Beginn des Krieges un-
gefähr dreißig Jahre all. Preußische, wllrttem-
bergische und badische Divisionen halten im Sep-
tember 1914 an einem Tage den ganzen Raum
zwischen Cambrai und der Bahnlinie Arras-Albert
reingefegt, und nur einer geringen Anzahl Zivil-
einwohner glückte es, rechtzeitig nach Westen zu
entkommen. Gaston zitterte für feine Freiheit,
den» er war noch im heerespflichtigen Alter. So-
eben waren die letzten Engländer und Franzosen
abgerückt mit dem Versprechen, nach zwei Tagen
wieder zu kommen. Aber schon nach zwei Stunden
rückten die Deutsrl>en ein.

Seine kleine, kluge, blonde Frau hatte gerade
noch Zeit, beim Bürgermeister die falsche Erklä-
rung abzugeben, ihr Mann sei heute früh in der
Dunkelheit in der Richtung Amiens entflohen.
Sie kehrte ins Schulhaus zurück, führte ihren zu
Tode erschrockenen Mann in das im ersten Stock
gelegene gemeinschaftliche Schlafzimmer, sperrte den
großen alten Wandschrank urif, stellte einen Polster-
sessel hinein, zwang ihren Mann, darauf Platz zu
nehmen und sperrte den Schrank zu.

Reben dem Schlafzittimer befand sich eine Art
Rumpelkammer, die itiit allerhand Vorräten ge-
füllt war. Zu ebener Erde war das Wohnzimmer
und die Küche, und an das Wohnhaus war aus
massiven Ziegelsteinen das Schulzimmer angebaut.

In den unteren Räumen halte sich bereits ein
preußischer Verpflegungsoffizier mit feinem Küchen-
ftub breitgemacht.

Als die dettlfchen Truppen jenseits der Bahn
Albert-Arras auf hartnäckigen Widerstand stießen
und zum Stellungskrieg übergingen, richtete sich
der Leutnant bis ins kleinste hätislich ein, wählte
das bisherige Lehrerwohnzimiiter als Wohn-,
Schlaf- und Arbeitszimmer für sich und quar-
tierte die Küchengarde im Schulzimmer ein. Die
Küche wurde gemeinschaftlich von der jungen Leh-
rcrin und den eiuquartierlen Mannschaften benützt.

Gasloti saß unterdessen in feinem Schrank
und halte aus einem Brett eine Art Tischchen
darin angebracht, das er durch zwei Querleisten
befestigte. Beitn Kerzenlicl>t vervollkommnete er
nun in seinem Käsig seine Kenntnisse in der deut-
schen Spruche, deren Anfangsgründe er in Cam-
brai sich angeeignet halte. Er war lebhaften, sehr
beweglichen Geistes. So oft seine Gattin schlafen
ging und das elektrische Licht ausgelöscht hatte,
schlich er auf bloßen Strümpfen aus seinem Ver-
steck und tastete sich nach dem gemeinschaftlichen
Ehebett. Dort verblieb er die Nacht, aber nicht
ohne Bangen. Der Ortskommandant des Dorfes
kontrollierte die Einwohner wiederholt durci> nächt-
liche Razzien, um festzustellen, ob sich nicht etwa
ein Spion herumtreibe oder ob alle Einwohner
wirklich auch zu Hause seien. Aber immer glückte
es deiti schtiellfllßigen kleinen Gaston, rechtzeitig
seinen Unterstand zu erreichen, ehe die Si'ontrollc
ins Schlafzimmer trat. Uber Tag blieb Gusto»
in seinem Schrank und lernte deutsche Vokabeln.
Nur hin und wieder kroch er heraus und ging
im Zimmer hin und her.

Das Haus war schlecht gebaut, wie fast alle
pikardischen Dörfer. Wände und Böden waren
dürftig und dünn. Eines Abends trat die ver-
ängstigte 2)vonne, seine Frau, ins Schlafzimmer
mit den Worten: „Der Herr Leutnant hat dich
gehen gehört. Ich habe ihm erklärt, daß ich eine
Katze besitze. Nun will er die Katze unter allen
Umständen bei sich haben. Ich werde also sofort
beim Nachbar eine Katze borgen und sie dem Leut-
nant bringen. Bleib' im Schrank und rühr' dich
nid)tl" Und Gaston blieb in seinem Versteck,
ohne sich zu mucksen. Das war eine böse Qual
für das bewegliche Männchen. Im Wandschrank
konnte er wohl stehen und wenn er das Tisch-
brett wegnahm, zwei Schritte vor- und rückwärts
gehen. Aber es war doch sehr ungemütlich. Wenn

