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Karl Scliiedermair (München)

Ein Unentwegter

Beschauliches aus Bolschewikien

Es war Anfang Mai 18. Die Bolschewik,
waren bis an die Grenzen der Ukraine zurück-
getrieben. Unsere Truppen hielten Kiew schon
seit einem Monat besetzt. Ich saß in einem be-
suchten Lass an der Hauptstraße, dem breiten, ganz
europäisch eleganten Krcchtschatik und sah durch
die hohen Scheiben ins Treiben draußen. Däm-
chen in Lack- und Lederschuhen erster Güte, mit
schwungvollen Hüten. Offiziere und Beamte der
Zarenzeit, die Brüste links und rechts voller Orden
und Abzeichen wie österreichische Generalstäbler.
Militär des Hetmans in neuen Phantasieuni-
formen, mit Dolchen besteckt, in abenteuerlichen
Kapuzen mit langhinflatterndcn Zipfeln. Auf dem
Fahrdamm ein Gewimmel von Droschkenprole-
lariat. Benzinslolze Autos sausten, Traber jagten
durchs Gewühl mit federnden Gefährten hinter
sich. . . Plötzlich ertönte es über mir,

„Herr Leutnant! Adder Herr Leutnant!"

Ich wandte mich um. Bor mir stand in russi-
scher Dragoneruniform ein hochgewachsener junger
Mann, blond, mit weichem, weißem Schnurr-
bärtchen. Die hellblauen, verschmitzten Augen
lächelten liebreich-vorwurfsvoll.

„Herr Leutnant, Lew Iegortsch, haben Sie
mich schon vergessen?"

Ich sprang aus. Richtig, das war er ja, unser
alter Freund aus der Zeit der Waffenstillstands-
verhandlungen: Stabskapitän bei den Dragonern
und Roßhändler, der unsere Pferdereserven mit
billigen Gäulen aus dem russischen Armecbestand
auf eigene Rccl>nung ergänzt hatte und schließlich
in seinem Geschäftseifer bis zu den verwegensten
Angeboten von Maschinengewehren und Geschützen
schwersten Kalibers übergegangen war.

„Lew Iegortsch," rief er gerührt und breitete
die Arme aus: „Erlauben Sie?"

Was sollte ich machen, wenn ich nicht ganz
unhöflich sein wollte? Wir umarmten uns vor
allem Volke und küßten uns dreimal nach russi-
schem Brauch auf die Backe. . . .

„Jetzt erzählen Sie aber," rief ich, als wir
am kleinen Marmortischchen einander gegenüber
saßen und unseren heißen, duftenden Kaffee um-
rührten: „wie kommen denn Sie hierher? Ich
denke, Sie sind mit Ihrem Regiment nach Bol-
schewikicn abgednmpft damals."

„War ich, Lew Iegortsch, war ich. In Petro-
grad war ich."

„Ra, da wirds Ihnen wenig gefallen haben?"

„Wie soll ich sagen, Lew Iegortsch? Es war
nicht gutt für Leute mit Gepäck von Gedanken
— wissen Eie, Gedanken, wie es sein soll auf
der Welt und wie nicht. Aber für Leute ohne
schwere Koffer war es ganz gut. Mein Regi-
mentskommandeur, Fürst Kantakuzewitsch — wis-
sen Sie noch, der aus Kaukasier,! — jawohl, der
Oberst und ich, wir machten eine Zeitlang in
Petrograd nicht schlechte Geschäfte."

„Als was denn?"

„Als Gepäckträger, Lew Iegortsch."

„Sakrament noch einmall Gepäckträger —
Sie und der Fürst?"

„Warum ,Sakrament', Lew Iegortsch? das
ist nur, Sie sind cs noch nicht gewohnt. Es war
gar nicht Sakrament, sondern ein sehr gutes Ge-
schäft und sehr leichter Dienst. Sehen Sie, Lew
Iegortsch, wie uns das Geld ausging, das wir
mit den Armeepferdchen verdient Hutten, fingen
wir an nachzudenken, der Fürst und ich. So
viele dunime Leute auf der Welt, die allein gar
nichts anfangen können, die Hilfe brauchen, und
zwei Menschen wie wir, mit Spiritus hier im
Kopf, wir sollten nid)t finden, was zu verdienen!
Also schau ich mich um: wo sind die Leute am
dümmsten? Am dümmsten, Lew Iegortsch, waren
die Menschen ani Nikolaibahnhof. Viele, viele
Hamsterer kommen jeden Tag mit jedem Zuge,
alle schnaufen, alle mit Pack und mit Sack. Die
Rotgardisten stehen Bahnhofposten. .Halt, zeig
her, was hast du da drin?' Der Hamsterer kneift

Der Tipp-Topp-Mensch

.Ich wenn nach Neutrallen kam ~ « öle deutsche Valuta toürü' sicher
ln öle hohe schnellen/

mit den Augen und schiebt
einen Zwanzigrubelschein hin.

