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drückte jenes dem Bettler in die Hand und
sah ihm dabei ins Gesicht und gewahrte
>m Zeitraum von einer Sekunde in dieser
menschlichen Auslage eine solche Häufung
traurigster Dinge: Hunger und zitternde
Nenschensurcht, Reue, vielleicht auch Ge-
sängn sstrafe, vor allem ober Lntkräftung
und Ausgelöschtsein jeglicher Lebenshoff-
nung, und dazu war die Haut des noch nicht
alten Gesichts von so zerfasertem, gebleichtem,
düsterm Grau, als hätte seit langem ein Sarg-
deckel darauf gelegen... ein solches Nah von
Llend gewahrte Matthias darin, daß ein
tiefster Schauder ihn belehrte, wie es in der
Finsternis des Unglücks wirklich beschaffen
war Aber beinah im selben Augenblick ge-
schah auf diesem Gesicht auch die unglaub-
lichste Veränderung, ganz ohne schauspiele-
rische Nunst, ohne Faltenverziehn, ohne Ge-
sten und Augenausschlag, sondern nur so, als
wennauseinemunhümlichernerfallenenGe- Eisberg bei Island
mäuer plötzlich diefüßesteMusikhervorklingt:
die Leichenblässe särbte sich von ein klein we-
nig Lebensröte, und aus den glanzlosen, vertrockneten, toten Augenbrunnen
blinkte ein verwundertes Schimmern, ein Nichtglauben-, Nichtbegreifenkön-
nen, brach dann aber auf einmal ein alles überleuchtender Strahlvon Freude,
glänzte, blitzte mit dem Gefunkel des Taus ein überwältigtes: Herr! Herr!
Ist das wirklich... ? Aber das ist ja... Aber das bedeutet ja neues Leben...
Da blüht mir verzweifeltem ja das ersehnte, nie geglaubte Glück ...

Dhne auch nur Danke zu sagen, stolperte der Bummler weiter, und
Natthias dachte: Na, der hat sich wenigstens mal gefreut... was sind wir
Nenschen doch für armselige Nreaturen! Aber dann verfolgte er in Gedanken
den Weg des Landstreichers weiter. Der würde sich gewiß nicht nur ein
Stück Brot, sondern ein solides warmes Frühstück kaufen. Wohl bekomm's!

Da dieser Gedanke ihm selbst einigen Appetit machte, trat er den Heim-
weg an, Nachmittags versank er wieder in seinen Trübsinn, Das Resultat
war, daß die Wäscheleine sicher morsch war, es mußte ein Nanilastrick ge-
kauft werden, wenn nicht die veronaltabletten vorher denselben Zweck er-
füllten. Doch legte er sich abends wie gewöhnlich schlafen, und kaum daß er
am andern Morgen die Augen ousmachte, stand darin schon die Gestalt des
Landstreichers, und er erlebte wieder dessen Auferweckung und Neugeburt
zu einem hoffnungsvolleren Leben und hatte dabei ein Gefühl, als wenn ein
schönes Mädchen ihren Arm um ihn schlänge, nicht ganz genau so, aber doch
ebenso brennend und süß... Und plötzlich schlug Natthias mit der Faust aus
die Bettdecke und dachte: verflucht noch mal, meine Herren Brüder, ihr
braucht von eurer Zweimeterhöhe gar nicht so stolz auf mich herunter zu sehn.
Wenn ihr mit eurerparkettfußbodenfabrik auch ein noch so großes vermögen
zusammenhobelt, habt ihr je ein leichenfarbenes Gesicht in ein rosenrotes
verwandelt' Habt ihr je einem Menschen das Leben gerettet? Habt ihr je
einen armen Teufel glücklich gemacht? Das habe ich getan! Und das habe
ich in aller Lwigkeit vor euch voraus, wenn ich auch sonst zu nichts tauge.

Und wie man einem lieben Freund nach dem Abschied in Gedanken noch
ein Stück weit verfolgt, so begleitete er seinen lieben Landstreicher beim
verlaus des gestrigen Tages, Der hatte zuerst also warm gegessen, er mochte
wohl eher gestopft, ja geradezu geschlungen haben, und war dann weiter
gewandert. Um aber seinem vollen Magen ein bißchen Bewegung zu machen,
hatte er draußen beim Lisenbahnbau um Arbeit gefragt, hatte gegraben,
geschippt, die Narren voll Lrde geladen, die Schollen flogen nur so,.,
Die Lebhaftigkeit, mit der Matthias sich das Vergnügen an dieser Arbeit
vorstellte, hieß ihn nach dem Frühstück selbst in den Garten hinausgehn
und die mit Unkraut bewucherten Beete umwerfen. Ls dauerte nicht lange,
da kam der Bürgerschullehrer, Herr Bürger, vorbei und fragte freundlich
über den Zaun,wie's dem Herrn Nachbar gehe. — „Danke. Und Ihnen?"
— „Wie's einem in bürgerlichen Verhältnissen gehn kann. Immer zu tun.
Sie wissen ja: Arbeit ist des Bürgers Zierde."

