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Oie kleine Stadt

In tiefer Nacht, wenn meine Träume
gleiten,

Treibt's oft mich, durch ein Städtlein still
zu schreiten.

Ich weiß nicht, wo es liegt, noch wer's
erbaut.

Doch ist es meiner Seele tief vertraut.

Lin steiler Turm und Säufer fonder Wahl
Lrklettern einen kleinen Berg im Tal;

Lin Mäuerlein zum Schuh sich um sie türmt,
Wie eine Mutter, die ihr Mägdlein schirmt.

Ich fchlendre lange straßenein und -aus
Und bleib' dann stehn vor einem alten Haus;

In leichten Schnecken zieht fein Dach hinan.
Aus klaren §enstern blickt es lieb mich an;

Das Glück de

Aufs Ruhebänklein neben seiner Tür

Setz' ich mich hin und sinne für und für.

Und fromme Menschen, fremd und doch
bekannt,

Geh'n still vorbei und reichen mir die Hand;

Sie reden nicht, doch fühl' ich's an dem
Blick,

Sie leben hier im Frieden und im Glück.

Und naht die Rächt mit ihrem leisen Schritt,

Bringt sie dem Städtlein tausend Lichter mit.

Der Wächter bläst. Lin Glöckchen läutet fein

Dom alten Turm und schläft dann wieder
ein. - -

(D, wüßt ich's doch — wo liegt die kleine
Stadt,

Die solches Glück und solchen Frieden hat?

Rur t Schede

s Matthias

Von Wilhelm Hegeler

Herbstmorgen auf den Bergen

Die Berge durchfurchen, langgestreckt
Wie riesige Wale, das Rebelmeer.

Die Stadt liegt in grauen Kluten versteckt.
Als ob sie von ihnen verschlungen wär'.

Ich hänge einer verschollenen Mär
Mit herbstwehmütigem Herzen nach,
vineta. - wie hallt so dumpf und schwer
vom Turme im Tal der Stundenschlag.

Bin ich der Schisser, der, heimgekehrt
Rach Stürmen und Rümpfen aus fremdem Land,
Die Stadt, die Liebste, den trauten Herd
Vergeblich suchte und nicht mehr fand?

Ich schaue hinunter, seltsam bewegt. -
Da rötet sich ostwärts der Simmelsraum,
Und eine Lanze der Sonne zerschlägt
Den Rebel im Tal und den wehen Traum.

Ulrich 8ust

Gundermann

Der Mensch braucht nicht nur Licht und Luft und die nötigen Ralorien,
sondern auch Glück zum Leben, sonst geht er bei kraftstrotzendem Leibe an
Lntkrästung der Seele zugrunde. Glück — ein so geräumiges Wort, das
alles umschließt, was cs auf dieser schähereichen Welt nur gibt, und auch
das, was lediglich als Chimäre, als blauer Dunst den Sinn eines närrischen
Träumers umgaukelt... etwas davon muß der Mensch sein eigen nennen,
sonst ade, liebe Seele, dein Lichtlein erlöscht, und es ergeht dir wie dem
Randidaten der Philologie, Matthias Gundermann, der sich seit einiger
Zeit schon immer fragte, warum er eigentlich noch lebe? Line närrische
8rage. die von hundert Menschen kaum einer \ux Zufriedenheit beantworten
kann, und eine gefährliche dazu. Dem Matthias wenigstens war darauf
aus den Untergründen seiner Seele bereits eine kategorische, aber wenig
erfreuliche Antwort zuteil geworden während sein verstand noch grübelte,
was er eigentlich mit dem Leben solle, murmelte es ihm heimlich schon zu,
er möge diesem glücklosen, nutzlosen und gänzlich überflüssigen Geschöpf
doch ein Lnde machen. So kam es, daß, wenn Matthias morgens auf-
wachte, er neben sich in seinem warmen Bett, das aber dann gar nicht mehr
warm war, einen zweiten Matthias sich vorstellte, einen eiskalten und stock-
steifen, der gestern Abend vier bis fünf veronal-Tabletten genommen hatte
und davon nicht wieder aufwachen wollte. Dder wenn er seinen Morgen-
spaziergang antrat, hieß ihn seine Seele auf der hohen Brücke stille stehn
und in den 8Iuß hinabblicken, der hier zur Zeit ganz flach war. Man konnte
auf dem Grunde moosige Steine und einen blauen Lmailletops gewahren,
und ein Sprung von hier oben hätte zweifellos Genickbruch zur golgc. Der
Matthias aber, der dort unten lag, hatte sich nicht nur das Genick, sondern
auch das Rückgrat gebrochen, und allerhand Leute waren damit beschäftigt,
die doppelbrüchige Leiche mit langen Stangen an's Ufer zu zerren. Seine
Lieblingsbeschäftigung jedoch, wenn er das Städtchen verlassen hatte, be-
stand darin, sich am Wegrain zu lagern und in Gedanken Vogelscheuche zu
spielen Grade als wenn der hochselige 8ürst vor hundert fahren die Straßen
seines Ländchens deshalb mit Ddstbäumen bepflanzt hätte, damit einer davon
dem Matthias als Galgen diente. Oie Vorstellung, die sür jeden andern
Menschen sehr peinlich gewesen wäre, wurde sür ihn von Tag zu Tag reizvoller:
an einem dieser Bäume leise im winde zu schaukeln und aller Welt, insonder-
heit aber seiner Mutter, seiner Braut und seinen Herren Brüdern, die Zunge
auszustrecken, eine Zunge von erschrecklicher Länge und schwarzwie ein Schuh.

