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Das Leben eines Stillen von Werner Hendlson

Als Herr Augustin Lärchen siebenundvierzig Jahre und einige Monate zählte,
gebar ihm seine Frau Mathilde einen Sohn. Als die Hebamme an ihn herantrat,
um ihm Glück zu wünschen, stand Herr Lörchen, das kleine Tabakspfeifchen aus-
gebrannt in der Hand haltend, an dem Fenster, das auf den Garten hinausging.

Herr Lörchen sagte leise, und ohne die Frau anzusehcn: das ist er-das

bin ich —Darauf schüttelte die Hebamme den Kopf und entfernte sich. — —
Herr Lörchen war mit den Jahren immer eigentümlicher geworden, sprach selten,
und wenn er es tat, waren es Worte, über welche die Hebamme vorhin den Kopf
schütteln mußte.-Herr Lörchen setzte sich auf den Lehnstuhl mit dem groß-

blumigen Überzug, der am Fenster stand und sah über den Garten und die Felder,
die sich hinter ihm dehnten, hinweg in den grauen Nachmittagshimmel. Sollte
nach siebenundvierzig Jahren, so sann er, meine Jugend, sollte ich nach siebenund-
vierzig Jahren geboren werden-Und Herrn Augustin Lörchen überkam eine

tiefe Rührung. Nach einiger Zeit stand er auf und ging in das Zimmer seiner
Frau. Mathilde Lörchen lächelte und zeigte auf das kleine, weiße Bündel, das
neben ihr auf dem Bett lag. „Wie soll er heißen - ich dachte, weißt du, wir
nennen ihn Kurt - nach meinem Vater?" Aber Augustin Lörchen schüttelte den
Kopf. „Nein, Mathilde, so wie die da unten" - er wies auf die Straße - „ihre
Kinder nennen, so heißt mein Sohn nicht. Mein Sohn bekommt einen längenden
und schäumenden und großen und anderen Namen. Das Kind, das da neben dir
auf dem Äett liegt, wird Methusalem getauft werden." - tlnd nach einer und
einer halbe» Woche wurde das kleine, weiße Bündel in einen Spitzenüberzug mit
blauseidenen Bändern gesteckt und auf den Namen Methusalem Lörchen getauft.
Aber Mathilde Lörchen nannte ihr Kind: Methie. - Als Methusalem ungefähr
ein Jahr alt war, nahm ihn sein Vater auf den Arm und trug ihn ans of-
fene Fenster. Dust von Lindenblüten strömte ins Zimmer und Augustin
Lörchen machte eine weite Handbewegung über den Garten und die
Felder und sagte.- „Das, mein Sohn Methusalem, das ist die
Welt!" Aber Methusalem Lörchen mochte wohl zu viel Milch
mit Zwieback bekommen haben, denn er begann sich zum
Fenster hinaus zu erbrechen. Frau Mathilde Lörchen
trat ins Zimmer, stürzte auf ihren Mann zu, nahm
ihm den kleinen Methie vom Arm und rief: „Was
machst du denn mit dem Jungen?!" Aber Augustin
Lörchen lachte: „Hahaha, er bespeit sie - sie werden
ihn kennen lernen, meinen Sohn, er bespeit die da
unten, mein Sohn Methusalem, mein Sohn —

Methusaleni Lörchen war, fünf Jahre alt, als sich
sein Vater auf das grüne Plüschsofa im Eßzimmer
legte und sich mit der buntseidenen Decke zudeckte.

Gr sprach fast gar nicht mehr. Wenn sein Sohn ins
Zimmer trat, rief er ihn zu sich heran und lüßte ihn
überaus zart und schüchtern auf sein braunes Haar. An

einem Wintertage sagte Augustin Lörchen leise und langsam zu seiner Frau: „Ich
habe die letzten Tage darüber nachgedacht, ob es für den Menschen überhaupt ganz
reine Freude geben kann. Ich habe gefunden, daß er dies Gefühl nur an einem Ort
empfinden kann. An jenem bewußten, stillen Ort. Verstehst du das ?" Frau Mathilde
nickte. „Nein, das kannst du nicht verstehen. Man sollte nicht lügen. Nicht weil es
sozusagen auf höhere Anordnung untersagt ist. Aber es hat sowieso keinen Zweck -."
Frau Mathilde ging aus dem Zimmer. - Als sie wieder hereintrat, kam der kleine
Methie mit. Sie trat an das Sofa. Aber Augustin Lörchen war entschlafen.
Mit feierlicher und trauriger Stimme sagte Mathilde Lörchen: „Nun ist er tot."

Wenn auch Methusalem nicht der beste Schüler war, gehörte er doch immer zu
den guten. Alle Klassen hindurch saß rechts neben ihm der blondlockige Anton Glor-
gow, vor ihm der lange Alfons Jauermann. Anton Glorgow und Methusalem
Lörchen besuchten sich oft. Wenn Anton Glorgow bei Methusalem war, saßen sie
im Garten, vor den beiden kleinen Rosenbüschen, zwischen denen im Sommer bunte
Stiefmütterchen wuchsen. Wenn aber Methusalem in Anton Glorgows Zimmer
saß, nahm dieser die Geige, die er gut spielte. - Manchmal machte Methusalem
seine mathematischen Zeichnungen mit Alfons Jauermann zusammen. Dann gingen
sie nachher durch die Dörfer, die nicht weit von der Stadt entfernt lagen. - -
Als Methusalem Lörchen fast sechzehn Jahre alt war, ging er des Abends ost über
die Felder hinter dem Garten, bis an den kleinen, vielbuchtigen Teich und setzte
sich unter die größte der drei Pappeln, die nahe am See auf einer Anhöhe standen.
Matt spiegelten sich Sterne im Wasser. Und er sann: - ,Blauer Himmel - sie
bilden Spalier - Triumphgeschrei - weiße Tücher flattern mir entgegen - sie
bilden Spalier - auf dem Felsen die blaue Fahne - ich küsse die blaue Fahne -

es ist keine blaue Fahne - es ist der blaue Himmel,-Methusalem Lörchen

sprang auf, streckte die Arme gegen die Sterne - ,ich küsse den Himmel-'

Anton Glorgow und Methusalem Lörchen standen am Fenster. Anton
Glorgow sagte: „Weißt du, Methie (er sagte „Methie" gleich
Methusalems Mutter), wenn du die Seele dieses Menschen, der
da unten vorbeigeht, zerschneiden könntest, würde sie aussehen
wie ein Stück Baumkuchen. Go viele kleine Abschnitte.
Dieser Mensch ist ein anderer, wenn er in der Nacht bei
seiner Frau ist, und ein anderer, wenn du ihn in einer
großen Gesellschaft sehen könntest, und ein anderer,
wenn er allein auf einer großen Wiese steht - ein
leiser Wind geht, weißt du, - und rote Sonnenwolken
ziehen über tiefblauen Abendhimmel." Dann nahm
Anton Glorgow seine Geige. — Als Methusalem
Lörchen auf die Straße heraustrat, klangen ihm Gei-
gentöne nach. ,Habe ich Freunde — Glorgow — Jauer-

mann-dürste ich es fragen, wenn sie es wären

— allein — ein leiser Wind geht - rote Sonnen-
wolken ziehen über tiefblauen Abendhimmel.-'

Edda M « t t h Li
Index
Edda Matthäi: Zierleiste und Vignette: Fuchsien
Werner Hendlson: Methusalem Lörchen
 
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