Pvonne oben im Schlafzimmer war, kam alle
Augenblicke eine Ordonnanz vom unteren Stock-
werk und wallte bald dieses, bald jenes haben.
Gaston fürchtete eine Entdeckung und riet daher
seiner Frau, sie möchte sich mehr in der Küche
aushalten. Tsvonne befolgte willig seinen Vor-
schlag. An einem Nachmittag hörte er vierhän-
diges Klavierspiel unter sich. Sofort kroch er aus
dem Kasten und legte sein Ohr an die Diele:
„Das ist meine Frau mit dem Leutnant!" Ob-
wohl er die guten Eigenschaften seiner lieben
Yvonne kannte, war ihm doch ihr nahes Zu-
sammensein mit dem Leutnant peinlich.

In feinem lebhaften Temperament überschüttete
er in der folgenden Nacht seine arme Gattin mit
bitteren Vorwürfen. Pvonne blieb geduldig, ließ
alles über sich ergehen und tröstete den Gatten
mit leidenschaftlichen Küssen. Am folgenden Tage
wiederholte sich das vierhändige Spiel. Gaston
biß auf die Lippen und zitterte leise. Als das
Spiel beendigt war, beruhigte er sich und machte
ihr ani Abend keinerlei Vorhalt. Dafür umschlang
sie ihn noch heißer und zärtlicher als zuvor.

Aber am andern Abend hörte er 2)vonne ganz
langsam die Treppe heraufsteigen. Ihr blondes
Köpfchen blieb gesenkt und ihr Gesicht sah traurig
aus. Der Gatte, der aus dem Schrank blickte,
erschrack heftig und fragte, was vorgekommen
wäre. Pvonne wurde rot und schwieg verlegen.
Da funkelten Gastons Augen zwischen Zorn und
Neugierde. Pvonne legte die flache Hand auf
ihre Brust, atmete auf und sagte leise: „Heute
früh fragte mich der Herr Leutnant, ob ich die
Nacht über Besuch gehabt hätte. Es wäre eine
zeitlang so unruhig über ihm gewesen und er
möclite fast schwören, daß ich in der vergangenen
Nacht nicht allein geschlafen hätte. — Ich hatte
einen schweren Stand, mich zu verteidigen, daß
ich eine anständige Ehefrau wäre und auf die
Rückkehr meines Gatten warte. Ich sei gegen
zehn Uhr etwas unwohl gewesen und hätte mich
öfter vom Lager erheben iitllssen. Dadurch sei
wohl das Geräusch entstanden, das er vernommen
hätte. Nun bitte ich dich um alles, lieber Gaston,
verlaß mir auch bei Nacht dein Versteck nicht
mehr! Ich will jeden Tug auskundschafteti, ob
utid wann der Herr Leutnant abends von Hause
fort ist. In solchem Falle magst du mich dann
besuchen!"

Eine ganze Woche lang zeigte nun Gaston die
Geduld und Standhaftigkeit eines Märtyrers und
„blieb auch bei Nacht in seinem Versteck. Allem
Anschein nach war der preußische Leutnant sehr
solid und dachte nicht an abendliches Ausgehen.
Als aber am Sonntag Abend Frau Yvonne sich
zu Bett begab, holte ihr Gatte zu einem tiefen
Seufzer aus. 'Jfoonnc war voll Mitleid. Sie
richtete sich in ihrem Bette auf, ließ sich sachte
auf die Füße gleiten, öffnete den Wandschrank,
nahm ihren Gatten, der sich um ihren Hals ge-
klammert hatte, auf den Rücken und trug ihn
zum gemeinscliaftlichen Bett. Da war natürlich
des langentbehrten Gekofes kein Ende und andern
Abends hatte Yvonne verweinte Augen, als ihr
Mann sie zu Gesicht bekam.

„Der Herr Leutnant bleibt dabei, daß ich einen
Liebhaber besitze! Du mußt in dement Käfig
bleiben, ohne den Versuch zu machen, nrich bei
Nacht zu sehen. Schwöre es mir!"

Gaston schwur und ermannte sich zu einer Tut.
Denn er hielt Wort. Gaston blieb stumm und
seufzte nicht mehr. Nur manchmal, wenn man
unten vierhändig spielte oder wenn 2)vonne sang,
während der Leutnant sie mit der Laute begleitete,

Plus und Minus Rud, Mülli

knurrte er unwillig und fluchte leise. Wochen um
Wochen, ja Monate vergingen so. Wohl sah er
seine liebe Pvonne, wenn sie ihnt unter Tag das
Essen in den Schrank stellte oder ihm einen Trunk
verabreichte, aber er wagte nicht mehr zu fpvcdjcn.