Der muntere Herr Bürger machte noch eine Anzahl ähnlicher Scherze,
denn fein Name war ihm eine (Quelle stetiger Seibsterheiterung, und sragte
schließlich, was der Herr Nachbar auf den Beeten pflanzen wolle, Matthias

hatte darüber noch nicht nachgedacht. Herr
Bürger riet zu Nohl und Salat, die auch bei
ihm eine Zierde des bürgerlichen Nittag-
tisches bildeten, und bot Matthias an, ihm
genügend Pflänzchen billig zu überlassen.
Vieser begleitete ihn kurz entschlossen, ließ
sich das Lmpflanzen zeigen und hockte den
ganzen Tag über seinen Beelen, trotz Sonnen-
glut und einem tüchtigen Platzregen, wenn
ihm dabei auch zu Mut war, als legte er
einen Ninderfriedhof an Lr hielt es für aus-
gemacht, daß diese schwindsüchtigen Blätt-
chen nicht die Nacht überleben würden. Als
gegen Abend Herr Bürger wieder vorüber-
kam, rief er Natthias zu: „Herr Nachbar,
Sie haben aber Glück!" — „Was?" fragte
Natthias erstaunt, „wieso?" — „Weil's
geregnet hat. Da wächst alles fein an."

Matthias grub weiter und lachte nur
manchmal still in sich hinein. Wenn der
witjch-hky Schulmeister wüßte, von welcher Art Glück
er noch am Morgen geträumt hatte. —
Aus den schwindsüchtigen Blättchen wurden
dicke grüne Rosetten und violette Nohlkäpfe, groß und schwer wie Negel-
kugel. Am Lnde des Sommers hatte Natthias einen solchen Segen, daß er
gar nicht wußte, was damit anfangen. Am liebsten hätte er alles verschenkt,
denn seine kleine Narrheit hatte inzwischen auch Wurzel gefaßt und blühte
fort als der Wunsch, daß ihm noch einmal ein solcher Glücks- und Genie-
streich gelingen möge, wie an dem Morgen, als er dem armen Landstreicher
das Goldstück geschenkt hatte.

Im Verfolg dieser Hoffnung ließ er keinen Bettler unbeschenkt vorüber-
gehn und zeigte sich überhaupt gegen jedermann freundlich und hilfreich.
Lr hatte mit diesem Tun abwechselnd Glück und Pech.

Daß er damit aber nicht selbst auf die Landstraße und unter die Bettler
geriet, dafür sorgte sein Freund, der Landstreicher. Gott mochte wissen,
was in Wahrheit aus dem geworden war, Matthias aber hatte ihn die selt-
samsten Schicksale erleben lassen, hatte aus dem fleißigen Arbeiter einen
Rottenführer und Großunternehmer werden, hatte ihn nach Amerika aus-
wandern lassen und ihn schließlich sogar als großmächtigen Selfmademan
in einer illustrierten Zeitschrift entdeckt.

Seitdem hing er über des Natthias Bett als sein Berater und guter Haus-
geist. Wenn jener sich verträumte, mahnte er: Nicht schlafen, Natthias!
Was hat uns beide denn in die Höhe gebracht? Wenn jener verzagte, tröstete
er: Man kann doch nicht bei jeder Ziehung das große Loos gewinnen. Ls
muß auch Nieten geben. Wenn jener aus seiner kleinen Narrheit eine große
Torheit machen wollte, bremste er: Wie willst du andern helfen, wenn du
dich selbst entblößest?... Lr riet dem Natthias, einen Nramladen zu er-
öffnen, da die Gärtnerei zu wenig abwarf. Auch hatte er die Hand im Spiel,
als Natthias sich eine Frau nahm, indem er dafür sorgte, daß bei der neuen
Liebsten nichts Zwickerhaftes und Abkühlendes war.

So bekam Natthias allmählich immer mehr festen Boden unter den
Füßen und träumte nicht mehr davon, als Vogelscheuche ein entwurzeltes
Dasein zu führen.

Im Städtchen war er ganz wohl gelitten, bei den einen, weil er ihnen
mit Rat und Hilfe beistand, bei den andern, weil er ihnen Stoff zu aller-
hand lustigen Geschichten bot. Matthias kümmerte sich um dieses Gerede
nicht. Wenn er früher nicht gewußt hatte, was er mit dem Leben anfangen
sollte, so hatte jetzt der Tag zu wenig Stunden.

An's Sterben dachte er nur noch selten, und eswar ihm mehr ein Feiertags-
vergnügen. Sein Leichenbegängnis stellte er sich so vor: er selbst im dunklen
Hobelspanbett und hinter ihm als Repräsentanten der Familientrauer
seine Brüder und deren gewichtige Frauen. Ihnen folgend aber die lächer-
lichste, lumpigste, buntscheckigste, speckigste und durchlöchertste Schaar, die
je einem Leichenwagen gefolgt ist: rachitische Rinder, hüftlahme Weiblein,
Handwerksburschen und Landstreicher in den erlesensten Lxemplaren, lauter
Durchgefallene im Lebensexamen, verstoßene aus der Werkstatt des Lr-
folges, von der Sippe verfehmte.. . Der tote Natthias aber blinzelte durch
ein Astloch seines Hobeljpanbettes und lächelte dazu.

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Fritz Witschetzky: Eisberg bei Island
 
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