Der Grund dieser entschieden nicht ganz normalen phan'asietätigkeit
bestand darin, daß Matthias zweimal durch das Lpamen gefallen war,
njcht weil er zu wewg, sondern weil er zu fleißig gearbeitet hatte. Lr hatte
in seinem Hirn den Inhalt so vieler Gramatiken, Lepika, römischer und

griechischer Autoren ausgetürmt, daß jedesmal einen Tag vor dem Lpamen
sein geistiger Bücherschrank, knap. entzwei gebrochen war, und er an dem
Schicksalsmorgen nur das Gefühl gehabt hatte, durch endlose Räume zu
sausen, in's Bodenlose zu fallen, was er denn auch richtig getan hatte.

Daß feine Braut ihm unter diesen Umständen einen Absagebrief schrieb,
den Rümmer glaubte er verschmerzen zu können. Ihre Rüsse hatten ohnehin
immer etwas Ablühlendes gehabt, wegen des Zwickers auf ihrer Rase, den
sie unter keinen Umständen ablegen wollte, „denn," sagte sie, „er gehört
nun mal zu mir." Härter nahm es ihn mit, daß seine Brüder ihm keinen
Platz in dem vom Vater ererbten Geschäft einräumen wollten Ursprünglich
war es eine Tischlerwerkstatt gewesen, hatte aber die Llektrizität zu Hilfe
genommen und sich in eine parkettfußbodensabrik verwandelt, wie oft
hatte er sich dorthin gewünscht und die Rreissäge beneidet, die Lichenstämme
wie Butter zerschnitt, wenn er sich an einem simplen Wortstamm die Zähne
schartig biß. Daß aber seine Mutter es sich in den Rops gesetzt hatte, einem
gelehrten Schulprosessor das Leben gegeben zu haben, und ihm ihre Liebe
entzog, als ein durchgefallener Randidat daraus wurde, griff das Mensch-
liche in ihm an und nahm ihm den Lebensgrund unter den 8üßen fort.

Aber man darf nicht glauben, daß man von seiten der 8amilie dem jungen
Menschen, der solche Schande über sie gebracht hatte, mit Vorwürfen zu-
geseht hätte. Im Gegenteil, man verzieh ihm stumm, man teilte seinen
Schmerz und ließ eine dumpf bek.ommene Trauerstimmung herrschen wie
nach einem Begräbnis. Das peinliche war nur, daß der wenig dekorative
Trauerfall noch mitten unter der schwarz umränderten 8estversammlung saß.

Diesem unnatürlichen Zustand machte der ältere Bruder ein Lnde, indem
er Matthias erklärte, daß man nach allgemeinem 8amilienbeschluß ihm in
dem Rachbarstädtchen ein kleines Anwesen gemietet hätte, das sich vorzüg-
lich zum Betrieb einer Gärtnerei eigne. Gärtnerei sei ein sehr gesunder
Beruf, und Gesundheit sei für ihn die Hauptsache.

Aber Matthias in seiner Dickköpfigkeit wählte sich den so viel weniger
gesunden Beruf einer Wasserleiche oder Vogelscheuche. So saß er denn
jeden Morgen am Wegrain, und während alle Rreaturen ihr Recht aus das
Leben und ihre 8reude daran hinausjauchzten, strahlten und dufteten, die
langlebige Sonne so gut wie die kurzlebigen glicgcn, der Buchfink mit rot-
geschwollener Brust, und die Lerche, die sich, ein trillernder 8ederball, vor
lauter Dasechswonne selbst in die Lust schnellte, ... währenddem wünschte
Matthias sein Lnde herbei, denn er hielt sich sür ein glückloses, nutzloses
und gänzlich überflüssiges Geschöpf.

Aber wie nun, Matthias, wenn du ein Glücklicher wärst? Rein hoffärtiger
Günstling 8^rtunas, sondern ein echtes Rind des Glücks, das dir seine

im
Register
Kurt Schede: Die kleine Stadt
Ulrich Fust: Herbstmorgen auf den Bergen
Wilhelm Hegeler: Das Glück des Mathias Gundermann
 
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