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Scherenschnitt von Paul Neu

DAS ERDBEBEN

V O BI PAUL K KUMT

In einer südlichen Stadt, welche einen lebhaften Fremdenverkehr hat
durch die Schönheit ihrer Lage und die Altertümer ihrer Umgebung, hielten
Uh zu einer Zeit in einem großen Gasthaus zwei junge Leute auf, ein junger
^urnn von etwa fünfundzwanzig Jahren und ein Mädchen vvu etwa acht-
zehn, welche näher miteinander bekannt geworden waren. Das Mädchen
war i„ Begleitung der Mutter, der junge Mann reifte allein. Sie hießen
Hans und Gertrud.

Die Beiden hatten einander kennen lernen, wie man sich auf Reifen kennen
lei'iif, wo Menschen, die einander bis dahin freuid waren, rasch zu Ver-
traulichkeiten gelangen; solche Bekanntjchafk bei jungen Leuten wird aber
"itnier irgendwie zu einer Liebesbeziehung.

Wir haben nur das eine Wort „Liebe" für eine unendliche Verschiede,i-
heit von Gefühlen und Empfindungen; wir müssen uns ja mit den Worte»
der Sprache ausdrücken, aber jedesmal, wenn wir etwas sagen wollen, das
Junz lebendig nud wiiklich vor unferm Geist steht, dann fühlen lvir unsere
Ohnmacht. Wag war das, was Hans fühlte? Er hatte seine Prüfungen
bestanden und stand vor dem Eintritt in das Berufsleben; zum letzte» Mal
war er ein freier Mann. Er war in der Fremde, wo ihn niemand kannte,
wo keinerlei Fäden in seine Heimat führten. So stand er dem Mädchen
gonz unbürgerlich gegenüber; er dachte nicht an Ehe, an Zukunft, an HanS-
Mi und Stellung, er dachte nur an ein Drücken der Hände, an Küssen, an
cas Überstießen der Seele in den andern, an die letzten Heimlichkeiten glück-
licher Liebe. Wir wollen doch unsere Verhältnisse klar sehen: nur selten wird
6111 l^wger Mann aus den gebildeten Ständen heute derartige Gefühle haben;
61 ^icbesbeziehungeu zu Mädchen unter feinem Stande, in welche von
ornherein durch feine gesellschaftliche Überlegenheit etwas Unreines kommt,
^ Ie ^eichlferti'gkeit, die ganz verschieden ist von der seligen Gedankenlosigkeit
wahik,,, natürlichen Liebe; und er hat die bürgerliche Liebesbeziehung zu
l 'wr künftige,, Gattin, in welcher das Gefühl bedrückt wird durch Vernunft
^ Herkommen und jeder holde Wahnsinn und liebliche Torheit vcrfchivin-
kDl l>en Einrichtungen, Verhältnissen und Zuständen. Hang liebte, wie
,, Kühling ein Fi,,k dag Weibchen umflattern und mit feinem Schlag an-
wie wag, der ivohl auch nicht an Nest denkt und an künftiges Brüten

häusliche Star oder die vortreffliche Schwalbe.

Wenn

) ie

e'n Mädchen natürlich fühlt, dann wird solches Liebeswerben auf

stärkeren Eindruck machen, wie die regelmäßige und ordentliche Liebe

der angemessenen Bewerber in der Heimat, denn sie enipsindet ja, daß das
Gefühl des Liebhabers auf das Wesentliche geht: nicht auf Vermögen und
Stand, nicht auf Bildung und gesellschaftliche Form, vielleicht noch nicht
einmal auf Geist und Gewandtheit, sondern auf das letzte Weibliche in ihr,
auf das selige Sichschenken, dag entzückte Sichvergessen, das mütterliche Be-
ruhigen erregter und überschäüinender Männlichkeit. Aber gerade dann wird
auch das letzte Weibliche in ihr Ivach, das sich gegen die Zudringlichkeit des
Mannes zornig und stolz sträubt, das still abgeschlossen bleiben will in seinen,
zierlichen Garten reinlicher Mädchenträume, das sich ängstigt und fürchtet
vor dem höchsten Glück, welches doch mit allen Fiebern ersehnt wird.

Die beiden saßen zusammen im Garten des Gasthauses, der über der
Stadt lag und weithin über das Meer blickte. Es war schon später Abend;
die großen Kugeln des elektrischen Lichts hingen von hohen Masten und er-
leuchteten rings, wohin ihre Strahlen trafen, aber die Schatten unter den
Büschen und in den Lauben, Ivo durch dichte Blätter die Helligkeit von oben
abgesperrt wurde, schienen nur um so dunkler zu sein. Die Beiden saßen in
einer heimlichen Laube und blickten verborgen auf den lichtbeschienenen KieS-
weg und die scharf ansgedrückten Blätter und Zweige, welche im vollen
Licht standen. Sie schwiegen sehr lange; ihre Hand lag neben ihr auf der
Bank; zuerst hatte seine Hand die ihre leise berührt, sie war zufammenge-
zuckt, aber sie hatte die Hand liegen lassen; dann hatte er die Hand erfaßt
und leicht gedrückt, sie hatte sie ihm gelassen; dann hatte er seine Hand über
die ihrige gelegt; und so hatten sie nun schon lange schweigend gesessen. Da
umarmte er sie plötzlich und küßte sie bärtig ins Gesicht: er traf nicht ihren
Mund; seine Nase bohrte sich gegen ihre Nase, seine Hände, welche sie
hielten, zitterten; und sie erhob sich mit einem lauten Schrei, stieß ihn von
sich und eilte fort in das Gasthaus.

Er stand in der Laube, und feine Glieder bebten vor Erregung. Er konnte
nicht zwischen Menschen und in geschlossenem Raume sein. So ging er aus
dem Garten, trat auf die Landstraße, und schritt stürmisch weiter, ohne Ziel,
ins Land hinein; er schritt stundenlang in der Nacht, in deren Stille dag
Zirpen der Grille tönte und selten irgend ein Laut eines Tieres aus einem
Gehöst, an dem er vorüberschritt.

In dieser Nacht aber, während im Gasthaus alle Leute zu Bett ge-
gangen waren und schliefen, die Gäste, die Kellner, die Leute in der Küche
und alle anderen Angestellten, kam ein heftiges Erdbeben über die Gegend.
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Paul Neu: Scherenschnitt "Dompteuse"
Carl Friedrich Paul Ernst: Das Erdbeben
 
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