Der Rotgardist schielt und die
Finger zucken Aber. Lew
Iegortsch, Publikuni, Publi-
kum überall, alle schauen. Also
nichts zu machen: republika-
nische Ehrlichkeit siegt! .Hun-
desohn, glaubst du, hier gehts
zu wie unter altem verfluchtem
Regime!' Der Sack wird für
den Staat beschlagnahmt, und
keiner von beiden hat was
davon. Traurig zu sehen: so
viel ursprüngliche Begabung
in russischem Volk, aber kein
Sinn, etwas ordentlich ein-
zurichten, keine Organisation,
keine Kultur! Also, ich gehe
auf die Bahnhofswache. Sie
sitzen, rauchen Papyrossen und
spucken auf den Boden. .Ka-
meraden,'sag ich: ,Ihr habt
schweren Dienst I' — .Freilich,'
sagt der Kommandant, kratzt
sich am Buckel und gähnt:

.leicht ist er nicht!' — .Und
dabei rollt euch das Geld vor
der Rase herum!' —
rollt Geld?' Er hebt den Kopf,
und die ganze Wache steht
auf. .Brüder,' sag ich:,da steckt
das Geld, draußen in den
Hamsterersäcken! Für jeden
Sack, den ich hinaustrage,
zahl ich zehn Rubel an euch.'

Der Kommandant schüttelt
enttäuscht den Kopf. .Geht
nicht! als wenns wir niri)t
schon selber versucht hätten,

Schlaumeier! schau hin, wie
viele Augen.' — .Ja, wenn
man's so anfängl wie ihr: wie
auf der Paßpolizei, jeder für
sich und hinten herum mit der
Hand! Rein, Brüder, das
muß man großzügig machen, und daß alles seine
richtige Form hat, wie sichs gehört, versteht ihr?
Paß auf, Kommandant, eine Dienstniütze kauf
ich, rotes Tuch, zwei rote Kokarden und ein großes
Blechschild vorne hin auf die Brust, rot wie Blut:
lauter lebendige Revolution, verstehst du, Komman-
dant, in Amtstracht! Komm ich mit dem Sack, heb
ich die Hund auf ganz hoch. Der Posten aber
schaut: .Aha,' sagt der Posten und nickt, .Armeegut!
Jawohl,'sagt der Posten, .passiert! . . . Abgemacht,
Brüder?' — .Versuchen kann mans ja,' meinte
der Kommandant und schaute seine Wache an. Da
schlossen wir einen Vertrag."

„Und es ging?" fragte ich.

„Glänzend, Lew Iegortsch, glänzend! Dreißig
bis vierzig Säcke schleppte ein jeder von uns zweien
tagtäglich am Posten vorbei. Und für weniger
als vierzig Rubel nahmen der Fürst und ich keinen
größeren Sack an. .Ist dirs zu teuer, Bruder,
schlepp selber dein Säckchen! schau zu, ob du's
durchbringst.' Aber das gabs nicht. Zuverlässige
Leute, die Bahnhofswache l Keine Privatgeschäfte
im kleinen, hielten streng ihren Vertrag. Eine
Freude mit solchen Leuten zu arbeiten, ehrliche
Kerls!"

„Ja, warum sind Eie denn dann nicht dort
geblieben?"

Sein eben noch von Begeisterung leuchtendes
Gesicht verdüsterte sich, und er seufzte:

„Ach, Lew Iegortsch, wenn die Menschheit
nicht solch ein Pack wär! Konkurrenzneid: keiner
gönnt dem andern was Gutes. Lieber zerstört
ers, auch wenn er selber nichts davon hat. An-
zeigen, wissen Sie, bei ihrem Wohlfahrtskomitee:
Bestechung, Korruption! Dummes Zeug: müssen
denn die Komitees allein alles haben! Na, da
bin ich schnell hierher gereist mit meinem falschen
Passe."

„Und was wollen Sie hier?"

„Ja, hier Hab ich schon Aussichten. Nur muß
ichs mir noch überlegen. . . . Geben Sie mir
einen Rat, Lew Iegortsch! Sehen Sie, die Sache
ist die: id) bin Ukrainer von Geburt, Hab gute
Bekannte im Gefolge des Hetmans und könnte
ins Heer eintreten, wäre bald Oberstleutnant.
Aber ich weiß nicht recht, ich trau der Geschichte
nicht ganz. Wenn die Polen, wissen Sie. diese
Hundesöhne — ob die nicht am Ende die Trümpfe
erwischen und die Ukraina klein Kriegen samt ihrem
Hetman? Nun aber war meine eine Großmama
Polin, und da könnt ichs ja auch bei den, pol-
nischen Freiwilligenkorps drüben versuchen. Oder,
wissen Sie was?" er rückte mit dem Gesichte
näher heran: „braucht ihr Deutschen nicht einen
Agenten? Bei meinen Beziehungen zu Bolsche-
wikien, der Ukraina und den Polen!" . . .

Als wir uns auf der Straße vor dem Cnfö
getrennt hatten, schaute ich ihm nach, wie er mit
federnden Schritten durch die Menge schob.

„Na," dachte ich mir: „si fractus illabatur
orbis — der kriecht aucl> noch aus den Trümmern
des Weltalls heil hervor, und mit einem tüch-
tigen Hamsterersack auf dem Buckel dazu!"

L. Weber

*

Liebe Jugend

Wir waren Stammgäste in einem Kaffeehause,
in das täglich auch eine Dame, nahe dem gefähr-
lichen Alter, mit einem blutjungen Leutnant kam.
Eines Tages kam die Dame allein: sie wartete,
eine halbe Stunde, eine Stunde und noch länger
— vergeblich! Am nächsten Tage dasselbe. Am
dritten Tage erschien die Dame mit einem —
Schoßhund.

„Ei, sieh mal," sagte mein Freund, „welch
niedlicher Ofsizierstellverlreter l"

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[nicht signierter Beitrag]: Liebe Jugend!
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Leopold Weber: Ein Unentwegter
 
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