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Viele Richter

Viele Richter, viele Rechte, —
Jeder will sein Sprüchlein sprechen.
Jeder will ein Unrecht rächen.

Viel Gerechte, viel Gerächte. —
Hans Kyser

Über Reden und Schweigen

„Können Sie schweigen?" fragen jene, die eg nicht können-

*

Mit einer Meute vvn hundert Worten

machst du vergeblich Jagd auf eines, das dir entschlüpfte.

*

Das Schweigen hat unzählige Tonarten.

Alfred Grünewald

Kleine Glocke

Kleine Glocke, kleiner Schlag,
Läute fleißig Tag um Tag,
Kleiner Tag wird großes Jahr,

Großes Werk wird offenbar.
Hans Kyser

Der Vorfall an der Eulenbachbrücke

Von A m b r o s e Bierre
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Tony Noah

. . . Die Kompanie stand — die Front nach der Brücke zu — mit ver-
steinertem, starrem Blick regungslos da. Die Posten an den Flußufern hätte
man für Bildsäulen zur Verschönerung der Brücke halten können. Der
Hauptmann hielt die Arme gekreuzt; schweigend beobachtete er die Tätig-
keit seiner Untergebenen, ohne ein Zeichen zu geben. Der Tod ist ein
Würdenträger, der, wenn er vorher seine Ankunft ankündigt, selbst von
denen, die auf vertrautestem Fuß mit ihm stehen, mit zeremoniellen Ehr-
furchtsbezeigungen empfangen werden muß. In dem Kodex der militärischen
Etikette gelten Schweigen und Starrheit für Zeichen der Ehrerbietung.

Der Mann, der aufgeknüpft werden sollte, war dem Anschein nach etwa
zä Jahre alt. Nach seiner Kleidung zu urteilen, war er nicht Berufssoldat,
sondern Pflanzer. Er hatte ein schön geschnittenes Gesicht mit gerader Nase,
energischem Mund und hoher Stirn, ans der das lange dunkle Haar zurück-
gekämmt war und hinter den Ohren auf den Kragen feines gutsitzenden
Uberrocks fiel. Er trug einen Schnurr- und Spitzbart, aber keinen Backen-
bart; die Augen waren groß und dunkelgrau — und tvaö man bei einem
Manne, deffen Hals in der Schlinge steckte, kaum erwartet hätte, — die
Augen waren gutmütig. Offenbar handelte es sieh hier um keinen gewöhn-
lichen Meuchelmörder. DaS freigebige Militärstrafgesetzbuch sorgt ja da-
für, daß die verschiedenartigsten Menschen aufgeknüpft werden — auch
Kavaliere sind nicht ausgeschlossen.

Nachdem die Vorbereitungen zu Ende geführt waren, traten die beiden
Soldaten bei Seite und zogen die Bretter, auf denen sie gestanden hatten,
fort. Der Sergeant wandte sich dem Hauptmann zu, grüßte und stellte
sich dicht hinter den Offizier, der seinerseits einen Schritt zur Seite trat.
Dadurch befanden sich der Verurteilte und der Sergeant auf den beiden
Enden derselben Bohle, die drei Brückenschwellen bedeckte. Das Ende, auf
dem der Zivilist stand, reichte fast bis zur vierten Schwelle. Das Brett
war vorher durch das Gewicht des Hauptmanns beschwert, an Ort und
Stelle gehalten worden, jetzt sorgte der Sergeant für das Gleichgewicht.
Der Verurteilte hielt das Verfahren für einfach und wirksam: auf einen
Wink des Hauptmanns würde der Sergeant zurücktreten, — die Bohle
mußte umkippen und er selbst zwischen zwei Schwellen hinunterstürzen.
Man hatte ihm das Gesicht nicht verhüllt, — und die Augen nicht zu-
gebunden.

So sah er sich einen Augenblick den „unsicheren Boden" an, auf
dem er stand, und dann schweifte sein Blick zu dem strudelnden Wasser
des Stromes, das wie toll unter seinen Füßen dahinjagte. Ein schaukeln-
des Treibholz fesselte seine Aufmerksamkeit, und seine Augen folgten ihrn
auf seinem Laufe stromabwärts. Wie langsam schien es vorwärts zu
kommen! Wie träge der Fluß!

Er schloß die Augen, uin mit den letzten Gedanken bei seinem Weibe,
bei seinen Kindern zu sein.

DaS Wasser, das in der Morgensonne goldig schimmerte, der Nebel,
der etwas weiter stromabwärts an den blfern lagerte, das Schanz-
werk, die Soldaten, das treibende Holzstückchen, — das alles hatte ihn
abgelenkt, bind nun empfand er eine neue Störung.