Als in dem vierhändigen Spiel und dem Ge-
sang zur Laute verdächtige Zwischenpausen ein-
traten, wurde Gaston merklich eifersüchtig und
drehte sich in seinem Kasten hin und her wie ein
frisch gefangener Vogel im Käfig. Und da sich
das Musizieren mit den verdächtigen Pausen täg-
lich wiederholte und die Pausen selbst immer
länger und immer verdächtiger wurden, beschloß
er, seine Frau zur Rede zu stellen. Auf ein Stück
Papier warf er zornige, anklagende Worte, faltete
das Schriftstück zusammen und übergab es abends
seiner Frau. Pvonne schluä>zte die halbe Nacht
leise und erwiderte seine Anklage ebenfalls brief-
lich mit sanften Protesten und heißen Liebes-
beteuerccngen.

Gasion wurde aber nicht recht gläubig und
frijricb allerhand Sprüche aus den Psalmen, deni
„Prediger", den Büchern Salomons upd dem
Buch Jesu Sirach nieder, in den von den Eigen-
schaften und den Pflichten einer guten Ehefrau
und den Strafen eines schlechten Eheweibes die.
Rede ist. Yvonne wurde traurig, schwieg und
antwortete nicht mehr. Gasion hörte künftighin
weder vierhändiges Spiel noch Gesang. Aber
dieses Stillsel>weigen machte ihn noch eifersüchtiger,
noch kopfscheuer. Wenn sie sang, so wußte er
wenigstens, daß der Leutnant sie im Augenblicke
nicht küsse, und wenn sie vierhändig spielten, so
war er sich klar, daß sie sich im gleichen Augen-
blick nicht umarmen konnten. Aber so wußte er
gar nichts. Ach, würden sie doch singen und
fpielen, dachte er Tag für Tag und wurde immer
finsterer und nachdenklicher.

Eines Nachmittags hörte er eine Männer-
stimme unten sehr laut sprechen. Das ist sicher
der Leutnant, der mit meiner Frau scherzt, dachte
er. Und zum erstenmal seit Monaten verließ er
seinen Käfig wieder, legte sich auf den Boden und
horchte gespannt. Was mußte er da hören!

„Süßes Frauchen! Herziges Frauchen, komm,
komm doch!"

Das war ganz deutlich! Gaston schlich in die
Rumpelkammer, holte ein kleines Brecheisen, brach
damit ein kurzes Breltslück aus der Diele, drehte
das Brecheisen gleich einem Bohrer durch das
Weidengeflecht unter dem aufgedeckten Brett, durch-
stieß den Mörtel- und Kalkbelag und stierte durch
die gewordene Öffnung in das Zimmer unter ihm.
Der Leutnant, einen großen Hühnerhund über sich,
auf der Chaifelongue liegend, versuchte eben auf-
zuspringen. Bon seiner Frau war nichts im
Zimmer zu bemerken. Gastoit warf das Brett
wieder in die Dielenlücke und verschwand im
Schranke, halb froh und halb erschreckt. Aber
fdjon stürmte es die Treppe herauf, schon pochte
es an das Schlafzimmer:

„Öffnen! Sofort öffnen, oder wir drücken die
Türe ein!"

Schlotternd vor Angst und des nahen Todes
gewärtig humpelte der arme Bolksschullehrer aus
feinem Schrank zur Türe, öffnete sie uttd war im
Begriff, umzufallen.

„Ein Spion! ein Spion!" schrien die Soldaten,
die das Opfer auf Befehl des Leutnants anfaßten
und vor das Haus führten.

„Ein Spion! Ein Spion!" tönte es laut
draußen über das kleine Dörfchen weg. Und von
allen Seiten liefen die Soldaten heran:

„Ein Spion! Ein Afrikaner! Ein Wilder!"

Aber auch die Zivilisten kamen und schauten
den Fremdling an. Er trl.g überlange, schwarze
Haare, einen wüsten, rötlich-struppigen Bollbart,
und sein Gesicht war braun und schmutzig. Der
Bürgermeister kam. Den A!ann, der der Sprache
nicht fähig schien, von allen ©eiten beschnuppernd,
brach er das Schweigen mit den Worten:

„Ah, c’est Gaston!“ *

Und die Nachbarn und Nachbarinnen stießen
sich gegenseitig in die Seiten:

„Ah, c’est monsieur le maitre I“

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Register
Beda Hafen: Der Mann im Schrank
Rudolf Mülli: Plus und Minus
 
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