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Lachen gellte aus seinem Mund: „Hoiho, ihr Totenmänner, laßt eure
Pferdegerippe laufen! vorwärts mit den Rappen! Sonst bringen wir bald
Berge und Täler zwischen eure Räder und die unfern!" — „Hetzt gilt's,
Alter," schrie er dann Hendrikson an, „wir fahren mit den andern um die
Wette!" Und wieder rückwärts, ln die Nacht hinaus: „Auf — holt uns
doch ein! Drei Rronen jedem von euch beiden, wenn ihr's mit den Nähren
fertig bringt!"

Lachen und unverständliche Rufe tönten als Antwort zu dem Landauer
herüber; dann lautes peitschengeknall und eilender Hufschlag. In allem
Lärm der Wagen und Pferde wandte sich Gärrensen zu Sundmann: „So
lob ich mir das Fahren, Per! — Lin Wagenrennen auf offener Straße!
Rannst du dir's vorstellen, hier draußen, daß in der Stadt unten die Frauen
jetzt mit der Räucherpfanne hantieren? — Haha, ich lüfte mich hier in der

Bergluft aus — ohne Rauch und Gestank!-Die peitsche, Hendrikson!

Gib's ihnen gehörig! Laß sie jagen, so schnell's ihre Leine können! Das
Trauergerüst rückt uns auf den Leib?" Sundmann sah sich um: die Laternen
des Leichenwagens hatten sich genähert, und über ihnen begann — plötzlich
aus dem Dunkel hervortretend — das filberneRreuz zu schimmern. Da sprang
Görrenfen auf, wie von unsichtbarer Gewalt ln die Höhe getrieben. „Sie

kommen näher! Laß laufender!, laß laufen! - Schneller

— schneller!" Lr hatte dem Alten die peitsche entrissen,
beugte sich neben ihm über den Bock und brüllte wie
ein sinnlos Betrunkener in die Nacht hinaus, „vorwärts,
Hunker und Isabel, Teufelsbrut, laßt euch von dem
schwarzen Gelichter nicht klein kriegen!" Die Peitschen-
schnur sauste aus die Pferderücken nieder. „Laust, ver-
dammte Faulenzer, sie rücken uns auf! — Habt doch
nur drei Leute zu ziehen — wie die Rappen vom Meister
Totengräber —; drei Lebendige bei uns, zwei Leichen-
peter und eine Tote bei denen dort! Und schleppen
doch den schweren Sarg, die Rappen — — und

— — — und ihr als Zugabe nur

Hendriksons Bauch-!" Grausig schallte sein Lachen

in die Weite. —

„Helßah, die scharfeStraßenbiegung hätten wir hinter
uns!" Allen Tumult übertönte feine Stimme, „Hetzt die
Schwarzen! — Bravo, tadellos genommen! Lrversteht's,
der Leichenmann, hätte Trabrennfahrer werden können!

— — Verdammt, wir verlieren an Abstand! Gib die

Zügel frei, alter Halunke!" Mit der Faust stiest er Hen-
drikson in die Seite. — Linen Augenblick später flogen
die Wagen nebeneinander dahin. Zum Greifen nahe
sah Sundmann den erschütternden Sarg an seiner Seite,
sah ihn an den Fesselstricken zerren, sah die rings an
den Ranten befestigten Rränze hüpfen, härte die reiben-
den Holzflächen ächzen. Für einen Augenblick nur. Dann
wirbelte derpeltschenstiel wild an seinem Ropfvorbei, um
mit einem schweren Schlag auf die Pferderücken nieder-
zufallen. Und der Landauer schoß mit rasendem Schwünge
vorwärts. Noch spürte Sundmann, wie die Rücklehne
mit verdoppelter Gewalt unwiderstehlich gegen ihn an-
drängte, fühlte dann einen leichten Schmerz am Hinter-
kopf — — —-und Pferdegetrappel, Fluchen

und Schreien verhallten plötzlich wie in unendlicher
Ferne. * * *

Wie durch ein Neer von lichtem Grün fuhren sie dahin. In taufeuchter
Frische grüßte das breite Tal zur Sonne, zur jungen Himmelsbläue empor.
Ls war ein Prunken und Gleißen der Natur.

Nachdenklich und aus müden Augen schaute Sundmann in den Morgen
hinaus. Was war mit ihm vorgegangen? Lr hatte während der letzten
Stunden besinnungslos dagesessen, das war ihm klar: ein Schlag der
harten Seitenlehne gegen die Schläfe mußte ihn betäubt haben. Aber vor-
her? Was war das vorher gewesen? Langsam entrollte sich ihm das Bild
einer nächtlichen Wagenfahrt mit wild dahinstürmenden Gäulen, wüstem
Schreien und Fluchen. Wirklichkeit oder Traumbild? Lr vermochte es nicht
zu ergründen.

Neben ihm saß der Nann, der seinem toten Weibe durch die Nacht das
Geleit gegeben hatte. Ls zuckte über sein Gesicht, Tränen schimmerten ihm
auf Wange und Bart. — Der Starke weinte wie ein Rind.

Leise klang seine Mahnung an den alten Rnecht: „Langsamer fahren,
Hendrikson! Die Tote soll ruhig gebettet sein auf ihrer letzten Fahrt! Ihr
armer Leib hat im ganzen Leben genug gelitten." — Rein Muskel bewegte
sich in Hendriksons Gesicht. Starr blickten seine Augen geradeaus.-

Langsam führten sie durch den lachenden Norgen die Tote ihrer Heimat zu.

S e l m a

von Dskar Maria Graf

Laue Sommernacht, saftvoll und verheimlicht, wölbte sich. Der Mond — Wenn einer kommen würde. Uns mit sich reißend. Ls müßte der Be-
malte. Wolken wandelten wie Berge, die Föhn von der Lrde losriß. fehl eisig aus ihm kommen: „Romm!" Strass und entschlossen, mit Gewalt,

Zwei runde, sattbauschige Baumkronen woben winddurchquert Teppich ohne Widerrede sich Gehorsam erzwingend. Wenn einer kommen würde...!
tausendfarbigen Blattwerks — wurden Augen, die groß und immer größer Und uns mitten in der Stadt allein stehen ließe, enttäuscht, verführt...

werdend mit ihrem kindlichen Staunen über sie glitten und Rleid und Da könnte man plötzlich ansangen, da würde sich eine Straße vor uns

Gesicht, alles in Farbe auslösten. — Da stand sie, frauenhaft den Rörper ge- auftun mit Pual gepflastert und mlt Lust geziert... — Und die Lnttäu-

laßt und tastete mlt weichträumendem Blick hinaus ins Irre der Nacht, fchung würde Forderung. Auf einmal ginge dieses einfache, so vielsagende

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Oskar Maria Graf: Selma
Paul Neu: Scherenschnitt
 
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