Die Gedanken an feine Lieben wurden durch einen Laut zerrissen, — durch
einen Ton, den er weder unbeachtet lassen, noch begreifen konnte, — ein
scharfer, deutlicher, metallischer Klang, der dieselbe tönende Kraft hatte,
wie der Schlag eines Schmiedehammers auf den Amboß. Er hätte gern

wissen mögen, was das war, ob es aus weiter Ferne oder aus der Nähe
zu ihm drang, denn das ließ sich nicht unterscheiden. Der Ton wiederholte
sich in regelmäßigen Abständen, aber zögernd wie das Geläut einer Toten-
glocke. Er wartete ungeduldig und — ohne sich des Grundes bewußt zu
sein, — voller Angst auf jeden Schlag. Die Ruhepausen wurden allmäh-
lich länger, und die Zwischenzeit wurde ihm zur Qual. Die Töne, die
weniger häusig erklangen, nahmen in demselben Maß an Stärke und
Schärfe zu. Sie verletzten sein Ohr, wie ein Messerstich, er fürchtete einen
Schrei nicht unterdrücken zu können. Und doch hörte er bei alledem nichts
anderes als — das Ticken seiner Taschenuhr! —

Als er von neuem die Augen öffnete, sah er wieder daS Wasser in
der Tiefe.

Wenn ich meine Hände losmachen könnte, — bad)te er, — so
würde ich die Schlinge abwerfen und in den Fluß springen. Wenn ich
dann untertauche, entgehe ich den Kugeln, und wenn ich nn't aller Kraft
schwimme, erreiche ich das Ufer. Dann schlage ich mich in die Wälder und
entwische nach Hause. Gott sei Dank liegt mein HauS bis jetzt noch nicht
im Bereich der feindlichen Linien, meine Frau und die Kleinen sind noch
in Sicherheit, die Eindringlinge sind auf ihrem Vormarsch noch nicht bis
zu ihnen gelangt.

Während diese Gedanken nicht eigentlich vom Hirn des Verurteilten
ausstrahlten, sondern plötzlich gleichsain hineinprojiziert wurden, gab
der Hauptmann dem Sergeanten ein Zeichen. Und der Sergeant trat
zur Seite.

° 000

Peyton Farguhar war ein wohlhabender Psianzer und stammte aus
einer alten, hochangesehenen Familie in Alabama. Da er Sklavenhalter
und, wie alle seine Kollegen, Politiker war, so war er auch selbstverständ-
lich von Hause aus Südsiaatler und gehörte mit Leib und Seele ihrer
Sache an. Zwingende Umstände, deren Mitteilung sich hier erübrigt, hatten
ihn daran verhindert, in dem tapferen Heer zu dienen, das in den unheil-
vollen Feldzügen, die mit dem Fall von Korinth abfchlofsen, gekämpft
hatte. Und er grollte, weil er sich so unrühmlich fernhalten mußte, denn
eS verlangte ihn danach, seinen Kräften freien Lauf zu lassen, er sehnte
sich nach dem ungebundeneren, großzügigeren Soldatenleben und der Ge-
legenheit, sich auszuzeichnen. Und er ahnte, daß sich diese Gelegenheit,
die sich jedeni in Kriegszeiten bietet, einstellen würde. Inzwischen tat
er sein Möglichstes. Kein Dienst war ihm zu gering, um ihn zum
Besten der Konföderierten zu leisten, kein Wagnis zu gefährlich, um es zu
unternehmen, wenn es sich nur damit vereinbaren ließ, daß er zwar
äußerlich Zivilist, aber innerlich Soldat war und auf Treu und Glauben,
wenn auch ohne allzuviel Berechtigung, wenigstens teilweise dem unver-
blümten Banditendogma zustimmte, daß in der Liebe und im Kriege
alles erlaubt ist. . . .

Als Farguhar eines Abends mit seiner Frau auf der schlichten Holzbauk
beim Eingang seines Besitztums saß, ritt ein grau gekleideter Soldat
auf das Tor zu und bat um etwas Trinkwässer. Frau Farguhar war
überglücklich, ihm mit ihrer zarten Hand selbst den Trunk kredenzen zu
können. Während sie das Wasser holte, trat ihr Gälte zu dem staub-
bedeckte!^ Reitersmann und erkundigte sich eingehend nach Neuigkeiten
von der Front.

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Register
Ambrose Bierce: Der Vorfall an der Eulenbachbrüke
Alfred Grünewald: Über Reden und Schweigen
Hans Kyser: Kleine Glocke
Hans Kyser: Viele Richter
 
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